Hildegard Grünthaler

Die Beschwörungsformel


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ist.«

      »Ein langer Flug? Ich dachte, du verschränkst die Arme, zwinkerst mit den Augen und schon bist du da.«

      »Nein, so einfach geht das nicht. Wie kommst du nur auf so eine Idee?«, wunderte sich Kalatur.

      »Na ja, ich habe das in einem Fernsehfilm gesehen.«

      »In einem Fernsehfilm? Du hast mir doch vorhin selbst erklärt, dass die Filme im Fernseher, den ihr scherzhaft Flimmerkiste nennt, nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass Pferde nicht durch Wohnzimmer galoppieren und Wildwestgangster im normalen Leben Schauspieler sind. Wenn Fernsehleute sich solche Geschichten über Rauch- und Flaschengeister ausdenken, dann wissen sie in Wahrheit nichts über sie. Es sind eben nur Märchen - ich hingegen bin ein realer Rauchgeist. Ich bin mächtig und habe sehr viele Kräfte, aber ich kann leider nicht sehr viel schneller fliegen, als gewöhnlicher Rauch ziehen kann. Tja, und es ist nun mal ein weiter Weg vom Zweistromland bis an den Nil!«

      »Natürlich weiß ich, dass es weit ist«, gab Philipp zu. »Wir haben ja Geografie in der Schule«. Er stand auf, zog seinen Stuhl vor den Schrank, stieg hinauf und holte den Globus herunter.

      »Was ist das?«

      »Ein Globus, eine verkleinerte Nachbildung der Erde.

      »Die Menschen haben also herausgefunden, dass die Erde keine Scheibe ist?«

      »Klar, das weiß man schon ziemlich lange.« Philipp steckte den Stecker in die Dose und knipste die Globus-Beleuchtung an.

      »Oh«, sagte Kalatur, »man kann sogar den Euphrat und den Tigris erkennen!«

      »Ja, und hier ist der Nil!«

      »Und wo liegt das Land, in dem ich mich jetzt befinde?«

      Philipps Finger glitt von Ägypten durch Mittelmeer und Adria und durchquerte Italien und Österreich. »Hier, das ist Deutschland.«

      »Es ist ein kleines Land«, stellte Kalatur ein wenig enttäuscht fest.

      »Aber ein wichtiges und reiches Land mit sehr vielen Menschen!«

      Kalatur drehte den Globus weiter. »Wissen die Menschen über all diese Länder Bescheid?«

      »Natürlich, man hat längst alle Länder entdeckt und erforscht, auch Amerika und Australien. Früher musste man eine lange und gefährliche Seereise antreten, um nach Australien zu gelangen. Jetzt ist man mit dem Flugzeug in weniger als 24 Stunden dort.«

      »Leben viele Menschen in Australien?«

      »Nein, nur in den Städten entlang der Küste. Das Landesinnere ist größtenteils heiße, unwirtliche Wüste.«

      »Australien muss ein interessantes Land sein », dachte Kalatur, »darüber muss ich noch mehr in Erfahrung bringen.«

      9. KOMPLIZIERTE NEUE WELT

      Die Familie hatte das Haus verlassen. Einer nach dem Anderen war in morgendlicher Eile und Hektik davongestürmt. Zum Schluss war Philipps Mutter gegangen. Kalatur hatte gestaunt, wie viel Lärm drei Menschen machen können. Ständig war irgendwer auf der Suche nach irgendwas gewesen – nach Socken, Schuhen, Schulbüchern, Terminkalendern, Brillen oder Handtaschen. Damit nicht genug, ließen sie auch noch aus einem kleinen Kasten, den sie Radio nannten, fremdartige Musik und lauten Gesang plärren. Aber jetzt war es wieder so still im Haus, dass er sogar Zorros Atem hören konnte. Wahrscheinlich lag der Hund in Philipps Zimmer und döste. Kalatur begann seine Energie zu konzentrieren. Philipp hatte versprochen, ihn heute Nachmittag in den Wald zu bringen, aber vorher wollte er sich noch ein wenig umsehen. Als Kalatur durch den Flaschenhals strömte, war Zorro augenblicklich aufgesprungen und bellte wütend zum Regal hinauf.

      »Zorro Platz!«, befahl Kalatur von der Zimmerdecke herunter. Zögernd und nicht ohne Protestgegrummel legte sich der Hund auf seine Decke. Vorsichtig, immer den Hund im Auge behaltend, begann der Rauchgeist sich zu materialisieren. »Bleib!«, drohte er, als Zorro sich aufrichtete und zu jaulen begann. Mit einem Seufzer ließ sich der Hund auf die Decke zurücksinken.

