wir in das Erdgeschoss eintraten, wurde jeder Einzelne untersucht und der Habseligkeiten beraubt, welche uns der Strauchdieb Imboden in Staunton gelassen hatte. Wenn unser Geld nicht verborgen gewesen wäre, so hätten es die raubgierigen Rebellen ohne Zweifel bis auf den letzten Cent genommen. Bei dieser Durchsuchung machten wir die erste Bekanntschaft mit dem berüchtigten und jetzt als Scheusal bekannten Dick Turner und mit Sergeant George. Ersterer zeigte sich sofort in seiner Glorie, indem er sich unterstand, einen Offizier, welcher gegen die Beraubung protestierte, zu schlagen und der Sergeant George benahm sich nicht minder wie ein grober Büttel. Nachdem die Durchsuchung vorüber war, gingen wir in das zweite Stockwerk, wo wir die Offiziere von Streight und Milroy trafen, welche uns mit tausenderlei Fragen bestürmten. Ihre Neugierde war sehr gerechtfertigt, denn die Zeitungen Richmonds waren mit den übertriebensten Nachrichten von Rebellensiegen gefüllt und als jene Offiziere eine so große Anzahl von Gefangenen ankommen sahen, mussten sie vermuten, dass unserer Armee ein Unglück zugestoßen sei. Natürlich waren sie sehr erfreut, als sie die positive Nachricht von Lees Rückzug erhielten. Sie fühlten sich neu belebt, denn sie hatten bereits so viel von der Gastfreundschaft der Rebellen erfahren, dass ihre Stimmung eine keineswegs freudige war. Besonders gegen Colonel Streight und seine Offiziere zeigten die Rebellen eine besondere Schärfe und Bosheit.
Das "Libby" bestand aus drei Stockwerken: Im Erdgeschoss befanden sich die Verwaltung, die sogenannten "Vorratskammern" (in denen sich allerdings kein Vorrat befand) und ein Hospital-Zimmer; im zweiten und dritten Stock waren Säle, ungefähr 20 Meter tief und 15 Meter breit, in welchen früher die Schiffswaren aufgestapelt waren. Jedes Stockwerk hatte drei solcher Säle, welche wir zur Unterscheidung folgendermaßen bezeichneten: Upper West Room und Lower West Room, in welchen sich Milroys und Streights Offiziere befanden, Upper Middle Room und Lower Middle Room, später das Domizil der bei Chickamauga gefangenen Offiziere, sowie Upper East Room und Lower East Room, welche beide uns gehören sollten. Als wir ankamen, war der untere Ostsaal zu Hospitalzwecken eingerichtet, da aber die mittleren Säle zu jener Zeit noch frei waren, so hatten wir in diesen, sowie in dem oberen Ostsaal, welcher der beste von allen war, hinreichenden Platz. Unter dem Erdgeschoss befanden sich kellerartige Räumlichkeiten, welche zu verschiedenen Zwecken benutzt wurden und in welchen sich auch die furchtbaren Zellen befanden, die für alle ein Schrecken waren, die jemals das Unglück hatten, in denselben eingekerkert zu werden. Es waren kleine, finstere Löcher, in denen Ratten und anderes Ungeziefer hausten und die Luft in den Zellen war durch allerhand in Fäulnis übergegangene Gegenstände verpestet, sodass selbst ein kurzer Aufenthalt in diesen Höhlen eine entsetzliche Marter war. Nur ein einziger Mensch hatte seine Freude an den Zellen und das war Dick Turner. Ihm bereitete es höllisches Vergnügen, wenn er wehrlose Leute bei Wasser und Brot in diese finsteren und übelriechenden Räume einsperren konnte, ein Vergnügen, wie es der Sage nach die Teufel an den Qualen ihrer Opfer empfinden.
Die mittleren Räume waren niedriger und düsterer, während die oberen, unmittelbar unter dem Dach, höher und aufgrund einiger Oberlichter heller waren. Fensteröffnungen gab es im "Libby" in genügender Anzahl, aber es waren eben nur Öffnungen; die Rahmen und Glasscheiben waren mit sehr spärlichen Ausnahmen längst verschwunden. Die Treppen, welche die Stockwerke verbanden, waren aus Holz, ohne Geländer und ziemlich steil, wie es in Warenhäusern üblich ist. Das Dach war teilweise schadhaft. Im oberen und unteren Westsaal standen hölzerne Bettstellen, sogenannte "Bunks", während wir in den übrigen Sälen nichts fanden, als die leeren Wände. In jedem Saal war ein hölzerner Trog, in welchem gewaschen wurde. Das Wasser kam mittels einer Röhrenleitung aus dem nahe gelegenen Kanal und war während des Sommers lauwarm und (besonders wenn es geregnet hatte) mit lehmigen Substanzen vermischt und von gelblicher Farbe. Dieses Wasser wurde zum Trinken, Kochen und Waschen benützt.
