Jörg R. Strub

Curriculum Prothetik


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ob Zahnersatz überhaupt indiziert ist, denn heute gilt als unbestritten, dass aus funktionellen Gründen nicht in jedem Lückengebiss ein Zahnersatz angefertigt werden muss (Battistuzzi et al. 1991, Brunner und Kundert 1988). Insbesondere wenn alle Molaren fehlen, die Zahnreihe aber sonst geschlossen ist, kann eine Prämolarenokklusion für den Patienten eine Option sein, besonders dann, wenn keine prothetisch-rekonstruktive Therapie gewünscht wird. Man spricht in diesen Fällen vom Konzept der verkürzten Zahnreihe (engl. shortened dental arch, SDA; Gerritsen et al. 2017). Oft erfordern aber ästhetische Gründe die Anfertigung von Zahnersatz im stabilen Lückengebiss.

      In vielen Fällen kommt es jedoch zu den zuvor genannten Veränderungen und Folgen; es liegt ein unkompensierter Gebissschaden vor. Hier ist im Gegensatz zum kompensierten Gebissschaden eine prothetische Therapie im Sinne einer künstlichen Kompensation indiziert und erforderlich.

      Neben einem kompensierten und unkompensierten gibt es noch einen sogenannten völligen Gebissschaden, der dadurch gekennzeichnet ist, dass eine weitere Schädigung nicht möglich ist, weil bereits alle Zähne verlorengegangen sind (vgl. Kapitel 40 und 41) (Wenz und Hellwig 2018).

      Auch der Zustand des Zahnhalteapparats spielt im Lückengebiss eine nicht unbedeutende Rolle. Ist das Parodont der Restzähne gesund („parodontale Resistenz“), so treten Stellungsänderungen dieser Zähne weniger schnell auf als bei einem erkrankten Zahnhalteapparat (chronische Parodontitis, Zahnlockerung; „parodontale Insuffizienz“) (Fröhlich 1959). Eine vorliegende Parodontitis ist fast immer mit schlechter Mundhygiene verbunden, und diese stellt einen prognostisch ungünstigen Faktor auch für den Erfolg der prothetischen Therapie dar. Daher muss auch die Therapie mit abnehmbarem Teilzahnersatz immer in einem synoptischen Behandlungskonzept erfolgen, so dass eine strukturierte Vorbehandlung erfolgt.

       31.3 Aufgaben von partiellem Zahnersatz

      Partiellen Prothesen kommen genauso wie festsitzendem Zahnersatz verschiedene Funktionen zu (vgl. Kap. 18.1):

       Wiederherstellung der (Kau-)Funktion

       Wiederherstellung der Ästhetik

       Wiederherstellung der Phonetik

       Sicherung von statischer und dynamischer Okklusion

       Verhinderung von Elongationen der Antagonisten und Stellungsänderungen der Nachbarzähne

       Verteilung der Kaukräfte auf das Restgebiss, die zahnlosen Kieferabschnitte und die antagonistischen Zähne

       Verhütung weitergehender direkter oder indirekter Destruktionen im stomatognathen System (prophylaktische Funktion)

      Die Hauptprobleme bei der Konstruktion einer Teilprothese betreffen zum einen den Pfeilerzahn (Ausmaß seiner Beweglichkeit, Möglichkeit einer Verankerung des Zahnersatzes an ihm) und zum anderen das Prothesenlager (die dem Knochen aufliegende Schleimhaut und den Kieferknochen). Das Prothesenlager weist eine zehnmal höhere Resilienz und Rückstellfähigkeit (Viskoelastizität) auf, als ein Zahn mit physiologischer Beweglichkeit intrudierbar ist (Marxkors 2009). Aufgrund dessen ist eine starre körperliche Fassung von Pfeilerzähnen mit Klammerprothesen, im Gegensatz beispielsweise zu Zahnersatz, der über Doppelkronen verankert ist, häufig nicht zu erreichen. Battistuzzi et al. (1991) weisen darauf hin, dass die möglichen negativen Folgen, die sich aus der Therapie mit einer Teilprothese ergeben, in der Lehre zu wenig Beachtung finden. Viele Studien zeigen, dass durch die Inkorporation einer partiellen Prothese, auch wenn diese richtig konstruiert wurde, Destruktionen hervorgerufen werden können.

