Ursula Reinhold

Gemütlichkeit


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Weg ins Leben” kannten. Dessen Bemühungen um straffällige Jugendliche, die nach der Revolution und dem Bürgerkrieg in Massen die Straßen unsicher machten, haben sicherlich auch in den Berichten der Russlandfahrer von vor 1933 eine Rolle gespielt. Mit den Worten: "Das sind die Kinder der Besprisornijs, die jetzt kommen", begründete meine Mutter ihre Furcht. Mein Vater war ganz anderer Meinung. Er zerstreute ihre Bedenken und meinte: "Die Soldaten der Roten Armee sind jetzt schon seit Jahrzehnten durch Stalin erzogen." Ich nehme an, meine Mutter hat sich damit beruhigen lassen, allerdings nur für kurze Zeit. Es war übrigens das erste Mal, dass ich den berühmten Namen zu hören bekam. Bald darauf war er in aller Munde. Bei mir möchte ich sagen, eher in den Ohren. Denn nachdem die ersten Kampfverbände die Laubenkolonie durchquert hatten, übrigens ohne irgendetwas anzurühren, schlugen sie auf dem Gelände der Späthschen Baumschule, wo sich heute das Arboretum befindet, ein Feldlager auf und installierten ein Geschütz. Das hieß Stalinorgel. Aus riesigen Rohren schoss es ungefähr eine Woche lang über unsere Köpfe hinweg in die Stadt hinein. Dort brannte es, auch als die Stalinorgel aufgehört hatte zu schießen. Es war ein Ohren zerfetzender Lärm, der bis heute zu den unverlierbaren Geräuscheindrücken meiner Kindheit zählt. Deshalb habe ich, wie wahrscheinlich viele meiner Altersgenossen, mein besonderes Verhältnis zum heutigen Lärm. Aus den Rauchschwaden der brennenden Stadt sahen wir, im Garten stehend, zwei oder drei Flugzeuge steil aufsteigen. Sie flogen Richtung Westen und blieben oben, obwohl man ihnen hinterher schoss. Mein Vater kommentierte dieses Schauspiel mit den Worten: "Da machen sie sich davon, die Verbrecher", um dann konstatierend anzufügen, dass die Russen noch nicht auf dem Tempelhofer Feld sein können. Das war tatsächlich so, wie wir später erfuhren, denn im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz hatte sich die SS verschanzt und gab erst nach langen Kämpfen den Weg in Richtung Tempelhof frei. Das Kaufhaus sprengten sie dabei in die Luft.

      Zu Gesicht bekommen habe ich die Stalinorgel natürlich erst einige Zeit später. Bis dahin war schon viel geschehen. Die ersten Eindrücke von dem neuen Leben, das nun jetzt beginnen sollte, waren für mich mit Pferdefleisch, Zucker und Petroleum verbunden. Das Pferdefleisch haben wir allerdings nicht gegessen. Mein Vater hatte es wie andere Männer auch von den verendeten Pferden geschnitten, die in der Britzer Allee herumlagen. Es roch nicht gut und meine Mutter meinte, dass wir das nun denn doch nicht nötig hätten. Sie wunderte sich über meinen Vater, weil der sonst mit seinen ständigen Magen- und Gallenbeschwerden gar nicht so auf Fleisch aus war. Mit Zucker und Petroleum war es so, dass wir die unbedingt brauchten. Meine Mutter hatte längst die alte Petroleumlampe wieder hervorgeholt, die im Schuppen herumlag, seitdem es auf „Gemütlichkeit“ elektrisches Licht gab. Das gab es noch nicht lange und die Leute richteten sich schnell wieder darauf ein, dass sie ohne elektrischen Strom auskommen mussten. Entrostet war die Lampe schnell, aber sie brauchte Petroleum, um uns die Wohnküche hell zu machen. Das war bei den anderen Leuten nicht anders und deshalb hatte man sich darauf geeinigt, Petroleum in dem nahe gelegenen Kaufladen von Petersen, dem einzigen auf unserem Laubengelände, sicherzustellen. So nannte man derlei Aktionen damals. Man vermutete größere Vorräte Petroleum dort, weil nicht alle Laubenkolonien elektrisches Licht bekommen hatten. Die Leute von "Eintracht" und "Harmonie" mussten hier immer diesen Stoff kaufen, damit ihnen nicht das Licht ausging. Außerdem suchten meine Mutter, Herr Schneider und noch zwei andere Männer nach Zucker, der fehlte uns bei allen möglichen Speisen. Alles andere gab es noch leidlich. Das betonte meine Mutter auch späterhin immer als Besonderheit dieses zweiten Krieges. Die Versorgung auf der Grundlage der ausgegebenen Lebensmittelkarten habe bis zuletzt einigermaßen geklappt. "Das dicke Ende kam erst später", beendete sie diese Betrachtungen meist. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind während des 1. Weltkrieges gehungert hatte. Damals wurde Marmelade für Zucker und Kohlrüben für Brot ausgegeben.

