Hildegard Grünthaler

Die Beschwörungsformel


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an der Decke festgemacht und warf ihr Licht auf allerlei seltsame Dinge, die an den Wänden des Raumes aufgereiht waren. In der Türöffnung lauerte das schwarze Tier. Es sah aus wie ein Wolf, bellte und knurrte aber wie ein Hund. Wieder setzte es zum Angriff an, aber wie er es von Hunden gewöhnt war, wich es auch diesmal winselnd und mit eingezogenem Schwanz zurück. Neben dem schwarzen Tier stand ein merkwürdiger Junge mit goldgelben Haaren. Er trug ein buntes Obergewand, das mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt war und seine Beine steckten in eigentümlichen blauen Röhren. Der Junge starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Kalatur war noch schwach. Um jede weitere Attacke im Vorfeld abzuwehren, fuhr er den Jungen mit seiner dröhnenden Stimme an:

      »Weh dir, du Elender, du hast meine Wohnung zerstört!«

      Der Junge hatte zwar sichtlich Angst, ließ sich aber doch nicht so einfach einschüchtern.

      »Na hör mal«, protestierte er mit einer Stimme, die nur ganz leicht zitterte, »ich hab dich befreit! Du warst eingeschlossen – wahrscheinlich schon ziemlich lange. Du solltest mir nicht drohen, sondern dankbar sein! Wer bist du überhaupt?«

      »Ich bin Kalatur, der Geist des Rauches!«, antwortete er, ohne zu dröhnen, und mit deutlich milderem Ton. Er fand, dass der Junge im Grunde durchaus Recht hatte.

      »Hi, Kalatur«, sagte der Junge, so, als ob er jeden Tag mit Rauchgeistern zu tun hätte, »ich bin Philipp, Philipp Baumann.« Aber das leichte Zittern war noch immer in seiner Stimme.

      »Und was ist das für ein wildes Tier neben dir?«

      »Das ist Zorro. Er ist kein wildes Tier, sondern ein Belgischer Schäferhund!«

      »Du bist also ein Schafhirte!«, stellte Kalatur fest.

      »Nein, wir haben keine Schafe. Ich gehe noch zur Schule, und Zorro muss auch keine Schafe hüten. Wir haben ihn nur so, weil wir ihn mögen!«

      Der Junge, der den eigenartigen Namen Philipp trug und so absonderlich aussah, gefiel Kalatur, aber er war der Meinung, dass er keine Schwäche zeigen durfte. »Wenn du mir eine neue Wohnung besorgst, wird dir nichts geschehen!«, sagte er, und ließ seine Stimme wieder ein wenig dröhnen.

      »Wenn es weiter nichts ist«, beeilte sich der Junge zu beschwichtigen, »eine Flasche findet sich schon irgendwo!«

      »Ich will keine Flasche, sondern eine Kalebasse!«

      »Eine Kalebasse? Meinst du so einen langen ausgehöhlten Kürbis? So etwas habe ich nicht, und ich weiß auch nicht, wo ich so etwas auftreiben könnte. Und außerdem – du hast ja bis jetzt auch in einer Flasche gewohnt!«

      »Die Flasche war mir zu eng. Kalebassen sind bequemer!«, antwortete Kalatur mit verstärktem Dröhnen.

      »Deine Flasche war ja auch sehr klein, es gibt doch viel größere, die sind auch bequem!« Die Stimme des Jungen begann wieder merklich zu zittern. »Ich zeig dir eine!«

      Der Junge Philipp drehte sich um, verließ den hellen Raum, und urplötzlich war auch der Nebenraum so hell, als ob darin die Sonne schiene. Als Kalatur dem Jungen folgte, beugte der sich gerade über einen großen Korb und murmelte erschrocken vor sich hin: »So ein Mist, ich musste ja gestern alle leeren Flaschen zum Altglascontainer bringen!« Kalatur verstand nicht, was er damit meinte, aber im nächsten Moment hielt Philipp ein schmales, grünes Ding hoch und sagte: »Im Augenblick habe ich allerdings nur die hier. Sie hat eine sehr moderne Form. Da war Olivenöl drin!«

      »Die ist ja eckig! Darin kann ich meine Energie nicht konzentrieren! Wenn du mir nicht bald eine neue, passende Wohnung besorgst, ergeht es dir schlecht!«, drohte Kalatur. Der Junge, der ohnehin schon eine außergewöhnlich helle, blasse Haut hatte, wurde noch blasser.

