Ursula Reinhold

Gemütlichkeit


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seine Papiere. Oder aber er beteiligte sich an einem Streik, bei dem es um mehr Lohn oder das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung ging. Dann ging er wieder auf den Nachweis, zur "Sonne", zweimal die Woche, um den Stempel für die Arbeitslosenunterstützung zu bekommen.

      Die Überzeugung meines Vaters, dass diese Verhältnisse nur vorübergehend waren, bewahrheitete sich. Allerdings wartete er damals auf einen gründlichen revolutionären Umsturz. Wie der aussehen und was dann kommen sollte, wusste er natürlich auch nicht. Auf jeden Fall sollte alles ganz anders werden. Bis es soweit war, verbrachte er seine Tage so, wie ich angedeutet habe, und weigerte sich gegenüber meiner Mutter strikt, die Sommerlaube auf den kommenden Winter vorzubereiten. Die Laube bestand zu dieser Zeit aus dünnen Kistenbrettern. Zimmer, Küche, Kammer und Veranda waren ohne Fundament. Die Tapete davor bildete Hohlräume, in denen Wanzen einen Unterschlupf fanden, die meinen Bruder piesackten. Meine Mutter kam ihnen erst langsam auf die Schliche und verfolgte sie nachdrücklich. Sie war entschlossen, den provisorischen Verhältnissen Dauerhaftigkeit zu verleihen. Sie hatte Vorschläge und Pläne, schaffte Baumaterialien heran und ging meinem Vater damit auf die Nerven. Denn der wollte seine Ruhe zum Lesen, Schachspielen, Schwimmen und Faustballspielen. In dieser Zeit hatte sie manchmal Arbeit, aushilfsweise in einer Batteriefabrik in Schöneweide. Hier musste sie im Akkord Säure in kleine Behälter gießen, die in jede Batterie hinein gehörten. Dafür bekam sie Pfennige. Die männlichen Kollegen dort stimmten mit der Fabrikleitung darin überein, dass der Lohn der Arbeiterinnen niedriger zu sein habe als der eigene. Das fand mein Vater empörend. Er unterstützte meine Mutter gegen diese Ungerechtigkeit. Weniger Beifall fand sie mit ihrer Idee die Laube zu tapezieren. Sie hatte Tapeten gekauft und mein Vater, der zu Hause war, sollte beginnen. Aber er begann nicht. Er fand es überflüssig, weil sowieso die Weltrevolution vor der Tür stand. Außerdem betreute er in dieser Zeit meinen Bruder, der ein ruhiges, in sich gekehrtes Kind war und den Vater wenig störte. Aber manchmal störte er doch. Eines Tages hat er die vor dem Ofen abgestellte Asche über sich und sein Bett verteilt. Da war mein Vater sehr böse über das ungezogene Kind.

      Meine Eltern mussten im Winter 1929/30 aus ihrer Sommerlaube flüchten. Denn der war sprichwörtlich kalt, er gehörte zu den kältesten Wintern des Jahrhunderts. Über Wochen bis 25 Grad minus. Das war schon ungewöhnlich für unsere Breiten. Sie hatten inzwischen Hühner und die wurden während dieser Zeit in der Küche untergebracht. Mein Vater hatte dem Federvieh eine Trinkanlage gebaut, mit einem ewigen Flämmchen, damit das Wasser nicht gefror. Er war als Handwerker nicht ungeschickt, bisweilen findig, wenn er wollte.

      Als meine Mutter im Frühjahr die Laube wieder betrat, erkannte sie ihre Küche nicht wieder. Mein Vater hatte alle Schranktüren geöffnet, um dem Federvieh Anflugplätze zu bieten. Sie Hühner hatten Spuren hinterlassen, auf die hinzuweisen meine Mutter auch in späteren Jahren nicht müde wurde. Mein Vater konnte das Erschrecken meiner Mutter nicht verstehen, weil er als regelmäßiger Fütterer der Hühner kontrolliert hatte, dass sie sich wohl befanden und den strengen Winter überstehen konnten. Diese innige Beziehung zu den Hühnern muss sich später bei ihm etwas verloren haben, als wir nach dem 2. Weltkrieg wieder Hühner hielten.

      So oder ähnlich lebten sie bis 1933. Dann bekam mein Vater Arbeit. Natürlich hat es für beide auch gute Stunden gegeben. Wenn sie mit Fichte wanderten oder, wenn sie zelteten, am Zeesener See oder in Neukamerun an der Tongrube in Körbiskrug Faustball spielten. Mein Onkel Otto spielte Gitarre, mein Vater Zither oder Mundharmonika, was er sich selber beigebracht hatte. Dazu wurde gesungen. Wanderlieder, Volkslieder, Kampflieder wohl weniger. Lustig muss es auch gewesen sein, als meine Mutter im Kanal schwimmen lernte. Mein Vater hatte zusammen mit seinem Freund Erwin Fröhnert einen Schwimmgürtel gebaut, den meine Mutter um den Leib bekam. Sie befestigten daran ein langes Seil und stellten sich auf die Brücke, die über die Britzer Allee führte. Sie hielten meine Mutter so hoch, dass sie kaum das Wasser berühren konnte. Ihre Rufe interpretierten sie falsch und zogen sie höher. Das Experiment wurde ergebnislos abgebrochen, weil meine Mutter nicht mehr wollte. Sie lernte dann in aller Stille das Schwimmen ohne meinen Vater. So gingen die pädagogischen Bemühungen meines Vaters meistens aus. Darüber konnte er lachen oder auch wütend werden. Je nachdem. So vergingen die Jahre. Der zusammenfassende Kommentar meiner Mutter über diese Zeit ging dahin, dass sie die mühseligen Bemühungen um die elementare Existenzsicherung erinnerte. Sie berichtete, wie sie mit vierzehn Mark über die Wochen gekommen sind. Aus Rinderknochen und Bruchreis Mittagessen gekocht hat, welche Aushilfsarbeiten sie machte. Währenddessen besuchte mein Vater im Winter das Schwimmbad in der Ganghofer-Straße und bereitete dort mit seinen Freunden, unter der warmen Dusche stehend, die Weltrevolution vor. Man stellte sich vor, dass sie unmittelbar bevorstand.

