Narcia Kensing

Nachtschwarze Sonne


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Wie nannten Sie sie noch gleich? Shelly? Sie wird eine Nummer benötigen, wenn sie bei uns bleibt. Kümmern Sie sich indes nicht um ihren Verbleib. In Zukunft werden Sie sich um nichts anderes kümmern als die Erfüllung Ihrer Aufgaben, haben wir uns verstanden?«

      Haben wir nicht, aber dennoch nicke ich. Ich bin so voller Bitterkeit, dass ich der Schnepfe am liebsten an den Hals springen würde. Ich knirsche mit den Zähnen, um mich davon abzuhalten. Meine Hände balle ich so fest zu Fäusten, dass sich meine Fingernägel in die Handflächen graben.

      Jetzt lacht diese dumme Tussi auch noch auf, spitz und kalt. »Ich hätte es beinahe vergessen. Ich soll Ihnen doch noch Ihre Zuteilung mitteilen.« Sie öffnet eine Schublade des Pultes und zieht ein Blatt Papier heraus.

      »Individuennummer 46-19«, sie sieht kurz auf und fixiert den Blick von Neal, »Sie werden im Computerraum die Überwachung aller technischen Anlagen übernehmen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie handwerklich sehr geschickt sein sollen und zudem noch des Lesens mächtig sind. Das erspart uns die Arbeit, es Ihnen beizubringen.«

      »Und was bedeutet das für mich? Was muss ich tun?« Ich erschrecke mich, weil Neals Stimme so nüchtern klingt, als ginge es gar nicht um den Rest seines Lebens.

      »In erster Linie nur darauf achten, dass es keinen Alarm im System gibt. Die Reparaturen werden Sie vorerst nicht vornehmen, dafür ist es noch zu früh. Allerdings ist es auch nicht meine Aufgabe, Sie einzuweisen. Sehe ich so aus, als würde ich den ganzen Tag nichts anderes tun als auf einen Monitor zu starren?«

      Sie wird mir immer unsympathischer. Dieses selbstgefällige dumme Lächeln, das so falsch und kalt ist. Ich sehe zu Neal herüber, aber der nimmt ihre Worte gelassen hin und verzieht keine Miene. Ist das der Mann, der einst so aufbrausend gewesen ist? Ich kann es kaum glauben.

      »Nummer 4-19, Sie sind für die Arbeit in der Wäscherei eingeteilt worden. Harte Arbeit, darum beneide ich Sie nicht.«

      Ich nehme es weniger abgeklärt hin als Neal. In der Wäscherei? Das soll mein Schicksal sein? Ich habe alle Bücher gelesen, habe schreiben und rechnen gelernt. Und jetzt soll ich schmutzige Wäsche waschen? Es fühlt sich an, als hätte mir jemand in den Magen geboxt.

      »Natürlich bedeutet das nicht, dass Sie das für den Rest Ihres Lebens tun werden«, kommentiert 3-33 meinen Gedankengang und sieht wieder auf das Blatt Papier. »Hier steht, dass Sie in ein paar Jahren in einer medizinischen Station eingesetzt werden können, weil sie ebenfalls lesen und schreiben können.«

      Zumindest würde mir das die Möglichkeit bieten, Carl und Candice noch einmal wiederzusehen. Ein kleiner Trost.

      »4-19 bleibt bitte noch hier, die anderen beiden gehen hinaus und lassen sich zurück auf ihre Zimmer führen.« Sie klatscht einmal in die Hände. Neal schiebt seinen Stuhl geräuschvoll zurück und zögert nicht, den Ausgang anzusteuern. Im Vorbeigehen wirft er mir einen undeutbaren Blick zu, irgendetwas zwischen Mach dir keine Gedanken, es wird alles gut und Stell dich nicht so an.

      Shelly erhebt sich nur zögerlich von ihrem Platz. Ich merke deutlich, dass sie lieber bei mir geblieben wäre. Sie sieht mir lange hinterher, bis sich die Tür hinter ihr schließt. Weshalb muss ich noch bleiben?

      3-33 winkt mich zu sich heran, ich folge ihrer Aufforderung und trete vor das Pult. Sie nimmt wieder etwas aus der Schublade heraus und schiebt es mir auf der Tischplatte zu. Ich erkenne es sofort.

      »Das ist meine Individuenkarte.«

      »Schlaues Mädchen. Die sollten Sie immer bei sich tragen. Wohin das bei Missachtung führen kann, haben Sie doch erlebt. Also hoffentlich ist es Ihnen eine Lehre gewesen.«

      Mir schlägt das Herz bis zum Hals, als ich die Karte in die Tasche meines neuen schwarzen Anzuges stecke. »Was ist mit Suzie passiert?«

      »Mit wem?«

      »21-19. Das blonde Mädchen, das mir meine Karte gestohlen und an meiner Stelle hierher gekommen ist.«

      3-33 macht eine Geste, als wolle sie Fliegen verscheuchen. »Sie wurde bestraft. Die Details gehen Sie nichts an.« Etwas in ihrer Stimme verrät mir, dass es nicht angenehm für Suzie gewesen sein muss. Ich schlucke. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.

