Hildegard Grünthaler

Die Beschwörungsformel


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hätte man meine Flasche in eine Truhe oder Kiste gepackt, so finster ist es rings um mich. Nicht der geringste Lichtschein dringt in mein Gefängnis. Ach, wie oft bin ich wohl samt meiner Flasche, in Packen und Körben verstaut, schon in der Welt herumtransportiert worden? Auf rumpelnden Eselskarren und auf dem schaukelnden Rücken von Kamelen! Früher konnte ich noch alles verstehen, was draußen gesprochen wurde. Ich habe gehört, was ringsum geschah, habe mit angehört, wie die alte Königsamme jenem fremden Händler einen ganzen Beutel voll Gold mitgegeben hat – nur, damit er mich an den Rand der Welt bringt. Längst sind seine Gebeine in der Wüstensonne ausgebleicht und zerfallen, weil er wegen des Goldes von Räubern ausgeraubt und erschlagen wurde. Ich konnte ihm nicht helfen, musste hilflos zuhören. Sie haben sein Gold an sich genommen und all seine Habe - und meine Flasche natürlich auch. Kostbare Öle haben sie in der Flasche vermutet. Lange haben sie sich mit dem Pfropfen abgeplagt und schließlich vor lauter Wut versucht, das Glas zu zerschlagen.« Kalatur seufzte in seinem Gefängnis ungehört vor sich hin. »Ach, ich habe auch aufgehört zu zählen, wie oft Menschen versucht haben, die Flasche zu öffnen. In allen nur erdenklichen Sprachen haben sie gesprochen, und ich bin immer weiter transportiert worden – bis nach Ägypten. Lange, lange Zeit muss meine Flasche dann in irgendwelchen Ecken oder Kisten herumgelegen haben, und nur ab und zu hat sich jemand vergeblich mit dem Pfropfen abgemüht. Und dann bin ich ganz plötzlich wieder weitertransportiert worden. Es muss ein seltsames, gefährliches Tier gewesen sein, auf dessen Rücken man mich samt meiner Flasche geladen hat. Es schaukelte nicht wie die Kamele, sondern rumpelte und dröhnte ganz fürchterlich. Und weil ich die Stimmen der Menschen nur noch als leises, unverständliches Murmeln vernehmen kann, weiß ich weder, wie das Tier hieß noch wo ich jetzt bin.« Kalatur drehte und kringelte sich. »Wenn ich nicht bald aus dieser Flasche herauskomme, ist es aus mit mir«, stöhnte er.

      6. DIE BEFREIUNG

      Zorro hatte dösend auf seiner Decke gelegen. Nun hob er den Kopf, stellte die Ohren auf und knurrte. »Sei still«, befahl Philipp, »ich hab eine grässliche Hausaufgabe auf und muss meine grauen Zellen anstrengen!« »Dear Mark,« hatte er bis jetzt in sein Heft geschrieben. »I spent my Easter holydays in …« Suchend blätterte Philipp im Wörterbuch. »Aha, ›Marokko‹ heißt auf Englisch ›Morocco‹. Für diese verflixte Hausaufgabe muss ich ganz bestimmt noch tausend Wörter nachschlagen«, schimpfte er. - Zorros Knurren steigerte sich zu einem dunklen Donnergrollen.

      »Ich hätte dich mit in die Schule nehmen sollen, damit du unseren Mr. Bean anknurrst. So eine Schnapsidee von dem: ›Stellt euch vor, ihr hättet einen Brieffreund in London. Schreibt ihm, wie ihr eure Osterferien verbracht habt!‹ Also ganz ehrlich, wenn ich bei dir zu Hause geblieben wäre, hätte ich mich leichter getan: ›Ich ging jeden Morgen mit meinem Hund Gassi und spielte nachmittags mit meinen Freunden Fußball.‹ Punkt und fertig! Das hätte ich ganz schnell übersetzt. Gut, was ›Gassi gehen‹ auf Englisch heißt, weiß ich auch nicht. Aber zwei Wochen mit dem Bus durch Marokko – Fes, Rabat, Marrakesch – immer mit einem abgehalfterten Pauker im Nacken und einer Großmutter, die auf jedem Markt einkauft wie eine Wilde – Lederbeutel, Silberarmbänder, alte, blaue Glasflaschen – das wird ein endlos langer Brief! Aber warum erzähl ich dir das alles? Du bist ja nur ein dummer Hund und versteht nichts von dem, was ich dir sage!« Zorro war von seiner Decke aufgesprungen. Sein schwarzes Fell sträubte sich, und mit hochgezogenen Lefzen fletschte er drohend die Zähne.

