U. Kirsten

NY Phönix


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Verzweifelt schaut er sich um. Wo ist ein Ausweg. Kopflos beginnt er loszulaufen. Aus den Augenwinkeln sieht er rechts neben sich eine Tür. Er springt hin und reißt diese auf. Ihm weht der Geruch von Toilette entgegen. Er sieht das Frauen-Symbol und entscheidet sich dann doch für die Herrentoilette. Kostbare Sekunden verstreichen. Die Kratzgeräusche, der ihn verfolgenden Spinnenmonster, werden lauter. Sie sind schon fast an den Toiletten. Da entdeckt Lenny ein Fenster. Er reißt daran, aber es öffnet sich nicht. Lenny nimmt all seine Kräfte zusammen und mit einem Ruck schwingt das Fenster auf. Er zieht sich über die Fensterbrüstung. Da merkt er, dass sich eine gummiartige Faust um sein Fußgelenk schließt. Er sieht einen Schlangenarm an seinem Unterschenkel hochkriechen. Ein Tritt mit dem freien Fuß trifft die Schlange, die sich zischend zurückzieht. Lenny springt auf. Er befindet sich auf dem Dach des Nebengebäudes. Am Ende des Daches sieht er eine Feuerleiter. In kurzen Sprüngen ist er dort und steigt die wenigen Stufen auf das angrenzende Dach. Hinter sich sieht er die Horde seiner Verfolger aus dem Toilettenfenster quellen. Sie kreischen und quietschen ohrenbetäubend, wie, wenn man Metall aneinander reibt. Lenny rennt weiter über ein, zwei, drei Dächer. Die Feuerleitern hoch, runter, wieder hoch. Gut, dass er durch das Basketballtraining in Bestform ist. Bloß weg von diesem Ort.

      Dann steht er irgendwann wieder auf der Straße. Es ist noch immer die 45. Straße. Lenny presst sich in einen Hauseingang. Es ist das Gebäude neben dem Lyceum Theater, ein Irish Pub. „O’Lunneys“ hat während der Ausgangsperre natürlich auch nicht geöffnet. Vor dem Theater hat sich eine Gruppe der Spinnenwesen versammelt. Sie zischen, gestikulieren mit ihren Spinnenarmen und suchen mit ihren gierigen, giftgelben Augen die Gegend ab. Noch haben sie Lenny nicht entdeckt. Lenny sucht verzweifelt einen Ausweg. Diese Viecher sind verdammt schnell. Zu Fuß wird er kaum eine Chance haben. Da fällt sein Blick auf mehrere Fahrräder, die an der Hauswand abgestellt sind. Er untersucht eins nach dem anderen mit seinen Blicken. Erleichtert stellt er fest, dass ein metallicblaues Mountainbike kein Fahrradschloss hat. Plötzlich durchdringt ein schrilles Kreischen die Nacht. Eine der Kreaturen hat ihn entdeckt und zeigt mit seinem Schlangenarm in seine Richtung. Die Spinnenwesen setzen sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit in Bewegung. Kurz entschlossen springt Lenny zum Mountainbike und reißt es von der Wand. In wenigen Sekunden ist er im Sattel und tritt wie ein Verrückter in die Pedalen. Schnell nimmt er mit seinem Bike Geschwindigkeit auf, als er neben sich einen Schatten gewahr wird. Ein Spinnenwesen hat ihn auf seiner rechten Seite fast eingeholt. Das eklige Geschöpf galoppiert auf seinen acht, kräftig behaarten Spinnenbeinen, was das Zeug hält. Lenny muss sich bei diesem Anblick fast übergeben. So ein Vieh einmal im „realen“ Leben zu sehen, ist zu viel für seine Nerven und seinen Magen. Lenny träumt oft von Vogelspinnen und Schlangen. Sie symbolisieren und vermischen sich mit seinen tiefsten Ängsten. Als Kind konnte Lenny nicht mit einer großen Spinne in einem Raum sein. Er hatte das Gefühl, die Angst, die Spinne würde im Schlaf auf ihn krabbeln und sich auf sein Gesicht legen. Es war nahezu eine Phobie. Lenny musste den Raum verlassen und hatte den Drang, all seine Kleidung zu wechseln. Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm, die Spinne hätte ihre Eier in seiner Kleidung abgelegt. Es war furchtbar und Lenny spürte, dass dieses Tier über seine Angst sein Leben kontrollierte. Er wusste, dass seine Ängste unbegründet und irrational waren. Trotzdem hatten sie ihn immer wieder überwältigt. Ebenso verhielt es sich mit Schlangen. Lenny ekelte sich vor dem weichen, glitschigen Körper. Im Wald und in freier Natur fixierte er seinen Blick immer auf den Weg, der vor ihm lag. Im Traum war er schon oft auf eine Kreuzotter getreten, die sich dann immer um seinen Knöchel wand und ihm ihre giftigen Zähne in seinen Unterschenkel schlug. Aber Lenny hatte einen starken Willen. Er würde nicht so einfach aufgeben. „Schau Dir Deinen Gegner an und erkenne seine Schwächen. Mache sie Dir zu Nutzen“ hatte ihm sein Vater immer erklärt.

