Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Hel


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und versuchte unter dem Lichtkegel des Schwertes zu erkennen, was Juli in Panik versetzte. Dann schnappte sie nach Luft. Sie hatten schon lange das Gefühl, dass das Eis dünner würde, jetzt endete es jedoch abrupt und gab den Blick auf einen schroffen Felsweg frei, der wenige Meter später in einen Schlund mündete.

      „Bremsen, bremsen, bremsen!“, schrie Juli.

      Hektisch griff Thea in ihre Tasche, warf das Pulver, um erneut Fehu hinein zu malen, aber es war zu spät! Juli traf auf den Felsenweg, wurde von der rauen Oberfläche gebremst und schlug hilflos vornüber. Auch Thea wurde von der Kraft gepackt und rollte über ihre Schulter nach vorn. Sie hörte ihren Umhang reißen, als er an einem Felsvorsprung hängen blieb. In einem Reflex ließ sie Kyndill los, drehte sich und packte den Stoff mit beiden Händen, am Kragen, ehe sie sich an ihrem eigenen Umhang erhängen würde. Ein Schmerz fuhr ihr durch die Schulter, als Tom über sie fiel. Dann verlosch Kyndill. Thea hörte Juli schreien und gleich darauf Tom, der sie beschwor, sich festzuhalten. Hektisch rappelte sich Thea auf, löste ihren Umhang und tastete den Boden nach Kyndill ab. Kaum hatte sie die Waffe gefunden, erkannte sie die Lage, in der ihre Freunde steckten. Juli hing von Tom gepackt halb über dem Abgrund. Mit letzter Kraft stemmte er seine Füße gegen den Felsboden. Thea hastete vor und packte Julis linken Arm. Gemeinsam zogen sie Juli zurück auf den Vorsprung. Während Juli erleichtert aus der Gefahrenzone krabbelte, warf Thea einen Blick hinab. Das Felsloch reichte ungefähr fünfzig Meter in die Tiefe. Etwa im selben Abstand warf Gjöll seine Wassermassen auf, die sich brodelnd und schäumend zu Wellen auftürmten. Feiner Nebel waberte auf dem Fluss.

      „Verdammt und eins, nächstes Mal sollte Hermodr gucken, wohin die Wege führen, auf die er uns schickt!“, ächzte Juli.

      „Sagt ausgerechnet die, die sich als Erste in den Abgrund gestürzt hat“, erwiderte Tom trocken.

      „Du nimmst mir die Worte von den Lippen“, stimmte Thea zu.

      Achtsam rückte Juli vor und äugte in die Tiefe. „Und jetzt?“

      „Ich weiß nicht. Es sieht so aus, als würde die Öffnung mitten über dem See liegen“, raunte Thea.

      Tom rümpfte die Nase. „Runter kommen mag einfach sein, aber wie sollen wir später nur zurückkommen?“

      „Darüber sollten wir uns erst den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist. Wir müssen Skidbladnir irgendwie zu Wasser lassen, ansonsten können wir gleich umkehren und ich habe offen gestanden keine Lust, den ganzen Weg zurückzugehen.“

      Tom lächelte. „Vor allem würden wir wahrscheinlich so lange dafür brauchen, dass uns Wal-Freya sofort wieder runter schickt.“

      „Nicht auszudenken“, grunzte Thea.

       Juli blickte sich um. „Wir werden Skidbladnir hier niemals auseinanderfalten, geschweige denn es durch die Öffnung stecken können.“

      Nickend seufzte Thea. Noch immer kniete sie vor dem Rand und sah hinab. „Es führt kein Weg dran vorbei, wir müssen runter klettern.“

      Tom schnappte nach Luft. „Was? Ohne Seil? Das sind doch bestimmt vierzig Meter!“

      „Eher fünfzig“, korrigierte Juli.

      „Das ist wahnsinnig!“

      Juli schürzte die Lippen. „Absolut, aber viele Lösungen werden sich nicht ergeben.“

      Thea erhob sich. Sie lief zu ihrem Umhang und befreite ihn aus dem Felsen. Dann steckte sie Kyndill in die Scheide und schloss den Umhang um ihre Schultern. Ohne Kyndills Flammen lag die Höhle in Finsternis. Es dauerte eine Weile, ehe sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Im fahlen Licht, welches aus der Öffnung drang, starrten sie durch den Nebel auf den Gjöll.

      „Kannst du nicht wenigstens ein Seil herzaubern?“, fragte Tom.

      Thea lachte. Sarkastisch erwiderte sie: „Ich.“

      „Klar! Warum nicht.“

      „Weil ich nicht einfach irgendwas aus dem Nichts erschaffen kann. Man bedient sich der eigenen Energien und wenn man es kann, den Energien aus der Umgebung“, erklärte Thea.

