Jozi Salzberg

Menschengöttin, Menschenskind!


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gescheitert war. Dabei hatte Gina damals noch keine anderen Lasten geschleppt und auch nicht Gartenarbeit verrichtet, weil ihre Eltern diese Dinge für sie erledigten. Gewöhnt war sie diese Arbeit wirklich nicht. Die Tragegurte schnitten ihr in das zarte Fleisch der Schulter – einmal rechts, dann links, doch sie biss die Zähne zusammen, stöhnte auf oder brüllte höchstens bei jedem Befehl, den Kasten anzuheben, kurz auf wie eine Löwin, die zum Kampf ansetzt. Ähnlich machte es ihr guter Freund, nur klang sein Aufstöhnen einige Oktaven tiefer. Solch eine Kraft wohnt nur in Menschen mit eisenhartem Willen. Nur sie sind in der Lage, größte Stärke zu mobilisieren. Gina würde sagen „Wo kein Wille, da kein Weg.“ Wer zaudert, ist ihr suspekt, und sie würde ihn ermutigen, sich zu trauen und sich etwas zuzutrauen. „Probiers einfach!“, sagte sie vielleicht, oder aufmunternd „No!“ Doch perfekt müsse niemand sein, schränkte an dieser Stelle Gina breit grinsend ein. Sie selbst ginge „nicht um die Burg“ mit ihren Schwächen hausieren. Da müsste sie doch jede kleine Eitelkeit fahren lassen, die doch sonst niemandem weh tue und ihr selbst Spaß mache. „Zelbstzerfleischung“ sei nicht ihr Ding, sagte sie einmal einem Seminarleiter in einem Selbsterfahrungskurs, der ein wenig die Stimmung auflockern wollte und die TeilnehmerInnen aufforderte, von ihren Schwächen zu erzählen. Nein, so weit würde Gina nicht gehen wollen. Man dürfe sie nicht missverstehen. Letztendlich gab sie – gutmütig wie sie ist – doch noch ihre häufigen Frisörin-Termine und die Liebe zu den Erdbeer-Bomben als höchstpersönliche Schwäche preis - das war es auch schon. Wozu hätte sie ausposaunen sollen, dass sie gerne im Sommer nackt hinter dem Haus auf der Liege in der Sonne lag, dass sie ihre Beine ungern rasierte und Liebhaber bevorzugte, die das mochten. Eigentlich fühlt sich Gina von Lastern beladen, aber die würden schließlich keinem weh tun und daher „Schwamm drüber“. Aber um etwas wieder gutzumachen, dazu wäre sie sich nicht zu gut. All das ergibt eine sympathische Mischung, es ist die Marke „Blend Gina“, die sehr geliebt wird von Familienmitgliedern, sehr beliebt bei FreundInnen ist und sehr begehrenswert für potentielle Partner.

      Gina ist also eindeutig nicht aus Prinzip „tierisch ernst“ - das bestätigen ihre Familienangehörigen, FreundInnen, NachbarInnen und ArbeitskollegInnen augenzwinkernd. Doch es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich „nach der Decke zu strecken“, was eine gewisse düstere Ernsthaftigkeit von ihr einfordert, die in schwachen Momenten den Panzer des Frohsinns durchlöchert wie einen Schweizer Käse. „Echte Depression“ sollte daraus nicht werden, hoffte Gina vornehmlich in den letzten beiden Jahrzehnten mehr als einmal. Manchmal legte sich dennoch dieser dunkle Schleier der Schwermut bleiern auf ihre Seele. Umgehend zwang sie aber ihre Gedanken wieder ins Licht, weil „Trübsal blasen“ ja doch nichts brächte (wie sie es Anni gegenüber erklärte und dabei trotzig mit der Faust auf den Tisch hieb, dass die Weingläser klirrten). Stattdessen befahl sich Gina in solchen Momenten selbst: „Mundwinkel nach oben!“ Und schon sprudelte tief aus den Eingeweiden ein glucksendes Lachen empor, das die ZuhörerInnen stets von neuem für Gina einnahm. Anni beobachtete einmal während einer U-Bahn-Fahrt, wie Ginas Strahlen die anderen Fahrgäste fröhlich stimmte, und ihr umgehend – wenn auch verunsichert - vollkommen Fremde zulächelten.

