Hildegard Grünthaler

Die Beschwörungsformel


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mit deren Hilfe sich die Menschen fortbewegten. Nachdem Kalatur gestern im Haus des Jungen eine Maschine ausgeräumt hatte, die selbsttätig schmutziges Essgeschirr wäscht, wunderte er sich gar nicht mehr darüber. In diesem Land hatten Maschinen die Arbeit von Dienern und Sklaven und wohl auch von Eseln und Pferden übernommen. Nein, die Hilfe eines Rauchgeistes brauchte hier ganz gewiss niemand.

      Der Platz vor dem Gebäude war als Versteck für seine Flasche ungeeignet. Kalatur schwebte wieder etwas höher und flog über das Haus hinweg. Dahinter gab es einen weiteren freien Platz. Kalatur nahm an, dass er kultischen Zwecken diente, denn in seiner Mitte war ein magisches Zeichen aufgemalt: ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Ob das Gebäude ein Tempel war? Dann sollte er es vielleicht erkunden, um herauszufinden, welchen Göttern die Menschen hier huldigten.

      Kalatur war so in seine Überlegungen versunken, dass er das Brummen und Dröhnen gar nicht wahrnahm. Als er endlich aufsah, war das Ungeheuer bereits über ihm. Wie eine riesige Libelle mit rotierenden Flügeln schwebte es lärmend vom Himmel herab. Ehe Kalatur flüchten konnte, fühlte er sich wie von Riesenfäusten gepackt, geschüttelt und herumgewirbelt. Ihm war, als wolle ihn das Ungeheuer in Stücke reißen. Mit letzter Kraft konzentrierte er seine Energie, um den rotierenden Flügeln zu entkommen, die seine Rauchgestalt in Stücke hacken wollten. Plötzlich ließ ihn das Ungeheuer los und schleuderte ihn davon. Kalatur landete unsanft in einem Baum. Er hatte Mühe, seine Energie zu sammeln, denn durch die Wucht des Aufpralls hatte sich seine Rauchgestalt in Zweigen und Geäst verfangen. Hatte er eine heilige Stätte entweiht und damit den Zorn eines fremden Gottes geweckt? Während Kalatur noch darüber nachdachte, eilten plötzlich weiß gekleidete Menschen aus dem Gebäude. Sie rannten in geduckter Haltung auf die Riesenlibelle zu, die genau auf dem magischen Zeichen zu Boden gegangen war. Noch immer rotierten die Flügel des Ungeheuers, als sich eine Tür an seiner Seite öffnete und zwei Menschen eine Tragbahre heraushoben. Kalatur erkannte, dass ein Kranker auf der Trage lag. Die Leute aus dem großen Gebäude hoben den Kranken auf einen Wagen und rannten mit ihm, so schnell wie sie gekommen waren, zum Gebäude zurück, während die riesige Libelle ihre Flügel wieder schneller rotieren ließ und senkrecht nach oben davonflog.

      Die Hausaufgabe zog sich zäh. Philipp konnte sich einfach nicht konzentrieren. Er kritzelte Strichmännchen mit dicken Bäuchen und abstehenden Ohren auf die Schreibunterlage und schielte alle Augenblicke zum Fenster. Wie lange würde es dauern, bis Kalatur einen passenden Platz für die bunte Saftflasche gefunden hatte? Konnte er überhaupt wissen, was ein guter Platz war? Er kannte sich nicht aus, und wusste noch nicht, wie sich die Welt in mehr als dreitausend Jahren verändert hatte. Philipp nahm sich vor, ihm eine einsame Stelle im Wald zu zeigen. In der Anpflanzung vielleicht - oder in der Sandgrube.

      Zorro richtete sich auf und begann zu knurren. Philipp sprang vom Stuhl auf. »Bleib!«, befahl er dem Hund, bevor er ans Fenster ging. Weißer Rauch zog herein und sank zu Boden, bildete einen Wirbel und zerfloss wieder ... Das schiere Entsetzen stand in Kalaturs Augen, als es ihm endlich gelungen war, seine Energie zu konzentrieren und menschliche Gestalt anzunehmen.

      »Weh mir, in welch schreckliches Land bin ich geraten!«, stöhnte er.

      »Wieso schrecklich? Du bist hier in Deutschland – und hier ist es doch wirklich okay«, widersprach Philipp.

      »Du lebst in einem Land voll rollender und fliegender Monster, findest das okay, aber vor einem harmlosen Rauchgeist hast du Angst!«, wunderte sich Kalatur. Ihm schwirrte der Kopf, als Philipp ihm erklärte, welche Erfindungen die Menschen in den vergangenen Jahrtausenden gemacht hatten, dass sie sich heutzutage mit Fahrrädern und Autos fortbewegten, und mit Hilfe von Motoren sogar gelernt hatten zu fliegen.

      »Deine Riesenlibelle war der Rettungshubschrauber«, fuhr Philipp in seinen Erklärungen fort, »und das große Gebäude ist kein Tempel, sondern das Kreiskrankenhaus!« Gab es in dieser Welt noch einen Platz für Kalatur, den Geist des Rauches?

