Ursula Reinhold

Gemütlichkeit


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Erika, mit der ich eine Zeit lang spielte. Aber es zog mich nicht allein ihretwegen zu den Sonnenschmidts. Ich hätte die Frau damals gern nach den Söhnen gefragt. Aber ich wagte es nicht, und sie hat niemals über ihre Söhne gesprochen, wenn ich dabei war. Von meiner Mutter erfuhr ich später, dass sie nicht nur die zwei Söhne hatte, die gefallen waren. So nannte man das, wenn jemand dieses bewusste Schreiben bekommen hatte. Sie hatte noch einen dritten Sohn. Aber der wollte damals schon und auch später niemals mehr etwas von seiner Mutter wissen. Sie hatte ihn vor ihrer Heirat mit Herrn Sonnenschmidt bekommen und zu fremden Leuten in Pflege gegeben. Und dort blieb er.

      Stadt- und Landausflüge

      Da wir es auch nach Meinung meiner Eltern auf "Gemütlichkeit” nicht schlecht hatten, blieben wir meistens dort. Stadtgänge unterblieben weitgehend. Ich akzeptierte das, hatte ich mich doch von ihrem schlimmen Ausgang überzeugen können. In die richtige City kam ich überhaupt nur einmal. Ich hatte diesen Gang unserer Nachbarin Frau Schneider zu danken, die mir das Schloss zeigen wollte. Der Bau war damals schon beschädigt und glich für mich daher der allgemeinen Ruinenlandschaft. Jedenfalls hinterließ der Ausflug nur sehr vage Erinnerungen. Frau Schneider hielt derlei Bildungsgänge für nötig, fand, dass ich nicht nur unsere Laubenkolonie kennen sollte, sondern mit meinen sechs Jahren auf die große Welt vorbereitet gehörte. Meine Mutter fügte sich zu meinem heutigen Erstaunen diesem Wunsch und ließ mich gehen. Wir hatten wohl zu diesem Zeitpunkt unsere Erfahrungen mit Frau Schneider noch vor uns. Regelmäßige Gänge machte ich mit meiner Mutter nach Baumschulenweg zum Einkaufen auf den dortigen Markt. Er lag damals in der Kiefholzstraße, dort stehen heute Neubauten. Es gab viele Holzstände, die aber meist leer waren. Nur an einigen wurde etwas verkauft. Er wäre nur noch ein Abglanz verblichener Pracht, sagte meine Mutter. Für mich herrschte dort ein reges Treiben. Es gab Marktfrauen, die ihre Ware lauthals anpriesen, und ich beobachtete Elendsgestalten, die in Lumpen mit Holzschuhen an den Füßen herumliefen. Während meine Mutter mit ihren Lebensmittelkarten irgendwo anstand, beobachtete ich diese verlumpten Gestalten, sah, wie sie in den Müllkübeln nach Essbarem suchten. Es war zu der Zeit, als überall an öffentlichen Wänden Plakate auftauchten mit einer schwarzen, schattenhaften Figur, die sich den Finger auf den Mund hielt. Meine Mutter las mir vor: "Pst ... Feind hört mit"! Ich fragte, was es zu bedeuten hätte.

      Irgendwie brachte ich dieses Bild mit den Elendsgestalten in Zusammenhang, die ich beobachtet hatte. Meine Mutter reagierte kurz und unwirsch, als ich ihr das sagte. Sie gab mir die knappe Auskunft, dass diese Menschen so elend sind, weil man ihnen einfach nichts zu essen gibt. Sie sind hier nicht zu Hause, sondern wurden hierher gebracht, obwohl sie auch lieber zu Haus wären, erläuterte sie mir. Das konnte ich mir vorstellen, es leuchtete mir ein.

      Denn etwas Ähnliches war mir schon in Lindenberg begegnet. Dort fuhren wir jetzt wegen der Bomben öfter hin. Auf dem Hof der Jänickes arbeitete seit einiger Zeit Stanislaus. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, sprach polnisch, und musste jetzt hier mit den Pferden zurechtkommen, obwohl er eigentlich studieren wollte. Er durfte nicht bei den Jänickes schlafen, sondern musste am Abend immer in die Schnitterkaserne gehen, die am Rande des Dorfes lag. Dort waren noch mehr Männer aus Polen, auch aus Frankreich und Russland, die auf anderen Höfen arbeiten mussten. Stanislaus saß allein am Tisch, aß später als wir anderen. Er saß allein auf der Holzbank in der Küche, er schien mir traurig. Gern hätte ich ihn angesprochen, aber ich verstand seine Sprache nicht. Auch wagte ich es nicht, weil es mir von den Jänickes nicht gern gesehen schien. Meine Mutter meinte, dass er auch Grund hätte, traurig zu sein, obwohl es ihm hier noch gut ginge.

