Elli Manteuffel

Die schweren Wege-Eine Familiengeschichte


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war so ein Hütejunge und bei einem Großbauern untergebracht. Später erlernte er den Beruf eines Müllers und Mühlenbauers und wanderte als Geselle zwei Jahre durch Deutschland, um bei verschiedenen Meistern Neues zu lernen.

      In Prienai heiratete er Johanna , die Tochter des Färbermeisters Drommel. Sie gehörte zu den älteren von zwanzig Geschwistern und Halbgeschwistern. Das junge Ehepaar erwarb am Stadtrand von Prienai eine kleine Teerschwelerei, die sie im Laufe der Jahre vergrößerten und den Betrieb durch die Herstellung verschiedener Sitzmöbel erweiterten.

      Während des ersten Weltkrieges besetzten im Juli 1915 deutsche Truppen Litauen. Die deutschen Männer mussten nun für Deutschland in den Krieg ziehen. Auch unser Großvater, damals bereits 40 Jahre alt, wurde Soldat.

      Immer wieder kam es im Lande zu Kampfhandlungen. Unsere Großmutter flüchtete mit ihren fünf Kindern zeitweise in die dichten Wälder der Umgebung der Stadt und suchte hier Schutz. Nahrungsmittel fehlten, das Trinkwasser war verschmutzt und zwei der Geschwister unserer Mutter, die noch im Kleinkindalter waren, starben an der Ruhr.

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      Die drei Töchter von Johanna und Gustav Drommel: Elma, Lena und Erna (unsere Mutter)

      Deutsche Truppen marschierten 1918 bis zum Kaukasus vor, unter ihnen auch unser armer Großvater. 1918 hatte endlich dieser entsetzliche Krieg ein Ende, das sinnlose Töten war vorbei.

      In dem Elternhaus unserer Mutter herrschte Trauer und Hunger und vom Großvater keine Nachricht.

      Es war der Abend eines eiskalten Wintertages, als es an der Tür des Elternhauses klopfte. Ein ausgezehrter, alt wirkender Mann mit einem langen schwarzen Bart stand plötzlich mitten im Raum. Er stand stumm da und schaute alle lange an. Unsere Mutter und ihre Geschwister waren noch Kinder und erschraken, das jüngste Mädchen versteckte sich hinter der Mutter. Aber unsere Großmutter fiel plötzlich dem Mann um den Hals. Nun hatten auch seine Kinder ihn erkannt. Wochenlang war unser Großvater im kalten Winter zu Fuß unterwegs gewesen. Nur einen Schlitten hatte er bei sich, darauf eine Bibel und ein paar Habseligkeiten. Auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen und mit dem tiefen Glauben, dass Gott ihm die Kraft geben würde, den weiten Weg zu überstehen und seine Familie wiederzusehen, hatte er die lange Wanderung angetreten. Nicht nur einmal war er fast am Ende seiner Kraft gewesen. Nun war er zu Hause bei der geliebten Familie und musste erfahren, dass diese nicht mehr vollzählig war.

      In dem kleinen Betrieb der Großeltern war manches zerstört. Viele Rohre waren herausgerissen worden. Großvater höhlte Baumstämme und dicke Äste aus und verwendete diese als Rohrleitungen. Bald konnte der Betrieb wieder produzieren.

      Über die Familie meines Vaters erfuhr ich Folgendes:

      Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verließen zahlreiche Deutsche Litauen, weil ihnen oft das Nötigste zum Überleben fehlte. Sie hofften, im Ausland ihr Glück zu finden und wanderten in andere Länder aus, häufig in die USA, nach Kanada und nach Argentinien.

      Zwei Schwestern meiner Großmutter wanderten als junge Frauen in die USA aus, gründeten dort eine Familie und kehrten nie wieder in die alte Heimat Litauen zurück. Nach dem 2. Weltkrieg trafen sie sich mit meiner Großmutter in Kanada, wohin Großmutter 1947 ausgewandert war.

      Omas jüngste Schwester soll auffallend schön gewesen sein. Noch sehr jung verliebte sie sich in einen jungen Offizier des Zarenregiments, welches in Kaunas stationiert war. Schon bald heirateten sie und kurze Zeit darauf zog die junge Frau mit ihrem Mann nach Petersburg, wohin er versetzt wurde. Oder wollte er gar versetzt werden? Nie wieder hat man etwas von Omas jüngster, so schöner und ebenso gutgläubiger Schwester gehört. Denke ich an ihr ungewisses Schicksal, so fürchte ich, dass es dem traurigen

      Schicksal von Dunja, der Tochter des Postmeisters, geglichen haben mag, wie Alexander Puschkin es in seiner Erzählung „Der Postmeister“ geschildert hat.

