U. Kirsten

NY Phönix


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20 Vogelspinnen kriechen im Saal zwischen den Tischen herum. Weitere quellen durch die Eingangstür in den Raum. „Was hat Kanaj gesagt: „Wenn Du Angst hast, vermehren sich die Kroks umso mehr.“ Lenny beginnt, sich auf seine Angst zu konzentrieren. Er spürt sie tief in seiner Bauchgegend. Seine Aufmerksamkeit gilt seinen Gefühlen, die tief in ihm sitzen und seinen Magen zu einem Klumpen zusammenschnüren. Durch seine Konzentration auf die Angst selbst und ihre Auswirkungen auf seinen Körper, durch die reine Beobachtung der Situation spürt er, wie plötzlich seine Panik nachlässt. Die Angst, das Grauen scheinen unreal und unwichtig. Lenny spürt, wie sich der Energieschub reduziert und der Angstlevel sich allmählich verringert. Er steht hinter dem Tresen auf und hat plötzlich keine Hemmung mehr, auf die Kroks zuzugehen. Diese verharren und scharren unsicher mit den Spinnenbeinen. Nein sie weichen sogar zurück. Lenny nimmt ein Spinnenwesen ins Visier und fixiert es. Die blutunterlaufenen, giftgelben Raubtieraugen starren ihn hasserfüllt an. Nach wenigen Sekunden wirkt es jedoch irritiert und blinzelt. Schritt für Schritt reduziert Lenny den Abstand zu dem Ungeheuer. Als ihn nur wenige Meter von dem Monster trennen, gibt es ein Zischen und Lenny ist samt Vogelspinne in eine graue Rauchwolke gehüllt. Als sich die Rauchschwaden auflösen, ist die Vogelspinne verschwunden. Weitere Spinnen beginnen, wie Silvesterknaller, zu explodieren. Lenny spürt einen eigenartigen Geruch in der Luft. „Oh, denkt er, das riecht, wie ein Angstpups.“ Unwillkürlich muss er grinsen und das gibt auch der letzten Vogelspinne den Rest, die sich in eine graue Wolke auflöst. „Gut gemacht!“ Kanaj taucht applaudierend hinter dem Ausgabetresen auf. „Du hast Deine Lektion gelernt. Das muss man Dir lassen.“ Er kommt auf Lenny zu und klopft ihm anerkennend auf die Schulter.

      „Aber weißt Du was, ich habe Hunger. Wir gehen zu mir und ich stelle Dich meinen Kumpels vor. Und dann schauen wir weiter, wie wir Dir helfen können.“ „Können wir vielleicht erst noch einmal kurz bei mir zu Hause vorbeischauen. Wir wohnen in der Upper West Side. Ich möchte mich vergewissern, dass es meiner Familie gut geht.“ „Klar, kein Thema.“ Dabei grinst Kanaj ihn aufmunternd an.

      Als Kanaj und Lenny durch den Haupteingang der NY Public Library ins Freie treten, hat der Tag begonnen. Die Straßen haben sich bereits mit Menschen gefüllt und auf der 5th Avenue herrscht ein reges Treiben. Kanaj führt seinen neuen Freund zu einem Parkhaus in einer der Seitenstraßen. „Warte hier. Ich hole den Feuervogel.“ Und schon ist Kanaj im Gebäude verschwunden. „Ein Feuervogel“ denkt Lenny „Auf Fliegen habe ich jetzt überhaupt keine Lust. Mein Magen hatte schon genug, in der letzten Zeit zu verdauen.“

      Nach wenigen Minuten nimmt er ein ohrenbetäubendes Dröhnen wahr, das aus dem Parkhaus dringt. Lenny hat das Gefühl, dass eine riesige Herde Büffel ihn gleich auf die Hörner nehmen wird. Er schafft es gerade noch, zur Seite zu springen. Und dann kommt mit quietschenden Reifen ein ultraroter Sportwagen vor ihm zum Stehen. Ein riesiger Feuervogel mit ausgebreiteten Schwingen prangt auf der Motorhaube. Lenny verschlägt es die Sprache. Der Traum seiner Kindheit steht leibhaftig vor ihm. Es ist ein Pontiac Firebird Trans AM Baujahr 1972. Die röhrenden Büffel sind ein V8 Motor mit 285 PS, der es in der Spitze auf 201 Kilometer in der Stunde bringt. Für Lenny ist der Pontiac Firebird immer der amerikanische Sportwagen schlechthin. Kein anderes Musclecar, weder der Ford Mustang noch ein Camaro konnten es mit ihm aufnehmen. Bisher hatte er einen 72ziger Firebird nur selten zu Gesicht bekommen. Dieser Traum von einem Auto war immer sein ganz besonderer Trumpf im Sportwagen-Quartettspiel. Kanaj sitzt grinsend hinter dem Lenkrad. Er ragt kaum über das Lenkrad, kommt sich jedoch anscheinend wie ein ganz Großer vor. „Steig ein Lenny. Wir machen eine Spritztour zum Central Park.“ Kanaj lässt den Motor aufbrüllen und Lenny beeilt sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Er kann es noch immer nicht fassen. Seine Hände streicheln zärtlich über das rote Leder der Sitzbank. Kanaj lässt die Kupplung springen und mit einem Satz springt der Feuervogel aus der Ausfahrt des Parkhauses. Lenny wird in seinen Sitz gedrückt. Schon schnellen sie auf die Straße. Kanaj reißt den Wagen herum. Er biegt von der Seitenstraße in die 5th Avenue nach Norden ein. Sie lassen die NY Public Library und den Alptraum der Vogelspinnen links liegen.