      Kalatur ließ seine Hände an den Wänden entlanggleiten. Er konnte die Energie fühlen, die darin floss. In Kabeln gebündelt, mündete sie in Schalter und Steckdosen, damit die Menschen sie sich nutzbar machen und ihre vielen Geräte und Maschinen damit betreiben konnten. Philipp hatte ihm erzählt, dass diese Energie in großen Kraftwerken erzeugt und in riesigen Leitungen über Land geschickt wurde. Und er hatte auch nicht versäumt, ihn vor diesen Hochspannungsleitungen zu warnen: »Halte dich von den Überlandleitungen fern, wenn du in der Gegend herumfliegst, sie sind mindestens so gefährlich wie Hubschrauber!« Kalatur konnte die Kraft der Elektrizität fühlen, aber es war eine seelenlose Kraft, ohne eigenen Willen, die immer neue Nahrung benötigte. Ganz im Gegensatz zu seiner reinen Energie, die aus sich selbst bestand. Seine Kraft konnte sich ohne seinen Willen niemand zunutze machen. Nicht mehr jedenfalls! Wenn er jetzt seine Kraft und Energie einsetzte, dann nur, weil er es selbst so wollte. So wie er Philipp ein wenig bei den Hausaufgaben geholfen hatte. Gerade so, dass der Junge es nicht bemerkt hatte. Er hatte nur ein wenig nachgeholfen, dass Philipp das Gelernte in der richtigen Weise bewusst wurde. Dieser Philipp war nämlich ein kluger Junge, und er war ein guter Junge. Kalatur nahm sich vor, ihn auch in Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren.

      Das Badezimmer war der letzte Raum, den Kalatur bei seinem Rundgang durchs Haus inspizierte. Er konnte nicht umhin, die Erfindungsgabe der Menschen zu bewundern. Kalatur fühlte, wo unter den glänzenden Kacheln das Wasser durch Rohre floss, er probierte die Dusche aus und betätigte verwundert die Klospülung. Dann sah er, dass das Fenster gekippt war, und entschloss sich spontan zu einem Ausflug.

      »Superkauf Einkaufszentrum«, konnte Kalatur schon von Weitem das riesige Schild lesen, das über einem flachen, lang gezogenen Gebäude angebracht war. »Das muss so etwas Ähnliches wie eine Markthalle sein«, dachte sich der Rauchgeist, flog über den großen Parkplatz, der wohl dazugehörte, und schwebte neugierig durch den Eingang. Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen, den Menschen möglichst fernzubleiben – aber schließlich wollte er ja auch ihre Sitten und Gebräuche studieren. Kalatur kannte die Märkte aus Ägypten und dem Zweistromland. Dort hatten die Händler hinter ihren Verkaufstischen gestanden, lautstark ihre Waren angepriesen und mit den Kunden hartnäckig um den Preis gefeilscht. Zwischen Zwiebeln, Getreide und Honigkrügen hatten Hühner in hölzernen Käfigen gegackert, Schafe geblökt und Ziegen gemeckert, die an Pflöcken festgebunden waren. Aber in diesem Marktgebäude schoben die Menschen schweigend große Karren aus silbrig glänzendem Metallgeflecht vor sich her. Hin und wieder griffen sie in eines der zahllosen, mit den verschiedensten Waren gefüllten Regale, nahmen Schachteln, Dosen oder Tüten heraus, begutachteten sie und legten sie dann in den Karren oder stellten sie wieder ins Regal zurück. Es gab Regale mit Flaschen in allen Größen, die mit gelben, grünen oder braunen Flüssigkeiten gefüllt waren, Regale mit Küchengeräten, mit Schuhen und Kleidungsstücken, Tische mit Obst und Gemüse. Alles nahmen sich die Menschen selbst und packten es in den Einkaufskarren. Kalatur schwebte durch die endlos langen Gänge und bestaunte, was die Menschen in diesem Superkauf alles in ihrem Karren so vor sich herschoben: Hühner, die bereits geschlachtet und gerupft, zu einem hellen Klumpen Eis gefroren waren, Milch in viereckigen Schachteln, Käse in durchsichtiger Verpackung, Butter in silberner Umhüllung und – »Nein, das kann doch nicht sein! Die verkaufen hier auch kleine Kinder!« Entsetzt flog er etwas tiefer. Das kleine Mädchen, das vorne in einem dieser Karren saß, mochte vielleicht zwei oder drei Jahre alt sein. Es plärrte aus vollem Halse. Die Nase lief ihm, und über die Bäckchen kullerten dicke Tränen. Eine junge Frau putzte der Kleinen schimpfend das Gesicht ab und schob dann ungerührt den Karren weiter. »Die Menschen üben also noch immer diese schreckliche Unsitte aus, andere Menschen zu versklaven und zu verkaufen«, dachte Kalatur und flog weiter. Das Regal, in dem die kleinen Kinder feilgeboten wurden, konnte er allerdings nirgendwo finden. Dafür entdeckte er eine andere Frau, die ebenfalls ein Kind in ihren Einkaufskarren gepackt hatte.

      »Mama, ich will einen Schokoriegel!«, rief der kleine Junge.

      »Nein, ich habe Trauben gekauft, die sind gesünder!«, gab die