      Anni weiß, warum Gina über sich selbst lachen kann. Die „Mundwinkel nach oben“ sind nur ein Teil der Praxis. Dieses Menschenkind verinnerlichte vielmehr den Gedanken, dass sich niemand allzu wichtig nehmen sollte. Das Wissen um die eigene relative Bedeutung für die Menschheit und für diese Welt half Gina stets von Neuem, ihre Tiefs zu überwinden. Sie hätte die Weisheit der Sandkorn-Mensch-Parallele (die nicht von ihr stammt, aber sie wusste nicht zu sagen, von wem), die ihr aber so sehr half, das Leben leicht zu nehmen, gerne allen vermittelt. Ihre Angehörigen, FreundInnen und Bekannten profitierten längst davon. „Mundwinkel nach oben“ ist auch deren Devise geworden. Allerdings übersahen manche in diesem Zusammenhang die Stelle, wo es um die Bedeutung des Sandkorns ging und beschränkten sich auf den Teil mit dem Menschen, der nur einer von vielen sein sollte. Sie hatten irgendwann den Irrglauben inhaliert, der Mensch wäre die angebliche Krone der Schöpfung. Gina aber fühlt sich als ein Sandkorn. Man könnte überspitzt formulieren, ihre Weisheit beziehe sie aus dem Wissen um dieses Sein. Für Gina heißt es, sich dessen bewusst zu sein, nur ein Wesen unter vielen zu sein. Gerade wegen der Nicht-Beherzigung dieser Weisheit durch die meisten Menschen erwuchs der Welt seit jeher Ungemach, meinte sie einmal. Anni schränkte begütigend ein wenig den Radius des Kreises der Nicht-Weisen ein: Aus der Richtung der sich selbst ungeheuer wichtig nehmenden Menschen (der Reichen, der Mächtigen, der sogenannten Eliten) trafen etliche schwerwiegende Schwierigkeiten die Welt besonders hart. Diese Leute negierten beispielsweise den äußerst qualvollen und tödlich harten „Alltag“ der Tiere in der Massen-Nutztierzucht oder die zunehmende Verarmung der arbeitenden Bevölkerung, die Verschmutzung der Umgebung von Ölquellen, Fabriken etc., um sich an allem und jedem zu bereichern. Anni suchte – anders als Gina – nach den „wahren“ Schuldigen für so manche Misere. Sie behauptete, diese Leute würden sich im Hintergrund halten und PolitikerInnen vorschieben, um unerkannt abkassieren zu können. Sie argumentierte, dass KonsumentInnen viel Fleisch nur deswegen kauften, weil billiges Fleisch angeboten wurde. Um immer billigeres anbieten zu können, züchteten die Profiteure unter Qual-Bedingungen etc. Das war nur ein Beispiel, das Anni gerne anführte, um die Leute zu Mitgefühl für andere Lebewesen zu gewinnen. Ein großer Teil der Gesellschaft benimmt sich als Neidgesellschaft. In dieser würde Annis Strategie sicherlich besser wirken, als wenn man nur um Mitleid mit den Gequälten betteln würde. Ja, sie betonte es so oft wie möglich, der Konsum von billigem Fleisch mache die Reichen noch reicher. Die Menschen aber mache es krank. Dazu gab es sogar offizielle Studien, die das belegten. Anni wünschte nicht, immer nur sinnlos zu lamentieren. So würde sich nichts an den Missständen ändern. Man musste stichhaltige Argumente anführen, wollte man viele Menschen von etwas überzeugen. Man müsste sich der Mittel bedienen, die man jeweils greifbar hätte.

      Tatsächlich erfordert die Bewältigung des Alltags pragmatisches Vorgehen von Anni, Gina und ihresgleichen, sozusagen ein opportunes Verhalten von jenen, die unter prekären Verhältnissen leiden. Das mag ein Grund für den Wunsch vieler Menschen sein, Reichtum zu erlangen. Sie glauben manchmal – unvernünftig wie sie nun einmal sind - viel Geld würde ihnen das Überleben ermöglichen, den Alltag erleichtern,und Glück in ihr Leben bringen. Das stimmt aus Ginas Sicht eindeutig so nicht. Zum Überleben benötigt man erstens wenig, den Alltag erleichtern kann einem zweitens die Hilfsbereitschaft anderer Menschen und drittens ist das Glück „ sowieso ein Vogerl“. Viele Arme und Reiche aber sind dermaßen auf den Reichtum fixiert, dass sie ein Leben in Unzufriedenheit führen – das findet Gina wirklich sehr unvernünftig. Diese Leute werden ihrer Meinung nach nie das Glück finden. Sie suchen die falschen Zutaten, und sie suchen am falschen Ort.

      Ein vernünftiger Mensch trägt die Bereitschaft in sich selbst, sich an vielen Dingen erfreuen zu wollen, an großen und an kleinen. Oder er hat nichts. Manche Mitmenschen denken auch, es gebe keine halbe Vernunft, selbst sind sie immerzu „tierisch ernst“, und sie verlangen von anderen Ernsthaftigkeit, um dem Ernst des Lebens angemessen zu begegnen. Doch Gina ist ein Beleg dafür, dass ein Mensch wichtige Dinge von den unwichtigen zu unterscheiden weiß. Diese kluge Frau wandelt auf Senecas philosophischer Ebene, ohne von dessen Erkenntnissen je gelesen zu haben. Er, geboren im Jahr 4 v. Chr. und selbst einer der Mächtigen seiner Zeit, schrieb über das falsche und das gute Leben in dem Text „De brevitate vitae“ (Von der Kürze des Lebens), um sich selbst zu ermahnen, nicht den Allüren der Macht- und Geldgierigen zu erliegen und darüber das zu übersehen, was wirklich wichtig im Leben wäre. Man hätte nicht auf Senecas Weisheit warten müssen, hätte man schon damals eine Frau wie Gina nach dem wahren Glück befragt. Weil aber gerade das in jenen Zeiten undenkbar war, brachte sich die Menschheit um die Weisheit der einen Hälfte der Menschheit. Mehr noch, da war es schon zu spät für die klugen Überlegungen der vielen Ginas. Die Menschheit hatte sich schon an die Dummheit gewöhnt, die da heißt, man müsse zu seinem Glück Macht und Reichtum nachjagen und dabei gezwungenermaßen andere knechten, übervorteilen, unterdrücken oder töten. Manche sprechen dabei von der Macht des Stärkeren. Wie primitiv! Die ersten Menschen hätten nicht überlebt, wenn einer den anderen unterdrückt hätte. Diese unsere Vorfahren und Vorfahrinnen mussten einander unter allen Umständen beistehen. Jedes Mitglied war wertvoll für das Grüppchen der umherziehenden Menschen. Das leuchtet ja noch allen ein. Doch irgendwann kippte das gute Miteinander.