      So ging das bis 1933. Dann kam Hitler. Mein Vater und seine Freunde hatten ihn kommen sehen. Ich habe nur noch wenige von den Freunden kennengelernt. Sie waren dann schon im fortgeschrittenen Alter, und ich konnte ihre Erzählungen über Jugenderlebnisse mit meinen eigenen Eindrücken nicht in Zusammenhang bringen. Dennoch will ich über sie mitteilen, was mir berichtet wurde oder was ich gehört habe aus Gesprächen meiner Eltern, die über die Jahre wieder und wieder stattfanden. Eine Frau Tieke beispielsweise tauchte 1955 bei uns auf, da war ich schon fast erwachsen. Sie war aus der Sowjetunion zurückgekehrt, dem Vaterland aller Proletarier, wohin sie um 1930 mit ihrer Familie gegangen war. Damals wollten meine Eltern auch dorthin. Erwin Fröhnert und noch einige andere waren schon vorausgefahren. Sie gründeten in Georgien eine Kommune. Davon berichteten die Briefe, die sie meinen Eltern schrieben. Sie teilten mit, was sie erlebten. Den Verlautbarungen der „Roten Fahne“ hatten sie offensichtlich schon misstraut, als sie Kisten mit Handwerkszeug, lebendige Kaninchen und Hausrat auf die Bahn gegeben hatten. Aber es überstieg ihre Erwartungen, als sie auf dem Bahnhof dazu kamen, wie die Bahnbeamten dabei waren, die Kaninchen zu schlachten. Bis dahin hatten sie es offensichtlich geschafft, die armen Tiere. Auch der Aufbau einer Kommune im südlichen Georgien war schwieriger als angenommen. Obwohl sie von den günstigen klimatischen Bedingungen dort sehr angetan waren. Ein Georgier, der mittun wollte in der Kommune, hatte dreizehn Kinder und beanspruchte entsprechenden Anteil an der Ernte. Er wollte nicht akzeptieren, dass sein eigener Anteil nur nach der eigenen Leistung ausfallen sollte. Weil es sehr warm war, arbeitete er nur morgens und abends zwei Stunden. Das konnten nun die Deutschen wieder nicht verstehen, weil sie es anders hielten. Nach Aussprachen stellte er die Arbeit überhaupt ein. Es kamen sicherlich noch andere Misslichkeiten hinzu, sodass die Kommunarden aufgaben. Erwin Fröhnert schrieb den Eltern, die sich mit Ausreiseplänen trugen: „Bleibt, wo ihr seid, mit dem kleinen Kind!“ Er selbst kam 1931 zurück. Von anderen Familien, die ich nie sah, weiß meine Mutter Ähnliches zu berichten. Darunter waren Techniker und Ingenieure, die der Sowjetunion halfen, wie die Tiekes. Sie kamen ernüchtert zurück oder blieben lange bzw. für immer. Meinen Vater habe ich leider nach diesen Geschichten zu fragen versäumt. Er starb zu schnell. Anders meine Mutter. Sie kam wieder und wieder darauf zurück. Weil sie lange alt sein konnte. Der abschließende Kommentar, den sie nach solchen Geschichten wiederholte, ging dahin, dass sie immer eine tiefe Skepsis gegenüber politischen Systemen hatte, die den Menschen zurückstoßen. Das hat sie sich nicht erst später erfunden, sondern solch Zweifel war ihr eingeboren. Mein Vater hatte mit ihr deshalb viele Diskussionen nach dem Krieg. Er fand sie politisch zu indifferent. Erwartete auch von ihr Entschiedenheit, die sich bei ihm in den Jahren zwischen 1933 und 1945 und vielleicht auch danach gebildet haben musste. Später wurde er gelassener, auch sarkastisch, wenn er kommentierte, was ihm nicht behagte.

      Frühe Eindrücke

      Nun kann ich wohl endlich mit mir selbst beginnen. Meine Geburt, die Kleinkinderzeit waren in keiner Weise irgendwie besonders. Ein unauffälliges, normales Kind, so wuchs ich auf. Nur die Zeit war unverwechselbar, unwiederbringlich wie jede Zeit.

      Entbunden wurde meine Mutter von mir in der Geburtsklinik Karlshorst in Berlin. Sie erlitt dabei einen Dammriss, die Hebamme hatte ihr eine Wehenspritze gegeben, damit sie schneller niederkommen sollte. Das war damals noch ziemlich unüblich, und die Hebamme fürchtete den Arzt. Sie bat meine Mutter, ihm nichts von der Spritze zu sagen.

      Meine Eltern waren etwas enttäuscht über diese Art der Entbindung von meiner Winzigkeit. Denn eigentlich hielten sie viel vom Fortschritt der Wissenschaft und der Medizin. Sie sprachen immer