      »He, war nicht so gemeint«, witzelte Philipp, »du bist selbstverständlich der klügste und schlauste Hund, den ich kenne. Aber bei dem blöden Brief kannst du mir leider nicht helfen!« Philipp stemmte den Ellbogen auf den Schreibtisch und stützte den Kopf ab. »Also, ich schreibe am besten, dass wir bis nach Agadir geflogen und dann mit dem Bus gefahren sind, dass wir viele Moscheen besichtigt haben ... Was heißt wohl Moschee auf Englisch?« Philipp griff wieder nach dem Wörterbuch und blätterte. »K, l, m ...«, murmelte er vor sich hin, »mo... – Morphium, morsch, Mörser, Mörtel ...«, suchend fuhr er mit dem Finger über die Zeilen. »Verflixt nochmal Zorro, warum bellst du das Regal an? Sei endlich still!« Zorro hörte auf zu bellen und verlegte sich wieder auf sein dumpfes Grollen. »‹Mosque‹ – ich hab’s gefunden. Moschee heißt ›mosque‹! Philipp notierte es auf einem Schmierblock. Zorro sprang mit wütendem Gebell vor dem Regal in die Höhe. »Zorro, du führst dich auf, als wenn sich des Nachbarn fetter Kater in meinem Regal versteckt hätte! Oder ist es am Ende die Flasche, die dich so aufregt?« Philipp hatte den Stift beiseitegelegt und war von seinem Schreibtisch aufgestanden. Einen kurzen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als hätte die blaue Glasflasche, die seine Großmutter nicht mehr hatte haben wollen, violett geschimmert. »So ein Quatsch«, sagte er und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Aber das könnte ich übrigens auch schreiben: ›Meine Großmutter kaufte eine alte, blaue Flasche. Leider konnten wir den Pfropfen nicht öffnen.‹« In diesem Moment kam Philipp eine zündende Idee: »Mensch, wir haben doch ›ne Bohrmaschine! Die kleine, handliche Akkumaschine, die mein Vater neulich gekauft hat. Damit könnte ich es mal probieren!« Im nächsten Moment war er aufgesprungen und hatte die verflixte Hausaufgabe vergessen. Er schnappte sich Oma Webers Souvenir aus Marrakesch, das er auf eines der oberen Borde in seinem Regal gestellt hatte, und stieg die Kellertreppe hinunter. Zorro rannte mit wütendem Gebell hinter ihm her.

      »Komisch«, dachte sich Philipp, »bisher ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass die Flasche in verschiedenen Farben schimmert. Jetzt sieht sie beinahe rot aus. Wird wohl an der neuen Leuchtstoffröhre liegen, die mein Vater neulich in seiner Kellerwerkstatt installiert hat.« Philipp suchte sich aus Vaters Bohrern einen passenden aus und spannte ihn ins Bohrfutter der Bohrmaschine, während Zorro unablässig knurrte und bellte.

      »Mist«, schimpfte er, »Ich kann die Maschine nicht mit einer Hand halten. Was mach ich jetzt? Ich weiß es - ich spanne die Flasche in den Schraubstock. Das Glas ist ja so dick, das geht bestimmt nicht kaputt!« Vorsichtshalber wickelte er die Flasche in ein altes Handtuch, bevor er langsam und vorsichtig die Backen des Schraubstocks zudrehte.

      »Jetzt sieht die Flasche auf einmal grün aus«, fand Philipp. »Das kommt wohl vom Handtuch. Das ist auch grün.« Mit beiden Händen fasste er die Bohrmaschine und setzte den Bohrer am hartnäckigen Pfropfen an, aber die Flasche begann zwischen den Backen des Schraubstockes zu rutschen. Philipp legte die Bohrmaschine auf der Werkbank ab, drehte den Schraubstock noch ein wenig fester – und plötzlich zerbarst die Flasche mit einem ohrenbetäubenden Knall!

      Philipp stand vor Schreck wie gelähmt. Weißer Rauch erfüllte den Raum und sank nun langsam zu Boden. Zorro, der aufgehört hatte zu bellen, stand mit eingezogenem Schwanz in der Tür und jaulte. Der weiße Rauch schwebte über dem Fußboden, bildete einen Kringel und zerfloss wieder. »Was ist das?«, schoss es Philipp durch den Kopf. »Giftige Dämpfe? Säure? Gas?« Aber der Rauch war geruchlos. Er kringelte sich, floss wieder auseinander, kringelte sich von Neuem. Mit einem Mal wurde der Kringel kraftvoller, wirbelte schneller und schneller, bis er aussah wie eine Windhose. Unfähig sich zu rühren, starrte Philipp auf das seltsame Schauspiel. Plötzlich wurde der Rauch dichter und formte sich zu einer menschlichen Gestalt. Philipp wollte schreien, öffnete den Mund, aber der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Zorro machte einen Satz nach vorne. Mit wütendem Kläffen sprang er an der Gestalt hoch, wollte sie mit seinen Zähnen packen - doch im gleichen Augenblick zerfiel die Gestalt wieder zu weißem Rauch. Winselnd wich Zorro zurück, während der Rauch sich wieder über den Fußboden kringelte, erneut zu wirbeln begann und wieder zerfloss.

      Kalatur kämpfte einen schier aussichtslosen Kampf. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, seine Energie zu konzentrieren, würde sie immer weiter auseinanderfließen. Es wäre sein Ende, er könnte sich unmöglich erneut materialisieren. Wäre das schwarze Tier nicht gewesen, hätte er es längst geschafft. Aber der Angriff hatte im sensibelsten Moment seine Konzentration gestört. Wie viele Jahrtausende hatte er auf den Augenblick seiner Befreiung gehofft, hatte sich vorgestellt, wie er durch den Flaschenhals nach oben strömen würde – aber mit dem Zerbrechen der Flasche hatte er nicht gerechnet. Unvorbereitet war seine Energie auseinandergeströmt, die durch die lange Gefangenschaft immer schwächer geworden war. Aber jetzt, jetzt musste er es schaffen! Seine Energie zentrierte sich, wirbelte aufwärts – und Kalatur fühlte, wie er wieder Gestalt annahm …