„Was redest du da?“, wollte sie wissen und schüttelte den Kopf.
„Ich rede davon, dass ich hier derjenige bin, der von seinem Wolf kontrolliert wird, nicht ihr! Ich muss damit umgehen und ich gebe verflucht noch mal mein Bestes! Aber trotzdem bekomme ständig ich die Rügen! Ständig heißt es, ich wäre derjenige, der sich nicht zurückhalten kann! Dabei war sie es, die am See zu mir gekommen ist! Sie hat mich angemacht, obwohl ich wirklich versucht habe, auf Abstand zu bleiben! Sie kam und kommt immer wieder zu mir! Sie will nicht einsehen, dass wir nicht so leben wie die Azur und dass sie alles kaputt machen könnte, was wir für sie getan haben! Wir reißen uns unsere verdammten Ärsche für die auf und was bekommen wir dafür? Ich für meinen Teil habe bisher nichts als Arschtritte von jedem und noch dazu ein blaues Auge von meinem eigenen Bruder wegen der bekommen!“
„Ryan“, hauchte seine Mum betroffen, als er endete und sich abwandte. „Mein Schatz, bitte. Siehst du das wirklich so?“
Er drehte sich ruckartig wieder zu ihr und funkelte sie böse an. „Du nicht? Denk mal drüber nach!“ Er spürte seine Gestalt beben und seinen Wolf in sich aufsteigen, doch er rang ihn nieder.
„Es tut mir so leid, mein Schatz!“ Charlotte fasste erneut seinen Arm, doch Ryan entzog sich ihr. „Bitte sag, was wir tun können.“
„Nichts“, brummte er.
„Es muss doch was geben. Wir reden mit Amber. Sie muss verstehen, dass sie mitmachen muss. Sie ...“
„... wird nicht mitmachen“, unterbrach er seine Mum und sah sie wieder an. „Ich habe mit ihr gesprochen, auf der Hochzeit. Bain und Adrian haben ihr die ganze Zeit davor schon ins Gewissen geredet und trotzdem hat sie mir klargemacht, dass sie nicht mitmachen wird. Sie hat bekommen, was sie wollte. Sie ist die Einzige hier, die es bekommen hat.“
„Mein Schatz ...“
„Nein, Mum. Ich mach das hier allein fertig“, ließ er sie wissen und nickte zum halb fertig bezogenen Bett.
Sie presste traurig die Lippen aufeinander, ließ den Kopf sinken und ging. Ryan seufzte, als die Tür leise ins Schloss fiel. Er atmete tief durch und der Geruch von Frühlingsmorgen stieg ihm in die Nase. Der Geruch, der ihn als Kind schon immer beruhigt hatte. Der ihm immer ein Gefühl von Geborgenheit und Zuhause gegeben hatte. Der ihn getröstet hatte. Gerade tat er es nicht.
Er spürte seine Augen brennen und kniff sie zusammen, damit die Tränen sich nicht lösten. Ein Abend, ein Geruch, eine verhängnisvolle Entscheidung und nun stand er hier. In seinem Zimmer, im Haus seiner Familie, doch er fühlte sich hier so wenig wohl, wie nie zuvor.
Kein kompletter Vollmond
Spät am Abend musste Ryan doch noch in sein Zimmer im Haupthaus. Er brauchte frische Sachen und hatte nur dort welche. Ohne den Blick zu heben, betrat er den Flur und setzte gerade einen Fuß auf die erste Stufe nach oben, als sein Dad ihn rief.
„Ryan, komm bitte. Wir wollen einen Rat abhalten.“
Wortlos ging er ins Wohnzimmer und ließ sich neben Rahel auf dem Sofa nieder. Er spürte einige Blicke auf sich, ließ seinen aber auf seine Hände gesenkt.
Tavis sprach: „Wir wollten euch heute alle versammeln, um kurz zu besprechen, wie es jetzt weitergeht. Im Grunde ändert sich nichts. Wir können ab sofort weiterleben wie vor alldem.“ Er machte eine Pause und Ryan spürte förmlich, dass sein Dad auf ein Pff von ihm wartete, doch er schwieg weiterhin. Der Alpha fuhr fort: „Wir haben mit Amber ein neues Familienmitglied und da in zwei Nächten Vollmond ist und sie diesmal mit uns läuft, werden wir noch ein bisschen was erklären müssen. Den Ablauf, die Regeln und so weiter.“
Als würde sie sich dran halten, dachte Ryan spöttisch. Wieder entstand eine kurze Stille, in der er diesmal von untenher den anderen einen Blick zuwarf. Ausnahmslos alle schauten zurück, als warteten sie auf irgendeine Reaktion von ihm. Sein Blick wurde fragend und er breitete die Hände im Schoß aus, als wolle er wissen, was sie wollten.