      Kanaj fährt rasant. Er weicht geschickt langsamer fahrenden Fahrzeugen aus. Lenny fragt sich, wie sein neuer Freund sich einen solchen Sportwagen leisten kann. Als hätte Kanaj seine Gedanken gelesen, redet er drauflos: „Den Flitzer habe ich mir von einem reichen Schnösel ausgeborgt. Wenn die U-Bahn mal nicht fährt, braucht man halt einen schnellen fahrbaren Untersatz.“ „Weißt Du eigentlich, was der Pontiac wert ist.“ entfährt es Lenny. Kanaj zuckt nur die Schultern. „Pontiac … ist das nicht eine Stadt bei den großen Seen in der Gegend von Detroit?!“ Aus Lenny sprudelt es heraus: „Nicht nur eine Stadt, das ist der Name eines Indianerhäuptlings, der sich in den Kolonialkriegen gegen die Briten zur Wehr gesetzt hat. Er hat den „Pontiac Aufstand“ angezettelt. Deswegen wurde auch der Pontiac immer als „Der Häuptling unter den Sechszylindern genannt.“

      Sie passieren gerade an der 49.Strasse das Rockefeller Center. Eine Straße weiter liegt auf der rechten Seite die St. Patricks Kathedrale, die größte neugotische Kathedrale in den USA. Da sieht Lenny aus den Augenwinkeln in der Nebenstraße einen Polizeiwagen. Der rasante, rote Sportwagen hat die Cops sofort gereizt. Sie sehen rot, werfen die Sirenen an und sind ihnen bereits auf den Fersen. Kanaj wirft einen Blick in den Rückspiegel: „Also F.I.T.T. dann zeigen wir ihnen einmal, was wir können.“ „F.I.T.T. – Was ist das nun schon wieder.“ entfährt es Lenny verdutzt. „FIrebird Twothousend Two – ist Kanaj‘s knappe Antwort. „Aber jetzt sei still. F.I.T.T. ist äußerst sensibel. Er muss sich konzentrieren.“ Mit diesen Worten drückt er einen gelben Knopf am Armaturenbrett. Kanaj spricht mit autoritärer, ungewohnt befehlsgewohnter Stimme „F.I.T.T.!“ Daraufhin ertönt eine tiefe, blecherne Stimme aus dem Motorraum „Ja Kanaj!“ „Bring uns zum San Remo, Central Park West, Ecke 74.Strasse. und zwar schnell!“ Daraufhin drückt er einen zweiten Knopf mit den Buchstaben „TB“. Der Sportwagen wird nach vorn geschleudert und verdoppelt seine Geschwindigkeit. Lenny schaut aus dem Rückfenster. Der Streifenwagen wird kleiner und kleiner, bis er komplett aus der Sicht verschwunden ist. „TB = Turbo Boost“ entfährt es Lenny aufgeregt. Er sieht in Gedanken einen Mann vor sich, mit einem breiten Grinsen, brünetter Dauerwelle, schwarzer Lederjacke, offenem Hemd, aus dem das Brusthaar quillt. „Oh Mann, bist Du es David?!“ Kanaj schaut sich besorgt zu ihm um: „Alles klar mit Dir?“ Lenny kann nicht mehr an sich halten: „ Wenn der Wagen nicht rot, sondern schwarz wäre, würde ich denken, Du bist David Hasselhoff, das Hollywood Idol der 80er. Mein Vater trug zu dieser Zeit auch eine Dauerwelle. Kaum zu glauben aber ich habe den Beweis auf einigen Fotos selbst sehen können.“

      Inzwischen haben sie die 58. Straße passiert. Vor ihnen liegt der Grand Army Plaza mit dem altehrwürdigen Crown Plaza Hotel. Hier ist auch die südliche Begrenzung des Central Parks. Kanaj fährt weiter nach Norden die 5th Avenue hinauf. Sie befinden sich jetzt am östlichen Rand des Central Park. Auf diesem Abschnitt ist sie auch als Museums Meile bekannt. Rechts bzw. jetzt südlich von ihnen liegt das Metropolitan Museum of Art. Nördlich befindet sich neben dem National Academy Museum, der Neuen Galerie und dem Copper Hewitt Design Museum das S.R. Guggenheim Museum. Kanaj hat den Pontiac entschleunigt und sucht nach einem Parkplatz, den er nach wenigen Metern auch findet. Kanaj und Lenny bleiben im Auto sitzen und beobachten in Ruhe ihre Umgebung. Lenny fällt sofort das riesige, weiße, auf den ersten Blick etwas unförmige Gebäude auf, das sich nur wenige 100 Meter von ihrem jetzigen Standort breit macht. Es sieht danach aus, als ob eine riesige Schnecke hier an der 5th Avenue gerade ihr Mittagsschläfchen machen würde. Es ist das Guggenheim-Museum. Als Lenny das weiße, architektonisch äußerst auffällige Gebäude betrachtet, muss er an den Ausspruch eines Kritikers denken, der bei seiner Fertiggestellung gesagt hatte: „Ein Gebäude, das in einem Museum ausgestellt werden sollte, um zu zeigen, wie verrückt das 20. Jahrhundert ist.“ Es gab bei seiner Eröffnung 1959 viele Kritiker. Diese meinten, dass ein Museum die Kunstwerke, die es ausstellt, hervorheben und im sprichwörtlich besten Licht darstellen und keineswegs diesen durch seine Einzigartigkeit die Show stehlen sollte. Viele meinten sogar, dass es beim Guggenheim Museum einen Krieg zwischen dem Bauwerk und den Ausstellungsstücken geben würde. Der Architekt Frank Lloyd Wright war zu seinen Lebzeiten bereits eine Legende. Mit dem Guggenheim Museum erreichte er den Zenit seines Schaffens und setzte sich und seinem Namen ein einzigartiges Denkmal.