Jozi Salzberg

Menschengöttin, Menschenskind!


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Anni hatte schon zu schätzen versucht, wie lange die Primitivität währte und kam auf eine sehr lange Dauer. Bald nach den ersten Menschengruppen begann die Abwärtsentwicklung. Die größeren Menschengruppen waren der Nährboden für die Macht- und Besitzgier einiger weniger. Ihre wahre Beute waren die anderen Menschen beziehungsweise die Verhinderung von deren Wohlergehen. Diese Art der Primitivität währt bis heute. Allgemein spricht man allerdings gerade von der Zeitsspanne der letzten Jahrtausende als von der Ära der Zivilisation. Sie wird definiert als die Zeit, in der (sozial und materiell) verbesserte Lebensbedingungen der Gesellschaft durch Technik und Wissenschaft ermöglicht werden. Es ist reines Wunschdenken, von Zivilisation zu sprechen und die ganze Welt zu meinen. Annis Meinung nach flackerten echte zivilisatorische Momente zwar auf, erloschen jedoch wieder, sobald die verbesserten Lebensbedingungen nur einigen wenigen Personen oder Gruppen zuteil wurden, das heißt, sobald die besseren Lebensbedingungen der einen auf Kosten von anderen gingen, sobald technische und wissenschaftliche Fortschritte nicht allen ein besseres Leben ermöglichten, sobald die Fortschritte nur die Gier einiger Privilegierter befriedigen halfen. Seltsam fand es Anni, dass sich die meisten Menschen Europas der 1980er und 1990er Jahre und die EuropäerInnen des dritten Jahrtausends zivilisiert fühlten, obwohl die Lebensbedingungen der meisten immer schlechter wurden und jene von sehr wenigen (bereits reichen) Personen immer besser wurden.

      Gina ist als Mitglied der europäischen Gesellschaft und der Menschheit indirekt mitbetroffen von der grassierenden allgemeinen Dummheit, die sie etwas freundlicher als den „Irrweg der Gier“ bezeichnet. Die Gierigen stürzen andere ins Unglück und sich selbst ins Messer. Oder glauben sie etwa, sie könnten ewig so weiter machen?! Gina ist eindeutig klüger als die Gierschlunde. Sie selbst ist überzeugt, Geld und Reichtum trage nur zu einem geringen Teil zum Glück bei. Nicht einmal Gesundheit kann man sich immer um Geld kaufen. Sie weiß es genau, denn obwohl sie ihr „letztes Hemd“ hergegeben hätte, um ihrer Mutter das Leiden zu ersparen, gab es letztendlich keine Rettung für die Kranke. Anni findet Gina wirklich weise. Eine fertiggestellte Handarbeit, eine gelungene Zeichnung, ein blühendes Zweiglein, eine Tasse duftenden Kaffees, Zuneigung und geliebte Menschen sind Gina viel wichtiger als Geld und Gut. Doch sie sagte nicht nein, bekäme sie mehr davon – sie ist ja nicht verrückt. Mehr davon hieße doch bloß, das Ungleichgewicht bei der Verteilung von Reichtum gerade zu rücken.

      Gerne erinnert sich Gina an die „guten alten Zeiten“ zurück, als sie noch „alles“ hatte. Sie ist ein Kind der 1960er Jahre. Da produzierte die Angst vor dem Kommunismus (Gina meinte daher „er war zu etwas gut.“) bei den Kapitalisten Europas großen Druck, der Bevölkerung ein schönes Stück vom Kuchen zugestehen zu müssen, wollten sie nicht alle ihre Felle davon schwimmen sehen. Gina will sich nicht beschweren, mag es auch nicht ganz gerecht zugegangen sein, so doch relativ. Aber „alles“ hatte sie natürlich auch in der Kindheit und Jugend nicht. Wenn sie ihre Erinnerung nicht täuscht (die irgendwann in den 1970ern bewusst einsetzte), hatte sie allerdings von allem mehr als genug. Als sie noch mit den Eltern im gemeinsamen Haushalt lebte, war das Leben tatsächlich leicht und unkompliziert für sie, war geradezu ein Traum. Alles, was für ein sehr schönes Leben nötig war, gewährleisteten die Einkommen der Eltern. Der Vater verdiente sehr gut als Manager und die Mutter als Chemikerin. Man kann mit Fug und Recht behaupten, Gina wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Vergleicht sie sich mit dem Sohn von einem wohl-situierten Steuerberater-Ehepaar aus ihrem Bekanntenkreis, so wurde dieses Kind ebenso verwöhnt, doch dessen Weg führte in die Abhängigkeit von harten Drogen und in ein Desaster. Am Geld konnte es nicht gelegen haben...