      »Keine Sorge, Flaschen gibt es zur Genüge. Ich glaube, in der Küche steht noch irgendwo eine halbe Flasche Orangensaft rum.«

      Kalatur folgte dem blasshäutigen Jungen und dem schwarzen Hund über Stufen nach oben in die Küche. Es war eine seltsame Küche, denn Kalatur konnte nirgendwo eine Feuerstelle entdecken. Der Junge ging zu einer silberfarbenen Truhe, die hochkant stand und sich erstaunlicherweise nach vorne öffnen ließ. Auch in dieser Truhe schien seltsamerweise die helle Sonne zu scheinen, und ihr entströmte eine erstaunliche Kälte. Der Junge entnahm der Truhe eine große Flasche, durch die man doch tatsächlich hindurchsehen konnte. Sie war zur Hälfte mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt.

      »Ich denke, die ist groß genug«, sagte er, »da passt ein ganzer Liter rein!« Er goss die Flüssigkeit in eine Schüssel, die ebenfalls silbrig glänzte, und augenblicklich verschwand der Trank unsichtbar durch ein Loch. Kalatur überlegte, ob der Junge nicht vielleicht ein Magier war. Philipp bewegte mit der Hand ganz leicht einen silbernen Knauf, und plötzlich floss Wasser aus einem silberfarbenen Rohr hervor. Er spülte damit die Flasche aus, hielt sie ihm hin und sagte: »Bitteschön, du kannst jederzeit einziehen!«

      »Niemals! Durch diese seltsame Flasche kann man ja hindurchsehen. Darin kann ich unmöglich wohnen!« Kalatur verstärkte das furchteinflößende Dröhnen. Er wollte sich mit seiner neuen Behausung so schnell wie möglich durch die Lüfte auf und davon machen. »Du solltest meine Geduld nicht unnötig auf die Probe stellen!«, drohte er.

      »Null Problemo«, meinte der Junge leichthin. Aber Kalatur bemerkte, dass mittlerweile nicht nur die Stimme Philipps zitterte, sondern auch seine Hände. »Ich kann dir die Flasche anmalen! Ich müsste noch irgendwo in meinem Zimmer ein paar Gläser Plakafarben haben, die decken absolut dicht; dann kann niemand in deine Wohnung hineinsehen!«

      »Ich glaub, ich spinne! Ich bin verrückt geworden! So was gibt’s doch gar nicht!«, fuhr es Philipp durch den Kopf. Er hatte einen Pinsel in grüne Farbe getaucht und malte damit breite Längsstreifen auf die Saftflasche. »Hättest du die Flasche gerne rot oder grün?«, hatte er Kalatur gefragt. »Blau ist mir leider ausgegangen.«

      »Rot und grün!«, hatte der seltsame Geist befohlen. Philipp nahm einen zweiten Pinsel, färbte die freien Flächen rot und hoffte, dass das furchterregende Wesen, das hinter ihm im Zimmer stand, nicht bemerkte, dass seine Hände vor Angst zitterten. »War am Ende irgendein Gas in der Flasche, welches Halluzinationen hervorruft?«, überlegte Philipp. »Dann bilde ich mir das alles womöglich nur ein. Das würde die Sache einigermaßen erklären.«

      Zorro, der in der Tür stand, knurrte noch immer drohend vor sich hin. »Aber der Hund? Kann der sich denn auch etwas einbilden?«, fragte sich Philipp. »Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht träume ich ja das Ganze nur?« Er kniff sich heftig in den Oberarm und war so erschrocken, als es wirklich wehtat, dass er den Pinsel mit der roten Farbe aufs Englischheft fallen ließ.

      »Bist du jetzt endlich fertig?«, dröhnte Kalaturs Stimme an sein Ohr.

      »Ja, aber die Farbe ist noch nicht trocken. Wird noch eine halbe Stunde dauern.«

      »Dann sehe ich mich einstweilen ein wenig in der Gegend um. Mach in der Zwischenzeit keine Dummheiten, sonst ergeht es dir schlecht!«, drohte Kalatur. Er war ans Fenster gegangen, streckte die Arme nach vorne, um hinauszufliegen, hob mit den Füßen vom Boden ab – und stieß mit den Fingern heftig gegen die Scheibe.

      »He, was soll das, hast du noch nie `ne Fensterscheibe gesehen?«, rief Philipp. Er war vor Schreck von seinem Schreibtisch aufgesprungen und hätte um ein Haar die frisch bemalte Flasche umgeworfen.

      »Nein«, gestand Kalatur. Auch er war erschrocken. Beinahe wäre seine Energie, die noch immer instabil war, wieder auseinandergeflossen.

      »Du musst ja mächtig lange in deiner Flasche eingeschlossen gewesen sein, wenn du keine Fensterscheiben kennst!«

      »Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen.«

      »Und wie lange hast du gezählt?«

      »Zweitausend Jahre lang habe ich die Tage und Wochen, die Monate und Jahre gezählt. Aber als sie verflossen waren, hatte ich keine Lust mehr. Das Zählen hat nichts genützt.«

      Philipp stieß einen erstaunten Pfiff aus. »Und wo kommst du eigentlich her? Aus Marokko?«

      »Nein, von einem