      Lenny heftet seinen Blick auf die Kreatur, die nur wenige Meter neben ihm die 45. Straße entlang galoppiert. Lenny kannte sich mit Spinnen und Schlangen aus. Um seine Phobie zu überwinden, hatte er sich intensiv mit diesen Tieren beschäftigt. Er war mit seinem Vater im Zoo gewesen und hatte den weichen, glitschigen Körper der Schlangen berührt. Er hatte Spinnen in die Hand genommen und sie über seinen Unterarm laufen lassen. Es war schrecklich, aber seine Angst war in den Hintergrund getreten. Er lernte es, sich zu beherrschen und Schritt für Schritt war es ihm besser gegangen. Das Geschöpf neben ihm war halb Vogelspinne, halb Schlangenwesen. Er hatte viel in Büchern über die Vogelspinne, die auch als Tarantel bezeichnet wurde, gelesen. Ihren Namen verdankte sie einer deutschen Naturforscherin, die um 1700 eine solche Spinne auf ihrer Forschungsreise im Surinam entdeckt und gezeichnet hatte. Die Zeichnung zeigte, die für europäische Verhältnisse überdimensionale Spinne, wie sie auf einem Ast sitzend, einen Kolibri verspeist. Sie war extrem aggressiv und biss um sich, sobald sie ihren Gegner gewahr wurde. Das Spinnenwesen neben ihm hatte wie eine normale Tarantel ebenso 8 Beine, die stark behaart waren. In der freien Natur schaffte es diese Spinnenart auf gerade einmal 10 cm und eine Spannweite von 28 cm. Das Monster neben ihm war jedoch so lang und hoch wie sein Mountainbike. Die Schlangenarme, Lenny zählte acht Arme, konnte es noch einmal über einen Meter in Richtung seiner Opfer ausstrecken. Und wer hier das Opfer war, darüber machte sich Lenny keine Illusionen. Als hätten seine Gedanken eine Reaktion bei dem Spinnenmonster ausgelöst, schoss plötzlich einer der Schlangenarme in seine Richtung. Lenny machte mit seinem Mountainbike eine reaktionsschnelle Ausweichbewegung und der Schlangenarm glitt von seinem Fahrradlenker ab. Stattdessen rutsche die Schlange zu seinem Hinterrad ab und dann in dessen Speichen. Es gab ein flutschartiges Geräusch. Ein Ruck ging durch sein Bike und ein abgetrennter Schlangenarm flog hoch in die Luft. Er hörte ein monströses, metallisches Kreischen, das die Tarantel ausstieß, aber sie ließ noch immer nicht locker. Lenny musste grinsen. „Das hast Du nicht erwartet, dass sich dein Opfer wehrt.“ Er konnte die acht Augen der Vogelspinne sehen, die sich böse auf ihn hefteten. 6 waren schwarze unbewegliche Knopfaugen, die zwei weiteren waren faustgroße, giftgelbe Raubtieraugen, die ihn voller Hass anstarren. Lenny mustert die riesigen Beißklauen. Er muss daran denken, dass die Tarantel mit diesen Hauern ihre Beute schlug. Am oberen Teil der Klauen waren die Giftdrüsen. Das Opfer wurde damit betäubt, später aber auch zum Zwecke der Verdauung zersetzt. Die Vogelspinne saugte somit ihre Opfer regelrecht aus. Lenny fröstelte es bei diesem Gedanken. Fieberhaft dachte er nach, wie er die Spinne endlich loswerden konnte. Da vorn war bereits der Americas Boulevard. Eigentlich musste er jetzt nach Norden in Richtung Central Park aber die Tarantel war auf seiner linken Seite und machte nicht die Anstalten, aufzugeben. An der Kreuzung riss er sein Fahrrad nach rechts. Das Hinterrad rutschte quietschend weg. Aber Lenny behielt die Kontrolle. „Dann mache ich eben einen kleinen Umweg nach Süden, um das Ungeziefer loszuwerden.“ Die Tarantel war vom plötzlichen Richtungswechsel überrascht worden. Schnell hatte sie sich wieder orientiert und nach 50 Metern ist sie erneut auf seiner Höhe. „Mist - das Vieh lässt einfach nicht locker.“ Lenny wirft erneut einen Seitenblick auf das Ungeheuer. Sein Blick bleibt am Hinterteil der Spinne hängen. Es ist die empfindlichste Stelle, weil sie dort nicht so stark gepanzert ist. Hier liegen die Verdauungsorgane und das Herz. Der Darm und damit das Hinterteil müssen sich ausdehnen, wenn die Spinne ihre Opfer verdaut. Lenny weiß, dass Stürze aus geringster Höhe für eine Vogelspinne tödlich enden konnten, da der Hinterleib dabei aufplatzte und das Tier verblutete. Es bleibt ihm nur eine Chance. Er muss eine Kollision provozieren. Lenny konzentriert sich erneut auf seine Fahrtrichtung. Er jagt gerade mit seinem Mountainbike den Americas Boulevard nach Süden in Richtung Downtown. Links in der 43. Straße sieht er das 200 Meter hoch aufragende W.R. Grace Building. Die weiße Fassade wölbt sich sanft auf beiden Seiten nach oben und gibt dem Wolkenkratzer eine schlanke Silhouette. Auf der rechten Seite registriert Lenny das Hochhaus der Bank of America. Es ist aktuell, nach dem Empire State Building, seit seiner Erbauung 2009, das zweithöchste Gebäude New Yorks. Hier konnte man erahnen, wie einmal das One World Trade Center nach seiner Fertigstellung am Ground Zero aussehen würde, denn der Bauherr, die New Yorker Firma Tishman Construction war ein und dieselbe. Weiter vorn sieht er das Grün des Bryant Parks. Langsam wird es auch heller. In New York beginnt der Morgen. „Gott sei Dank“. Wenn bald die Ausgangssperre beendet ist, sind auch wieder Menschen auf der Straße, die mir helfen werden. „Jetzt muss ich aber erst einmal die Tarantel loswerden.“ Gerade überquert er die 42. Straße. Links von ihm liegt der Bryant Park. Plötzlich hat er eine Eingebung. Lenny beschleunigt noch einmal sein Bike. Jetzt würde sich zeigen, wer besser im Gelände war. Beherzt reißt er sein Mountainbike nach links und springt damit auf