      Und Gina? Probierte sie in ihrer „Sturm- und Drang-Zeit“etwa keine Drogen? Sie hätte mit einem deutlichen „Jein“ geantwortet, denn was ist schon eine Haschischzigarette? Viele reagierten da anders. Sie verurteilten jeden und jede, die „so etwas“ tat. Die Scheinheiligkeit von manchen Menschen, die schon das Rauchen eines Joints verteufelten, fand Gina armselig. Nun, eventuell handelte es sich gar nicht um Scheinheiligkeit. Vielleicht war es einfach nur das kritiklose Übernehmen von Meinungen anderer? Vielleicht dachten die meisten Leute einfach nur nicht nach? Aber hätte sie das etwa entschuldigen sollen? Hm, Gina zeigte tatsächlich so eine Ader, immerzu Entschuldigungen für die Fehler anderer zu suchen, bestätigt Anni leidgeprüft. Anni war nicht immer Ginas Meinung, sondern nahm hin und wieder die Gegenposition ein, sobald Gina wieder eine Diskussion lostrat und Leute entschuldigte, die Annis Meinung nach kein Mitleid verdienten. Anni trat nicht immer, aber immer öfter eher für Gerechtigkeit ein als für pauschal gewährte Gnade. Anni ärgerte sich zwar selbst über die allgemeine Vorstellung, Joints wären zu verteufeln und die Volksdrogen Tabak und Alkohol nicht. Von den Unmengen gerauchter Zigaretten aus Tabak (mit noch giftigeren Zusatzstoffen) und literweise genossenem Alkohol schwiegen die „Gewohnheitstiere“ und kamen nie auf die Idee, ihre Einstellung zu hinterfragen. Warum die Allgemeinheit mit ihrer Kurzsicht aber wie eine Herde einer Leitkuh nachtrottete, das allerdings interessierte Anni viel mehr, das Thema hatte sie geradezu in Bann gezogen. Nichts würde sie davon abhalten können, dieses Thema zu analysieren oder wenigstens – soweit es ihre Zeit zuließ - darüber ein wenig nachzudenken. Gina hingegen hätte lieber die Leutchen pardonniert, denn dann hätte sie weiter unbeschwert fröhlich durchs Leben schweben können und auf niemanden böse sein müssen. Nicht, dass Anni oder Gina jemals auf den Gedanken verfallen wären, jemandem das Rauchen oder Trinken zu verbieten. Niemals hätten sie das getan. Ginge es nach Gina oder Anni, dann hätte jeder Mensch so leben sollen, wie er es für richtig hielt. Nur eine Grenze sollte es dabei geben. Die eigene Freiheit hört dort auf, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt. Anni und Gina sind sich darin einig. Warum funktioniert das nicht überall, können sie sich nicht erklären. Es könnte so leicht sein – mit oder ohne Drogen...

      Glücklicherweise genoss Gina selbst seit geraumer Zeit nur die „Droge“ Musik, das aber jeden Tag. Sie musste nur an ihre Lieblingslieder denken, erstrahlte sie schon wie ein Weihnachtsengel in voller Festbeleuchtung. Die Lieblingssongs warfen sofort ihr inneres Kraftwerk an und ließen pure Freude durch den Körper strömen. Musik half ihr sogar beim Denken. Vom Glück erfüllt sprangen ihre „grauen Zellen“ sozusagen fröhlich herum und trafen unverhofft auf andere, die sie sonst nie „zu Gesicht“ bekommen hätten. Beim Musik-hören oder beim Tanzen oder „Shaken“ bekam Gina die besten Ideen ihres Lebens. Den Gedanken an die „traurigen Gestalten“, die ohne eigene Ideen zu haben, immer nur der Allgemeinheit nach dem Mund redeten, verdrängte Gina bisher jedes Mal so schnell sie konnte, weil es ihr unnütz schien, ihre Kraft in Form von Ärger auf Leute zu verschwenden, mit denen man Geduld haben sollte. Ja, geduldig und gütig zu sein, das gefiel ihr. Es fiel ihr nicht schwer. Sie konnte gar nicht anders. Ihre Frohnatur gebot es ihr geradezu. Und ihre Freundlichkeit und Fröhlichkeit waren geradezu ansteckend. Diese Eigenschaften waren immer Ginas großes Plus. Nein, Gina war nie ein Kind von Traurigkeit, von Natur aus nicht. Weniger Taschengeld und Geldgeschenke von Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln hätten ihr auch genügt. Sie genoss es dennoch, unbeschwert durch das Leben zu tanzen – sozusagen von Disco zu Disco - und sich alle Wünsche zu erfüllen, die nun einmal für die Tochter begüterter Eltern selbstverständlich „erschwinglich“ waren.

      Irgendwann begann eine Zeit, da konnte sich Gina die schönen Dinge des Lebens immer seltener leisten. Sie nahm es zur Kenntnis, ohne zu lamentieren. Das entspricht ihrem bescheidenen Wesen, ihrem Frohsinn, ihrer Anpassungsfähigkeit und der ihr innewohnenden uralten Weisheit, die eines Guru würdig wäre: Für dieses Menschenkind birgt jeder Tag in den Falten seines Mantels aus Stunden und Minuten die Sekunden der Fröhlichkeit - manchmal leider sehr gut versteckt. Gina ist unbedingt bereit, die Gelegenheiten zu ergreifen und die auftauchenden glücklichen Momente voll auszukosten, am liebsten Sekunde auf Sekunde. Nur leider bleibt für Spaß „in letzter Zeit wenig Zeit“, wie sie sagt. In den 1980er Jahren war sie fast ohne Sorgen. Danach setzte ein schleichender Wandel ein. Sie hätte nicht sagen können, ob es davon kam, dass sie langsam „erwachsener“ wurde, oder davon, dass sich etwas in der Gesellschaft veränderte. Sie arbeitete immer mehr, der Einkaufswagen wurde aber nicht mehr so voll wie früher. Sie hatte keine Zeit, zu ergründen, warum das so war. Sie musste sich „einfach mehr ins Zeug legen“, um das Manko auszugleichen. Sie würde „einfach ganz pragmatisch an die Sache herangehen“. Nun, „einfach“ war nichts daran, wie sie nachträglich zugab.

      Nicht zu leugnen ist, dass Gina