      In Lindenberg hatte sich ein Generationswechsel vollzogen. Von den alten Jänickes, von denen meine Mutter mit achtzehn Jahren Abschied genommen hatte, lebte nur noch der alte Bauer. Er saß in der Stube und sprach vor sich hin. Er war mir immer ein wenig unheimlich. Die Wirtschaft führte jetzt der älteste Sohn, Martin, mit dem zusammen meine Mutter das letzte Schuljahr in der zweiklassigen Dorfschule die Bank gedrückt hatte. Er hatte Luise geheiratet, Lieschen genannt, von der Wirtschaft gegenüber, und zwei Kinder mit ihr bekommen. Gerhard, ebenso alt wie ich und Elfriede, wenige Jahre älter. Die Brüder von Martin waren ausgezahlt worden, wie das hieß. Paul hatte im benachbarten Buckow in eine Wirtschaft eingeheiratet und hat dort bis zu seinem Tode gelebt. Er ist dort erst vor wenigen Jahren hochbetagt gestorben. Ernst, der dritte der Brüder, mit denen zusammen meine Mutter das Arbeiten auf Hof und Feld gelernt hatte, lebte in Fürstenwalde, der nahe gelegenen Kreisstadt und arbeitete als Tischler. Als Einziger von den Brüdern interessierte er sich für Politik, war schon am Beginn der zwanziger Jahre Mitglied der SPD geworden. An die seltenen Male, bei denen mein Vater ihm in Lindenberg begegnete, denn er mochte diese ganze Bauernsippschaft nicht sonderlich, kann ich mich deshalb erinnern, weil sie immer sehr intensiv miteinander gesprochen haben. Sie schienen sich zu verstehen. Deshalb konnte ich die Bestürzung meines Vaters begreifen, als Ernst aus Fürstenwalde 1947 über Nacht abgeholt wurde und zwei Jahre später in Bautzen starb, wie uns Minna, seine Frau, berichtete. Das war zwischen meinen Eltern ein viel besprochenes Vorkommnis. Ich bekam später mit, dass er in seiner Partei bleiben wollte. Die Gestalt dieses Mannes ist für mich ganz schemenhaft. Anders als die von seinem Bruder Martin, der die Wirtschaft führte. Er war ein untersetzter und freundlicher Mann, der allerdings auch wütend werden konnte, wie mein Vater. Sein Zorn hat sich niemals gegen mich gerichtet, und ich habe ihn daher mit seinem schönen, offenen Lachen in Erinnerung behalten. Dazu mag auch das Hochzeitsbild beigetragen haben, auf dem er mit seiner Luise abkonterfeit war. Es hing auch in späteren Jahren an einem Platz in der Stube. Ich konnte es von dem großen Bauernbett aus sehen, in dem ich schlief. Aber das gehört schon in meine Nachkriegserinnerungen, in die Zeit, als er nicht mehr auf dem Hof war.

      Zu der Zeit, von der ich jetzt erzähle, stand er der Wirtschaft vor. Er arbeitete mit Pferd, Pflug und Wagen auf dem Feld, fütterte die Pferde, auf die er seinen Sohn und mich öfter setzte, und kam immer etwas später als wir an den Mittagstisch, worauf Lieschen ärgerlich reagierte.

      Darüber hinaus sind mir nur zwei Ereignisse im Gedächtnis geblieben, weil sie mir einen Schrecken bereiteten. Die eine Geschichte hängt mit dem Hofhund zusammen, dem Pfiffi, wie er hieß, die andere mit Stanislaus. Wir Kinder haben an diesem Hund, der an der Kette vor seiner Hütte lag, ziemlich herumgezerrt. Er blieb geduldig und wedelte mit dem Schwanz, wenn wir uns näherten. Eines Tages muss es ihm zu viel gewesen sein, und er biss in meinen Oberschenkel. Dafür wurde er von Martin mit der Peitsche geschlagen. Obwohl ich einen Schreck bekommen hatte, fand ich die Strafe für den Hund ungerecht. Er tat mir leid. Als ich das dem Lieschen sagte, schüttelte sie nur verständnislos den Kopf. Sie begriff mich nicht.

      Diese Reaktion hielt mich davon ab, mich bei der zweiten Auspeitschung zu einer Reaktion hinreißen zu lassen. Die Bestrafung galt Stanislaus und dauerte länger als die des Hundes. Ich sah ihr vom Küchenfenster aus zu und blieb stumm. Obwohl ich danach immer wieder versuchte, etwas über die Gründe zu erfahren, blieb ich ohne befriedigende Auskunft. Meine Mutter, an die ich mich wandte, zuckte nur die Achseln, sprachlos. Es gibt in meiner Erinnerung kaum Eindrücke von Stanislaus dem Geschlagenen. Nur seine hin und her flatternden Arme stehen mir vor Augen, die bald oben am Kopf, bald unten waren und die Körperteile bedecken wollten, auf die die Schläge niedergingen. Aber die Hiebe konnte er nicht berechnen, weil Martin nicht systematisch schlug, sondern in ungleichem Tempo, langsam erlahmend. Dabei blitzten seine Augen böse und auch die großen, weißen Zähne, die ich so gern anschaute, wenn er lachte, waren zu sehen. Sie verstärkten den Schrecken, den ich in diesem Moment empfand.

      Eine Zeit lang wollte ich damals nicht mehr nach Lindenberg. Aber meine Eltern fanden es wegen der immer häufigeren Fliegerangriffe angebracht, dort hinzufahren. Später begann ich einiges zu ahnen, aber das war schon nach dem Krieg, als wir nicht mehr wegen der Bomben, sondern wegen Mehl, Kartoffeln und Leinsamen nach Lindenberg fuhren. Martin war da schon weg. Er war von der sowjetischen Militärpolizei abgeholt worden. Mit ihm alle Männer des Dorfes. Es kam niemand von ihnen zurück. Auch erfuhr keiner, wann, wo und wie sie umkamen. In Polen, munkelte man. Das Dorf war nach dem Krieg völlig ohne Männer, bis einige von den Flüchtlingen als Umsiedler dort blieben. Eine Zeit lang vermutete ich, dass zwischen beiden Ereignissen ein Zusammenhang bestehen müsse. Meine Mutter verneinte das und erklärte mir, dass im letzten Kriegsjahr