      »Ich bin mit meiner Hausaufgabe noch nicht fertig, und na ja, die Spülmaschine, die muss ich auch noch ausräumen - aber danach bringe ich dich samt deiner Flasche an einen ruhigen Platz im Wald, wo du ungestört umherfliegen kannst!«

      »Ich verstehe schon, die Spülmaschine«, sagte Kalatur und verschwand in der Küche. Gleich darauf stand er wieder in Philipps Zimmer. »Ist erledigt!«, meldete er. Philipp hatte nicht einmal ein Klappern gehört, aber er dachte nicht weiter darüber nach, denn plötzlich war ihm ein Licht aufgegangen, wie er diese verflixte Matheaufgabe angehen musste. Er schrieb gerade den Rechenweg auf, als er ein Auto in der Garagenauffahrt hörte. Zorro sprang auf und stürmte mit Freudengebell zur Haustür.

      »Himmel, das ist meine Mutter. Sie ist heute früher dran als sonst. Wenn sie dich sieht, kriegt sie einen riesigen Schreck. Ich glaube, es ist besser, wenn du dich in der Flasche versteckst! Wahrscheinlich müssen wir die Sache mit dem Wald auf morgen verschieben.«

      Gerade als Kalatur durch den Hals der Flasche verschwunden war und Philipp sie auf dem obersten Regalbord deponiert hatte, kam seine Mutter ins Zimmer.

      »Hallo Phips«, begrüßte sie ihn. »Ich konnte heute endlich einmal früher Schluss machen. Verschieb deine Hausaufgaben auf den Abend. Wir gehen zum Einkaufen. Du jammerst doch schon so lange, dass du neue Schuhe brauchst, und deine Lieblingsjeans stehen auch schon auf Hochwasser!«

      8. FLIMMERKISTEN UND MÄRCHENGEISTER

      Kalatur lauschte. Das Geräusch, das ihn aufgeschreckt hatte, war Pferdegetrappel, ganz ohne Zweifel. Zuerst hatte er gedacht, er hätte sich getäuscht, aber jetzt war es wieder zu hören. Das Pferdegetrappel kam eindeutig aus dem Zimmer nebenan. Kalatur fand das zwar ausgesprochen merkwürdig, aber was war bei den Menschen in diesem Land eigentlich nicht merkwürdig? Sie hielten ja auch Hunde, die eigentlich Schafe hüten sollten, im Haus. Jetzt vernahm er, wie eine Tür aufgestoßen wurde und Männer mit schweren Schuhen durch den Raum trampelten. Und dann hörte er die Frau schreien. Laut und gellend drang ihr Hilferuf bis in seine Flasche. War das Philipps Mutter? Ganz gewiss, wer sonst sollte im Nebenraum in höchster Not sein! Sollte er eingreifen, um die Frau zu retten? »Nein«, beschwichtigte er sich, »wer meine Dienste in Anspruch nehmen will, muss die Beschwörungsformel kennen!« Er kringelte sich in der Flasche um die eigene Achse und versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu sein. »Aber die Götter haben mich geschaffen, um den Menschen zu helfen«, sagte er sich, »ich muss eingreifen, um die Frau zu retten. Ich kann nicht warten, bis mich jemand mit der magischen Formel ruft, denn es gibt niemanden mehr, der sie kennt!« Er hatte Philipp zwar versprochen, in seiner Flasche zu bleiben, aber er konnte doch unmöglich tatenlos zuhören, wie jemand massakriert wurde! Dann vernahm er die Männerstimme. Sie klang rau und brutal, und es war ganz ohne Zweifel nicht die Stimme von Philipps Vater: »Fesselt sie! Alle drei!«, befahl die Stimme, und dann hörte er wieder das Schreien der Frau. Kalatur konnte nicht länger zögern. Philipp und seine Familie waren in höchster Gefahr! Er verließ als Rauchsäule die Flasche, und gerade als er in den Flur hinausschweben wollte, hörte er Philipps Mutter. Sie schrie nicht um Hilfe, sondern sagte mit ziemlich ärgerlicher Stimme: »Philipp, jetzt schalte doch endlich die Flimmerkiste ab und geh ins Bett! Du kannst die DVD auch morgen noch zu Ende sehen!« Und dann war es plötzlich schlagartig ruhig. Kein Pferdegetrappel war mehr zu hören, kein Geknalle und Geschrei, er konnte nur noch Philipps halblautes Protestgemurmel vernehmen.

      »Du musst mir unbedingt erklären, was eine Flimmerkiste ist!«, begrüßte er Philipp, als der endlich missmutig in sein Zimmer geschlurft kam.

      »Pst, sei mal still!« Philipp richtete sich auf und lauschte. »Nein, es war nichts«, sagte er zu Kalatur gewandt, »sie schlafen.« Und nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest: »Ist ja auch schon halb eins vorbei.«

      Kalatur beugte sich wieder über die alte Leselernfibel aus der ersten Klasse, die Philipp im untersten Bücherbord gefunden hatte und murmelte mit halblauter Stimme: »Hans und Susi essen einen Apfel. Der Apfel hat Kerne. Die Kerne sind braun.« Er klappte das Buch zu und meinte: »Ich habe das System jetzt verstanden. Es ist eigentlich ganz simpel, aber trotzdem genial. Viel praktischer als die Keilschrift oder etwa die Hieroglyphen der Ägypter!«

      »Konntest