      »Wann muss ich mit der Arbeit in der Wäscherei beginnen?«

      »Morgen, nachdem man sie heute noch geimpft hat. 46-19 hat die Prozedur schon hinter sich.«

      Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: Die Tatsache, dass ich heute noch das verdammte Serum verabreicht bekommen soll oder dass Neal bereits in einen V23er verwandelt wurde. Wann? Habe ich etwas nicht mitbekommen? Ist das der Grund, weshalb sich Neal so seltsam verhält? Ist das vielleicht sogar der Grund, weshalb er die Acrai verraten hat? Mir klappt die Kinnlade herunter. Gleichzeitig erfüllt mich eine unbändige Wut. Ich möchte dieses Leben nicht. Niemals möchte ich so kalt und emotionslos werden wie die V23er.

      »Was ist, wenn ich das alles nicht mitmachen möchte? Wenn ich zurück nach Hause will?« In mir manifestiert sich der unbedingte Wille zu rebellieren. Ich bin mein ganzes Leben lang fremdbestimmt worden. Man hat mir vorgeschrieben, wann ich esse und wie ich meine Freizeit verbringen darf. Durch meine Zeit bei Cade habe ich erlebt, was es bedeutet, frei zu sein. Es birgt eine gewisse Ironie in sich, weil Cade doch mein Entführer war ...

      3-33 zieht die Augenbrauen hoch, ihre Miene verfinstert sich. »Das hier ist ab jetzt Ihr Zuhause. Sie können nicht zurückgehen. Sie dürfen nicht einmal ein Wort mit den Menschen in Manhattan reden. Wir brauchen hier keine undichten Stellen, die Informationen durchsickern lassen. Wenn Sie sich weigern sollten, die Regeln zu akzeptieren, werden Sie beseitigt. So einfach ist das, da bin ich ganz ehrlich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, nach der Impfung werden Sie von allein merken, wie wundervoll das Leben hier ist. Ich kenne keinen, bei dem es anders gewesen wäre. Und glauben Sie mir, nicht alle Rekruten waren von vornherein von ihrem neuen Leben begeistert. Jetzt sind sie es. Also hören Sie auf zu jammern. Ab heute Nachmittag wird sich alles ändern. So übel ist es hier nicht, Sie werden es schon sehen. Und jetzt gehen Sie, draußen wartet bereits jemand, der Sie ins Labor bringen wird.«

      Sie zeigt auf die Tür und gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich hier unerwünscht bin.

      »Was ist mit dem versprochenen Frühstück?«

      »Nach der Impfung, die geht vor. Und jetzt raus!«

      Mit zitternden Knien gehe ich auf die Tür zu. Ich fühle mich bedrängt, verzweifelt und frustriert. Auf keinen Fall möchte ich dieses Zeug verabreicht bekommen. Wie kann ich mich bloß dagegen wehren? Gedanklich gehe ich bereits meine Flucht durch, doch alle Überlegungen versanden im Nirgendwo. Es gibt kein Entrinnen.

      Ich habe die Tür noch nicht wieder hinter mir geschlossen, als mich bereits ein hoch gewachsener Mann am Oberarm greift und mich mit finsterer Miene den Flur entlang bugsiert.

      Kapitel zwei

       Holly

      

      Ich versuche, mir den Weg einzuprägen, doch die Gleichförmigkeit aller Flure, Treppen und Türen im Hauptgebäude macht es mir nicht leicht. Es geht mehrere Gänge hindurch und eine Treppe hinunter. Hier weisen die Böden einen roten Streifen auf, keinen gelben, wie vor meinem Zimmer. Das ist aber auch schon der einzige Unterschied. Ich bezweifle, dass ich den Rückweg allein finden würde.

      Bewaffnete Männer versperren uns jäh den Weg. Die Tür, die sie bewachen, ist größer und macht einen stabileren Eindruck als die einfachen Metalltüren der anderen Zimmer. Sie ist mit zusätzlichen Eisenbeschlägen versehen. Die Nummer des Kerls, der mich hergebracht hat, lautet 75-2. Nicht, dass er sich mir vorgestellt hätte, aber jeder Anzug eines Obersten ist mit dessen Nummer bestickt, auch meiner. Der Mann hat überhaupt kein Wort mit mir gesprochen, seine Miene ist finster, er hat mir nicht einmal in die Augen gesehen, während er mich durch das Labyrinth der Zentrale geführt hat.

      »Anliegen?« Die Stimme des Türwächters ist monoton, aber sein Blick