Dan Campall

Wir in mir


Скачать книгу

      Es kam des Öfteren vor, dass er derartig aufgewühlt war. Einen besonderen Grund dafür musste es nicht geben.

      Umso leichter war es dann, wenn wir uns erst einmal durch seine Emotionen hindurchgekämpft hatten, an die Oberfläche seines Bewusstseins zu treten.

      In den voran gegangenen Jahren hatte er unsere Stimmen durchaus gehört, wenn auch lediglich als Rauschen oder Zischen und dies auch nur, wenn wir uns mit großer Kraftanstrengung darum bemühten, uns ihm kenntlich zu machen. Später dann schien er offener zu werden, erlaubte den Lauten als leises Flüstern zu ihm vorzudringen. Tatsächlich erkannte er zunehmend unsere kleinen Botschaften und wir wussten, dass wir auf dem richtigen Weg waren.

      Das erste Mal, als er uns sehr zaghaft antwortete, hätte sich unsere Brust vor Stolz geschwellt, wären wir körperlich einer solchen habhaft gewesen.

      Wie aus der Ferne vernahm er unsere Rufe nach seinem Namen fast so, als würden sich unsere Stimmen den Weg durch einen dichten Nebel bahnen. Zumindest hatte er uns dies in späteren Jahren so beschrieben.

      Natürlich war er neugierig zu erfahren, was da in ihm vorging, doch die Angst überwog zuweilen. So kam es vor, dass er uns zwischendurch die Pforte zu seinem Geist vor der Nase zuschlug und uns tagelang in eine schmerzliche Isolation verbannte.

      ***

      Im Laufe der Jahre kam in Michael zunehmend der Wunsch auf, wie schon seine Klassenkameraden, über Kinofilme oder Fernsehsendungen reden zu können. Oft wurde er deswegen gehänselt, weil er Superman nicht kannte, nicht wusste, dass der rot bemantelte Mann die Welt errettete oder, dass Roadrunner über die Straßen flitzte, um Wile E. Coyote auszutricksen.

      Nach Schulende war es an diesem Freitagnachmittag besonders schlimm mit dem Hohn. Er wurde von einigen seiner Mitschüler umkreist, dabei sangen sie dumme Reime und schubsten ihn wie eine Pingpongkugel hin und her.

      Butch brach plötzlich durch den Kreis der Kinder, baute sich schützend vor seinem kleinen Freund auf und ein einziger Blick des hünenhaften Jungen reichte schon aus, um die Schar auseinanderzutreiben.

      Auf dem Nachhauseweg beschlossen die Beiden, sich in den nächsten Stunden ins Baumhaus in Michaels Garten zurückzuziehen, damit Butch von den Abenteuern des großen Weltenretters erzählen konnte.

      „Es liegt an unserer gelben Sonne, dass Superman so eine ganz besondere Kraft hat, weißt du?“ Er sah zur gegenüberliegenden Holzwand und betrachtete das Poster, das er vor Tagen bereits dort aufhängt hatte und den imposanten Helden zeigte.

      „Er hat diese Wahnsinnsfähigkeiten, ist unverwundbar, superschnell und superstark. Dann hat er noch ein Supergehör und mit den Augen kann er alles schmelzen. Wenn etwas ohne Blei ist, dann schaut er mit seinem Röntgenblick einfach so durch alles durch!“

      Michael lachte aufgeregt, ergriff den, aus seiner Hose heraushängenden Hemdzipfel und zeigte ihn Butch.

      „Ja klar, der kann auch durch deine Kleider durchsehen und weiß dann die Farbe von deiner Unterhose!“ Sie schrien vor Lachen und wir gackerten in Michaels Brust mit. Alle Informationen saugte unser Wirt in sich auf, bemerkte aber bald, dass er dies alles nicht wirklich würde nachempfinden können, wenn er nur davon hören durfte. Als Michael nun auch erfuhr, dass sein Lieblingsheld fliegen konnte, wünschte er sich nichts mehr, als ihn auf der Kinoleinwand betrachten zu dürfen.

      Nach all diesen Erzählungen warf sich Michael eines Mittags einen Umhang über und rannte wie besessen mit uns durch den Garten. Dabei schwang er mit den Armen auf und ab und ließ das Tuch flattern. Sarah beobachte ihn, fing ihn auf und fragte, welche Bewandtnis dies hätte. Also erzählte ihr Michael vom fliegenden Superhelden. Ihm stiegen Tränen der Freude in die Augen und diese verschleierten uns den Blick auf seine Mutter. Leider sahen wir sie nur noch schemenhaft, ihr Zerren an seinem Umhang jedoch konnten wir umso deutlicher spüren.