„Wir haben das Schlimmste überstanden“, hielt nun Charlotte fest und ihr Blick war ein wenig um Verständnis bittend, als er Ryan traf. „Ab jetzt wird alles wieder normal und ihr werdet sehen, dass sich nichts geändert hat.“
Wieder ergriff Tavis das Wort. „Die letzten Wochen waren turbulent und nervenaufreibend. Für jeden von uns. Wir haben Kaya verloren und wir müssen mit ein paar Dingen zurechtkommen, die neu sind. Aber es steht nach wie vor nur das Wohl unseres Rudels - unserer Familie - an erster Stelle.“ Er schenkte jedem ein aufmunterndes Lächeln. „Ich bin ebenfalls sicher, wenn sich alles beruhigt hat, werden wir auch Kaya wieder überreden können, zurückzukommen.“ Nun blieb sein Blick bei Ryan.
Denkt er etwa, das würde mir helfen? Ryans Blick wurde ungläubig, doch er sagte noch immer nichts. Im Stillen wartete er darauf, dass jemand Amber ansprach und sie offiziell noch mal darauf aufmerksam machte, was ihr Verhalten betraf. Doch wieder bekam nur er Blicke zugeworfen, während das Azurmädchen schweigend neben Evan saß und das Geschehen verfolgte. Am liebsten wäre Ryan aufgesprungen und hätte sie an den Pranger gestellt, doch was würde es nützen?
Am Ende würden alle wieder nur sagen, er solle sich beruhigen und er solle klarkommen. Und plötzlich war er nur noch wütend auf Amber. Weil sie so unschuldig dasaß und keiner ihr die Meinung geigte. Sie tat immer so harmlos und unwissend. Sie sah aus, wie das kleine Mädchen, das einem an der Tür mit einem verschmitzten Lächeln Kekse verkaufte. Doch sie war, was man stille Wasser nannte. Und die konnten bekanntlich tief und verdammt dreckig sein.
Es war zum Verrücktwerden. Ryan wollte sie haben. Er wollte sie! Und zeitgleich hasste er sie so dermaßen, für das, was sie ihm antat, dass er alles getan hätte, um sie aus seinem Leben zu verbannen. Feuer und Wasser. Plus und Minus. Luft und Vakuum. Das war Amber.
Von diesem ganzen Gefühlschaos ließ Ryan nichts nach außen dringen. Er warf dem Azurmädchen nur einen Blick zu, senkte ihn dann wieder auf seine Hände und schwieg wie zuvor schon. Niemand würde sie rügen.
Wenig später legte Evan ihm die Hand auf die Schulter und warf ihm einen fragenden Blick zu. Ryan schaute auf, schüttelte aber nur den Kopf. Er hatte nicht viel vom restlichen Gespräch mitbekommen, doch es war auch sicher nichts Wichtiges dabei gewesen.
Eine andere Hand fuhr ihm durchs Haar und Rahel gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Gute Nacht“, wünschte sie ihm leise und Ryan brummte ebenso leise als Antwort, dann erhob er sich.
„Ry? Bier?“, fragte Xander, der schon auf dem Weg in die Küche war.
„Nein. Ich bin müde“, log er und wandte sich zur Treppe. Wieder hatte er gerade einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als diesmal Evan ihn rief.
„Gehen wir morgen in den Club?“, fragte er und kam um das Sofa herum auf ihn zu.
„Kein Bock.“
Evan atmete hörbar durch. „Ry, komm schon. Wie lange willst du das durchziehen?“
„Was ziehe ich denn durch?“
„Deine Laune?“, fragte sein Bruder zurück und zog die Brauen hoch.
„Stört sie dich etwa?“, stellte Ryan erneut eine Gegenfrage und hörte seine Stimme grimmig werden.
„Es ändert nichts, wenn du so drauf bist“, meinte Evan und hob ratlos die Hände. „Komm, kleiner Bruder. Lass uns da weitermachen, wo wir aufgehört haben, bevor das alles passiert ist.“
Ryan verengte die Augen, nahm den Fuß von der Stufe und wandte sich Evan komplett zu. „Sollen wir das? Wie stellst du dir das denn vor?“, fragte er gereizt.
„Lass uns jagen gehen und laufen. Lass uns oben Bier trinken und Musik hören. Lass nicht zu, dass sich was zwischen uns stellt.“
„Zu spät“, sagte Ryan knapp, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte an Evan vorbei zu Amber. Dann schaute er seinem großen Bruder wieder direkt in die Augen.