      Mein Großvater, geboren in dem Dorf Godlavo, und meine Großmutter, geboren in dem Dorf Samapole, waren wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Kaunas gezogen. Auch ihr Leben war ein schwerer Weg. Als sie heiratete, war Großmutter erst 17 Jahre alt. 1904 musste ihr Mann, unser Großvater, als Soldat im Russisch-Japanischen Krieg für die Interessen Russlands kämpfen. Damals war er bereits Vater einer zweijährigen Tochter und ein weiteres Kind wurde erwartet. Im September desselben Jahres wurde er durch einen Bauchschuss an der Front schwer verletzt. Auf dem Heimtransport verstarb er unter größten Qualen im Zug nicht mehr weit entfernt von der Heimatstadt. Inzwischen war sein Sohn, mein Vater, zur Welt gekommen und 6 Tage alt.

      Als die Nachricht vom Tod ihres Mannes Großmutter erreichte, rang Töchterchen Elli, die an einer Infektion schwer erkrankt war, um ihr Leben. Nach wenigen Tagen verstarb auch sie. Vom Schmerz überwältigt, war Großmutter wie von Sinnen und vernachlässigte die Pflichten des Lebens. Stundenlang kniete sie an den Gräbern ihrer Lieben, betete verzweifelnd schluchzend. Ihre Kraft schien immer mehr zu schwinden. Die Nachbarn befürchteten, dass sie den Verstand verlieren würde. Daheim schrie ihr Baby, mein Vater, vor Hunger. Nur mit Gewalt konnten die Nachbarsfrauen die Verzweifelte vom Friedhof heimholen. Es war ein täglicher Kampf. Da griffen die guten Frauen zu einer gewagten List. Sie kleideten ihre Männer in weiße Laken und verschiedene Gewänder, malten ihnen schreckliche Fratzen darauf und schickten sie so auf den Friedhof. Dort versteckten sich die Nachbarn hinter Grabsteinen nahe der Gräber von Großmutters Mann und Tochter. Als es dunkel wurde,

      kamen die furchterregenden, verkleideten Gestalten aus ihren Verstecken hervor, fuchtelten gewaltig mit den Armen und riefen mit grauenvoll verstellten Stimmen etwa Folgendes: „Scher dich nach Hause! Verlasse den Friedhof! Dein Kind schreit vor Hunger. Du wirst in der Hölle braten, wenn du nicht schnell heim läufst!“ Großmutter geriet in panische Angst. So schnell sie ihre Beine trugen, soll sie den Friedhof verlassen haben und heim gerannt sein. Seit diesem Tage kümmerte sie sich mit größter Aufmerksamkeit, Liebe und Hingabe um den kleinen Oskar. Als Waschfrau arbeitete sie bei Tillmanns, einer Unternehmerfamilie, in Kaunas. Ihren kleinen Jungen hatte sie auch während der Arbeit bei sich.

      Warum aber war die junge Witwe in eine so große finanzielle Not geraten, da ihr doch als Kriegerwitwe eine Abfindung zustand? Diese Abfindung, eine größere Summe Geld in Goldmünzen, ein kleines Vermögen für die sparsame Frau, war auch wirklich durch den Staat ausgezahlt worden. Großmutter durfte darüber aber noch nicht verfügen, da sie das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und nach den damals geltenden Gesetzen somit noch nicht mündig war. Bis zu ihrem 21. Geburtstag wurde die Kirche zur Verwaltung der gesamten Geldsumme bestimmt. Als der Pastor, der das Geld zur treuen Aufbewahrung erhalten hatte, es später Großmutter übergeben sollte, leugnete er, jemals auch nur irgendetwas bekommen zu haben. Gewissenlos sah er dem Elend der jungen Mutter zu. Auch die folgenden schmerzvollen Jahre der Familie riefen in ihm keine Reue hervor.

      Großmutters Eltern konnten sie in dieser verzweifelten Lebenssituation auch nicht finanziell unterstützen. Es lebte nur noch ihre kranke Mutter. Ihre Eltern hatten eine ganz kleine Landwirtschaft besessen und Großmutters Vater war im kalten ostpreußischen Winter über die Grenze nach Deutschland gegangen, um dort auf dem Markt Butter zu verkaufen. Auf dem Rückweg hatte sich das Wetter verschlechtert. Ein eisiger Schneesturm wehte so stark, dass unser Urgroßvater vom Wege abkam. Er irrte umher und ist in der Nacht in der Schneewüste erfroren.

      Einige Jahre später heiratete Großmutter erneut. Mein Vater bekam noch drei Halbgeschwister, von denen ein Brüderchen schon im Kleinkindalter starb. Der Stiefvater trank häufig. Es war für alle Familienmitglieder ein recht sorgenvolles Dasein.

      Im 1. Weltkrieg war die ganze Familie, wie auch viele andere deutsche Familien, kriegsbedingt gezwungen, die litauische Heimat zu verlassen und einige Jahre in der Ukraine zu verbringen. Mein Vater war sehr froh darüber, dass er auch dort die Schule besuchen konnte und ukrainisch und russisch lernte. Mit 13 Jahren war für ihn die Kindheit leider zu Ende. Er musste arbeiten und für das Überleben der Familie mit sorgen.

      1918, wieder nach Litauen zurückgekehrt, begann Vater auf einem Schleppkahn auf der Memel als Heizer zu arbeiten. Unterernährt und gerade erst 14 Jahre alt, war