      Erneut war es Juli, die unerwartet zum Abgrund kroch und ein Bein über den Rand setzte. „Du hättest doch besser ein paar Stunden mit mir in der Kletterhalle verbracht, statt die ganze Zeit vor dem Computer zu hocken, oder dieses Escrima zu machen“, neckte sie Tom.

      „Vielleicht sollten wir das erst durchdenken, ehe du wieder voranpreschst“, erwiderte Tom scharf.

      „Außerdem gehe ich vor!“, beharrte Thea.

      Juli schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Die Frau mit der Höhenangst will zuerst! Ich lache! Vergiss nicht, ich habe Skidbladnir, Liebes. Im Übrigen wird mir viel wohler sein, dich im Rücken zu haben. Wenn ich falle, kannst du irgend so einen Schnickschnack zaubern. Ich klettere bis zum Rand und falte Skidbladnir dort auseinander. Bei Thor und Wal-Freya hat es ziemlich leicht ausgesehen. Dann lasse ich es los und wir müssen alle gleichzeitig versuchen drauf zu springen. Schaffst du das?“ Thea nickte und Juli presste entschlossen die Lippen zusammen. „Sollte etwas krumm laufen, hoffe ich, dass dir Wal-Freya genug gelehrt hat, um uns zu retten.“

      Tom zögerte. Als sich Juli schon fast zur Hälfte vorgearbeitet hatte, saß er wie erstarrt vor dem Abgrund. Thea, die Juli ein Stück gefolgt war, forderte ihn auf, endlich nachzukommen. Erst nachdem ihn Juli daran erinnerte, dass er nicht derjenige mit Höhenangst sei, setzte er sich in Bewegung.

      Vorsichtig arbeitete sich Thea hinab. Sie hatte beschlossen, nicht darüber nachzudenken, wo und in welcher Höhe sie sich gerade befand. Stück für Stück suchte sie nach guten Griffen, prüfte jeden Tritt, ehe sie sich weiter wagte. Bald brannten ihre Waden und Unterarme. Sie versuchte den Schmerz wegzuschütteln und machte die Arme an ihrem Halt immer wieder lang. Fünfundsiebzig Meter über einem reißenden Fluss die Kraft zu verlieren, würde schlecht ausgehen! Immerhin war die Wand zerklüftet genug, um breite Tritte und Griffe zu finden und sie bot Plätze zum Ausruhen.

      Irgendwann traf sie auf Juli. Sie stand auf einem winzigen Vorsprung. Stolz lächelte sie Thea an.

      „Geschafft“, sagte Thea erleichtert. Sie rief es fast, denn der tosende Gjöll verschluckte nahezu jedes Wort.

      Etwa fünf Minuten später kam Tom schnaufend und schwitzend bei den Mädchen an.

      „Ganz ehrlich!“, keuchte er zur Begrüßung. „Ich hatte nie in meinem Leben solche Angst. Da kämpfe ich lieber gegen einen Grendel.“

      Juli kicherte. „Aber das hier hast du viel besser gelöst als den Kampf gegen den Grendel.“

      Schmunzelnd streckte Tom die Zunge raus. „Kümmere du dich mal um dein Schiff. Ich kann mich kaum noch halten!“

      Juli nickte. „Ich muss mich umdrehen. Es wäre sehr beruhigend für mich, wenn mich jemand festhalten kann.“

      „Zaubere sie fest, Thea“, scherzte Tom.

      „Untersteh’ dich!“, mahnte Juli sofort. „Du zauberst nur im Notfall!“

      Thea lächelte. „Ich halte dich.“ Sie kletterte ein Stück zu ihr, stellte einen Fuß auf dem Vorsprung ab und suchte einen bequemen Griff. Dann packte sie ihre Freundin am Kragen, die sich vorsichtig auf der Felsnase umdrehte. Thea hatte das Gefühl, Julis Herzklopfen bis in ihren Fingerspitzen zu spüren.

      „Lass mich nur nicht los“, keuchte Juli. Sie holte das Pergament hervor und schlug es mehrmals auf. Dabei wurde ihr Blick mit jedem Arbeitsschritt fröhlicher. „Es ist tatsächlich ganz leicht!“, verkündete sie. Begleitet von ‚Wuuuhuuus’ und Wooohuuus’ faltete sie Skidbladnir Stück für Stück auf, bis sie es schließlich komplett in der Hand wog. „Wie eine Feder“, sagte sie fasziniert.

      „Dann bring die Feder mal zum Fliegen“, erwiderte Tom.

      Beunruhigt sah Juli zu Thea, die sofort wusste, welche Sorge ihre Freundin plagte.

      „Schaffst du das? Du darfst auf keinen Fall zögern!“