      „Nicht das Wissen um fliegende Helden ist es, mein Schatz, das uns zu großen Taten erhebt. Nur der von Gott beflügelte Geist führt dich an die Spitze wahrhaft heldenhaften Tuns!“

      Wie sollte ein kleiner Junge verstehen, was sie damit meinte? Wo er lediglich im Spiel die Welt erretten wollte.

      Michael stand also nur da, bewegte sich nicht, ließ sich von ihr regungslos den Umhang von den Schultern reißen und war erneut den Tränen nahe, diesmal jedoch vor Enttäuschung. Mit einem liebevollen Klaps auf seinen Hintern verschwand die Mutter im Haus und ließ das verwirrte, ernüchterte Kind allein im Garten zurück.

      ***

      Inzwischen war Michael zwölf Jahre.

      Lange bereits hörte er nachts Sarahs Stöhnen, ihr Flüstern und das Reden in monotoner Stimme und niemals hatte er es bislang gewagt, der Sache auf den Grund zu gehen.

      Doch diesmal übermannte ihn die Neugierde und er konnte dem Drang, aus seinem Zimmer zu schleichen, nicht länger widerstehen.

      „Bleib hier! Geh ins Bett und schlaf jetzt“, flüsterte er, doch seine Beine schienen sich von eigenem Willen gesteuert fortzubewegen. Wenige Momente später standen wir mit ihm unter der, einen Spaltbreit geöffneten Schlafzimmertür seiner Mutter. Mit einem Finger drückte sie der Junge weiter auf und starrte ins Innere des Raums. Weiß schimmerte dort die Haut von Sarah im grellen Licht der Nachttischlampe. Schweiß rann an ihrem nackten Rücken herab und rote Striemen überzogen das helle Fleisch. Michael zuckte zusammen, als die Peitsche schnalzte und Sarahs Haut beleckte. Über ihre Lippen ging ein Stöhnen und die Bitte um die Gnade Gottes und nochmals hob sie den Arm, um sich einen Streich mit dem Leder zu geben. Der schiere Anblick ihres zitternden Leibes ließ selbst bei uns die schwache Neigung von Mitleid zu und wir konnten erahnen, wie sich Michael fühlen musste.

      Er legte sich die Hand auf den Mund, zog sich aus dem Raum zurück und setzte dabei wie im Traum einen Fuß vor den anderen, um diese schrecklichen Geschehnisse hinter sich zu lassen.

      Allmählich spürten wir den Schmerz in seiner Brust, darum geleiteten wir ihn besorgt ins Bett und leisteten ihm Trost.

      Ja, hier waren wir nun also, stärker denn je, in dieser, unserer Sternstunde, schälten uns aus dem schemenhaften Schattendasein hervor und drangen ein in eine reale Daseinsform.

      Endlich hast du uns die Tür zu deiner Seele geöffnet! Sprachen wir im Chor, als wir spürten, dass er sich wieder etwas gefangen hatte.

      „Ja, jetzt hab ich euch reingelassen“, flüsterte er nur und legte sich ruhig atmend in sein Kissen zurück, um in einen wohltuenden und heilsamen Schlaf zu fallen.

      Seit dieser Nacht waren wir immer bei ihm, weil er nicht länger versuchte uns zu ignorieren, selbst wenn er hin und wieder gezwungen war, uns in unserem Übermut in die Schranken zu verweisen. Denn, wie aus dem Nichts kam es durchaus vor, dass wir uns untereinander zankten, oder auch wild durcheinander brüllten, wenn Michael Ärger mit einem Klassenkameraden hatte. Unsere Ratschläge hätten für manch einen etwas übertrieben anmuten können, das ist uns durchaus bewusst, doch schienen uns diese mehr als angemessen, wenn wir Michael aus seinem Innersten zuriefen:

       Zermalme sein Gesicht!

      Weil Timothy soeben versuchte, ihm die Vesperbox zu entreißen.

      Oder: Schubs Patrick vom Stuhl!

      Weil dieser Michaels sauber geführtes Hausaufgabenheft verunstaltet hatte.

      Butch jedoch war meistens schnell zur Stelle und übernahm die Bestrafung dieser Kinder, so dass unser kleiner Schützling erst gar nicht zu handeln brauchte.

      Inzwischen erhielten wir alle eigens von Michael ausgesuchte Namen, denn auf seine Frage hin, wie wir denn heißen, schwiegen wir uns aus. Wir wollten ihn nicht gleich zu Beginn der heranwachsenden Vertrauensbasis, verschrecken.

      Insgesamt machte er sieben von uns aus. Also benannte er uns kurzerhand Doc, Happy, Sleepy, Sneezy, Bashful, Grumpy und Dopey nach den „Sieben Zwergen“, weil diese schon immer seine Lieblingsmärchenfiguren gewesen waren. Mit Ausnahme dieses