      Die möglichen Schäden beziehen sich sowohl auf Pfeiler- und Nachbarzähne. Die Eingliederung von Teilprothesen führt zu einem erhöhten Level an Plaquebefall der Ankerzähne. Weiterhin treten gingivale und parodontale Destruktionen auf. Pfeilerzähne in mit Teilprothesen versorgten Kiefern haben häufig erhöhte Sondierungstiefen. Darüber hinaus können Teilprothesen durch die Pfeilerbelastung zu erhöhter Beweglichkeit an den Pfeilern führen (Goodkind 1973). Daher ist bei parodontal geschädigten Pfeilern, die nach der Behandlung noch eine erhöhte Mobilität aufweisen, eine sekundäre Verblockung durch die Retentionselemente der Teilprothesen sinnvoll. Die sekundäre Verblockung kann unterstützend wirken, eine Mobilität zu verringern (O’Leary et al. 1966). Die Auswirkungen auf die zahnlosen Kieferabschnitte manifestieren sich als Schleimhautveränderungen oder beschleunigte Kieferkammresorptionen. Dies unterstreicht die große Bedeutung, die Mundhygienemaßnahmen und regelmäßigen Nachkontrollen zukommt.

      Kompensationsmöglichkeiten für häufige Schwachstellen im Rahmen einer prothetischen Versorgung ergeben sich auf zwei Ebenen:

       durch die Art der Konstruktion des Zahnersatzes:zum Beispiel maximale Extension der Sättel; bei Freiendprothesen spezielle Abformung der zahnlosen Bereiche („Altered-Cast-Methode“; Marinello 1987)reduzierte Zahnaufstellung im distalen SattelbereichWahl geeigneter Verankerungselemente (sekundäre Verblockung)

       in Form eines gut angelegten Nachsorgeprogramms

       31.4 Die historische Entwicklung des partiellen Zahnersatzes

      (Hoffmann-Axthelm 1985)

      Die Klammerverankerung partieller Prothesen wurde im Wesentlichen erst im 19. Jahrhundert als Alternative zu Wurzelstiftverankerungen und der Befestigung mit Silber- und Golddraht entwickelt. Anfänglich handelte es sich durchwegs um einfache Halteelemente, die Zahnärzte wie J. Gall (1779–1849) und C. F. Delabarre (1787–1862) in großer Vielfalt vorstellten. Die dabei verwendeten Klammern wiesen zunächst noch keine Auflagen auf. Den ersten komplizierteren Halte- und Stützelementen, wie der Stegprothese nach H. A. Parr (1890), dem Kugelgeschiebe nach F. E. Roach (1907) und dem T-Geschiebe nach Stern (1929), folgten im Verlauf des 20. Jahrhunderts weitere starre und bewegliche Verbindungselemente, die zwischen Prothese und Restzähnen angebracht waren. Zu erwähnen sind hier etwa das Ney-Klammersystem (1965), die Konus-Teleskopkronen nach K.-H. Körber (1968) sowie Präzisionsverankerungselemente wie Federn, Gelenke und Geschiebe. Chrom-Nickel-Stahl-Legierungen, das klassische Material für Gerüste von Teilprothesen, wurden in der Zahnmedizin seit 1919 benutzt, als F. Hauptmeyer (1882–1950) die erste Edelstahl-Prothese im Prägeverfahren herstellte. Die Vorteile dieses Materials sind seine Härte, Festigkeit und Korrosionsbeständigkeit. Nach der Entwicklung von verarbeitungsfähigen Kobalt-Chrom-Legierungen Anfang der 1930er Jahre (Vitallium) wurden die geprägten Modellgussplatten aus Chrom-Nickel-Stahl allmählich durch gegossene CoCr-Gerüste abgelöst, die noch heute die Standardversorgung darstellen.

       31.5 Einteilung der Lückengebisse

      Teilprothesen kommen im teilbezahnten Gebiss bei verkürzten und/oder unterbrochenen Zahnbögen (Freiendsituation, Schaltlücke, Kombination aus beiden) als prothetische Therapiemittel zur Anwendung.

      Es ist hilfreich, einen gemeinsamen Sprachgebrauch für die Beschreibung unterschiedlicher Gebisstopografien zu etablieren. Die Teilbezahnung steht entsprechend zwischen Vollbezahnung und Zahnlosigkeit. Teilbezahnte Kiefer können mit Hilfe von Lückengebisseinteilungen weiter klassifiziert werden. Grundsätzlich kommt den Einteilungen der Lückengebisse vor allem eine beschreibende Funktion zu, die der inner- und interprofessionellen Kommunikation dient.

      K.-H. Körber (1995) hat errechnet, dass es theoretisch über 268 Millionen (!) verschiedene Möglichkeiten eines unvollständig bezahnten Gebisses gibt. Schon aus