Wir wählten zu unserem Aufenthalte zunächst den oberen Mittelsaal und den oberen Ostsaal und waren, obschon wir, wie bereits angemerkt, nichts vorfanden, als die nackten Wände, doch froh, nach einem so ermüdenden Marsche eine Stelle gefunden zu haben, wo wir wenigstens vor Sturm und Regenwetter sicher waren. In Zeiten anhaltenden Unglücks und Elends nimmt der Mensch selbst die kleinste, unter anderen Umständen vielleicht nie beachtete Vergünstigung dankbar entgegen. Es war zwar eine traurige Situation, in dieser Bastille angelangt zu sein und in diesen unheimlich leeren und öden Sälen weilen zu müssen, aber wer von uns hätte nicht an einen baldigen Gefangenenaustausch geglaubt? Hätte man uns damals bereits die Gewissheit gegeben, dass der Austausch nur ein Trugbild sei, so würden die Meisten der Verzweiflung nahe gekommen sein, denn wir waren noch nicht vorbereitet, einem solchen Schicksal ruhig entgegenzusehen. Nur allmählich gewöhnt sich der Mensch an das Elend, nur allmählich macht er sich mit dem Gedanken vertraut, dass er das auserkorene Opfer eines bösen Geschickes ist. Besitzt er Humor, so wird er selbst eine lange Periode des Unglücks überdauern, ohne dass der Schmerz seine Seele durchfurche, aber im anderen Falle wird der Gram sich seiner vollständig bemächtigen und unvertilgbare Spuren in seinem Wesen zurücklassen. Elend kann läutern, aber auch die ganze Substanz eines Individuums aufzehren und nichts übrig lassen als Schlacken.
Am Morgen des folgenden Tages hatten wir das Vergnügen, die erste Bekanntschaft mit der Kost des "Libby" zu machen. Dick Turner erschien vorerst in der Eigenschaft eines Herolds, welcher uns ankündigte, dass man etwas Futter für uns bringen werde, eine angenehme Meldung, welche zugleich unsere Neugierde reizte. Was würde es sein, was man uns vorsetzen würde? Kurze Zeit darauf erschienen Neger und brachten etwas Weizenbrot, eine gewisse Menge Rindfleisch und ungefähr ein Dutzend hölzerner, womöglich bereits zu verschiedensten Zwecken benutzter Kübel, in welchen sich ungesalzene Reissuppe befand. Wir mussten gestehen, dass dieses Gericht beinahe unsere Erwartungen übertraf; als es aber zur Austeilung kam, sahen wir deutlich, dass es nicht die Absicht der Rebellen war, uns zu mästen, denn die Portionen waren erstaunlich klein und außer einer zweiten Auflage von Brot am Nachmittag gab es für dieses Mal in unserem Hotel nichts weiter. Am anderen Tage hatten sich die Köche, uneingedenk der Regel, dass Abwechslung ergötzt, nach derselben Speisekarte gerichtet und nur den Unterschied gemacht, dass sie die Suppe übersalzen hatten. Da das Gelieferte nicht im Entferntesten hinreichte, unseren Appetit zu befriedigen, stellte sich folgerecht die Frage: Was soll aus uns werden, wie soll dies enden? Wir sahen uns bereits in Gedanken als totenbleiche Gestalten, als Skelette einherwandeln. "Ich habe Hunger" sagte jeder Einzelne und Hunger war das Echo des allgemeinen Klagerufs. Der Hunger war mit uns, wenn wir uns auf die Dielen legten, um zu schlafen und der Hunger begleitete uns, wenn wir aufwachten. Er war ein schlechter Kamerad, ein unleidiger Störenfried, der sich nicht beschwichtigen ließ und einem die gute Laune verdarb, ein zudringlicher Geselle, dessen Anwesenheit man hasste und den man doch nicht bannen konnte, wenn man sich in unserer Lage befand.
Das Beamten-Personal des "Libby" bestand aus folgenden Individuen: Kommandant war Captain Thomas P. Turner (später Major), in West Point erzogen, mit einem Anfluge von Noblesse, aber Rebell durch und durch und Mitwisser aller Maßregeln, welche die Grausamkeit gegen die Gefangenen diktierte, ein Mensch, der unter der Maske der Artigkeit eine Gesinnung verbarg, welche mit der Humanität wenig oder gar nichts zu tun hatte, als Kommandeur tätig und wachsam, aber als Soldat im Felde soweit uns bekannt, nicht erprobt. Als Adjutant fungierte Lieutenant Latouche, von französischer Abkunft, ein starker, untersetzter Mann, der freundliche Manieren hatte und gerne lächelte, aber doch falsch und tückisch war. Nächst dem Captain Turner war die Hauptperson Richard (gewöhnlich "Dick" genannt) Turner, ein Mann von ungefähr 40 Jahren, schlank und nervig, von mittlerer Größe, mit schwarzem Haar und Bart, dunklen, stechenden Augen und harten, kantigen Zügen, ein Sohn der Sünde selbst, boshaft und tückisch, zum Gefangenenwärter und Büttel wie geboren, ein Mann nach dem Herzen von Jefferson Davis. Als erster Beamter fungierte ein kleiner, drolliger Bursche namens Ross, dessen Vater Eigentümer des Libby-Gebäudes war. Ross schien Rebell zu sein, weil alle Virginier Rebellen waren; er zeigte sich uns gefällig, fand viel Vergnügen an neuen und verschiedenartigen Kleidungsstücken, plauderte gerne und konnte nie mit den "Yankees" fertig werden, welche ihn hänselten und ihm jedmöglichen Schabernack spielten. Sein Hauptgeschäft war, den Anwesenheitsappell abzuhalten, aber dies war für ihn sehr oft die Quelle bitteren Herzeleids, denn trotz zehn-, zwölf- und fünfzehnmaligen Zählens war das Resultat doch ein unrichtiges, was ihn manchmal zur Verzweiflung brachte. Eines Tages rief er nach wiederholt verunglückter Zählung verbittert aus: "Es sind hier mehr als hier sind!" und ein