      Es gelang meiner Mutter und den Männern, die gesuchten Kostbarkeiten sicherzustellen. Sie mussten die Lager nicht aufbrechen, denn sie waren schon offen. Vor ihnen hatten schon einige Rotarmisten die Schlösser abgerissen und untersucht, was die Keller enthielten. Die Soldaten lagerten im Umkreis des Ladens und leerten die Flaschen, die sie gefunden hatten. Die Gewehre hatten sie in die Gebüsche rundum geworfen. Das berichtete meine Mutter ganz aufgeregt meinem Vater, nachdem sie von ihrer Aktion zurückgekehrt war. Mein Vater meinte, dass die Armisten sträflich leichtsinnig wären, aber sie hätten schließlich Grund, den 1. Mai zu feiern. Das muss einen Tag vor der Kapitulation Berlins gewesen sein, die am 2. Mai erfolgte. Noch heute habe ich keine rechte Erklärung dafür, warum meine Mutter, noch dazu als einzige Frau, an dieser Aktion beteiligt war und nicht mein Vater. Es passte eigentlich wenig zu der unter ihnen üblichen Arbeitsteilung, bei der mein Vater immer auf den größeren historischen Schauplätzen arbeitete, während meine Mutter in der Küche oder im Garten beschäftigt blieb. Feigheit aufseiten meines Vaters möchte ich ausschließen, eher könnten Vorstellungen von Besitz und dessen Übernahme in die Hände des Volkes eine Rolle gespielt haben. So wird er vielleicht einfach nur anders beschäftigt gewesen sein, wenn er nicht überhaupt der Meinung war, am l. Mai 1945, dass es noch zu früh war zum Handeln.

      Zu den Eindrücken der ersten Monate nach dem Krieg gehört für mich, dass wir in dieser Zeit ein sehr offenes Haus hatten. Bei uns gingen viele Leute, vor allem Frauen aus und ein, verbrachten ganze Tage bei uns. Leute, mit denen wir vorher kaum oder wenig zu tun gehabt hatten. Das gefiel mir, es war ein sich nicht wiederholender Frühling und Sommer mit langen Abenden. Es gab keinen Strom, aber es störte kaum. Erst viel später habe ich begriffen, dass diese Frauen bei meinem Vater Schutz suchten. Denn nach den ersten kurzen Berührungen mit der kämpfenden Truppe der Roten Armee war nun der Nachschub gekommen, der sich auf länger einzurichten begann. Unweit der Kommandantur in der Baumschule bei Späth schlugen sie in der Königsheide ein großes Zeltlager auf. Aus den umliegenden Siedlungen und Kleingartenanlagen holten sie Decken, Hausrat, Kochtöpfe, Geschirr usw. Natürlich war die Eigenheimsiedlung in Späthsfelde davon mehr betroffen, weil es dort einfach mehr zu holen gab, als aus den Laubenkolonien. Aber sie kamen auch zu uns. Andere kamen und suchten Frauen. "Vergewaltigen" war ein Wort, das in aller Munde war. Obwohl ich und auch meine Spielgefährten nicht so genau wussten, was damit gemeint war, spielten wir ”vergewaltigen". Wenn ich mich recht erinnere, funktionierte es als eine Abwandlung des Greifspiels vom Räuber und Gendarm.

      Mein Vater mit seinen stümperhaften russischen Sprachkenntnissen konnte die Soldaten ansprechen. Dieses Überraschungsmoment reichte meist, um sie von ihren Vorhaben abzubringen. Er versuchte mit ihnen über Hitler und über Stalin zu reden, was sich in Kurzformeln niederschlug. Er verwickelte sie jedenfalls in anderes, als sie vorhatten. Einige ließen sich in unserer Wohnküche nieder, es entwickelte sich ein Kontakt. Meine Mutter kochte immerfort Pfefferminztee, den wir im Garten hatten. Sie radebrechten mit meinem Vater und lachten mit den Frauen. Schwierig wurde es, wenn sie angetrunken kamen. Dann trat mein Vater ihnen ebenfalls mit Zivilcourage entgegen, drohte mit Stalins Autorität, der von ihrem Verhalten nichts wissen durfte, und mit dem Kommandanten. Bis sie unverrichteter Dinge abzogen, spürte ich die lähmende Angst, die sich dann über alle ausbreitete. Man wagte kaum zu atmen, bis sie endlich fort waren. Wie das in den anderen Lauben zuging, weiß ich nicht. Aber ich nehme an, durch die offenen Türen von unserer Behausung wurden viele magisch angezogen. Vielleicht wegen ihrer Lage, nahe dem Spielplatz, im Zentrum unserer Gartenkolonie.

      An einige merkwürdige Ereignisse und Gesichter aus dieser Zeit kann ich mich erinnern. An einen ukrainischen Soldaten, einen schwarzhaarigen schönen Mann, der mit wild um sich blickenden Augen und gezogener Maschinenpistole hineinstürmte und nach Nazis verlangte, die er erschießen wollte. Es gelang meinem Vater, ihn zu beruhigen. Nachdem er ihm russisch zu verstehen gegeben hatte, hier gebe es keine Nazis, antwortete der auf Deutsch, dass er bisher nur Nichtnazis angetroffen habe in Deutschland. Er suche die, die für den Tod seiner ganzen Familie verantwortlich waren. Bruchstückhaft bekamen wir mit, dass er Jude war, dass Eltern und Geschwister tot, Haus und Heimat zerstört waren. Dass er allein sei, ganz allein, wie er wiederholte, um die Seinigen zu rächen. Er kam mehrmals. Bei ihm hatte mein Vater Glück. Er konnte ihn für seine geretteten Schallplatten und Bücher interessieren. Wir hatten damals ein Grammophon, das mit seinem Trichter in einen Schrank eingebaut worden war und an der Seite aufgezogen werden musste. Dieses Grammophon gehörte mit wenigen Schallplatten zu den wichtigsten kulturellen Bildungselementen meiner Kindheit. Stolz zeigte mein Vater dem Soldaten einige Liederplatten von Ernst Busch, die er mit dem Etikett von Straußwalzern beklebt und so