Jean-Pierre Kermanchec

Möwenspur


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Meter auf dem kleinen Weg, über den Klippen entlang. Du siehst mich dann irgendwo auf dem Weg. Du kannst auch der Polizei den Weg so beschreiben.“

      Er klappte das Mobiltelefon wieder zu, steckte es in die Tasche zurück und sah dem Treiben der Vögel weiter zu. Seine Blicke gingen jetzt über die Felsen hinweg, als wollte er nach einem Täter Ausschau halten. Dabei war es doch gar nicht sicher, ob es sich um ein Verbrechen handelte oder ob der Mann abgestürzt und eines natürlichen Todes gestorben war. Der Mann trug einen Anzug. Ohne Jacke oder Mantel würde man am frühen Morgen nicht an den Strand gehen, dachte er sich. Ein Spaziergänger hätte sicherlich keinen Anzug angezogen um an der Küste entlang zu spazieren. Die Lederschuhe, die er von hier oben deutlich erkennen konnte sprachen auch nicht dafür. Martinou griff in seine andere Jackentasche und holte zwei Latexhandschuhe heraus. Aus Gewohnheit trug er immer welche bei sich. Als Arzt musste er jederzeit auf einen Notfall vorbereitet sein. Er streifte die Handschuhe über und machte sich auf den Weg nach unten. Er wollte sich davon überzeugen, dass der Mann wirklich tot war. Vorsichtig stieg er von einem Felsbrocken auf den nächsten, tiefer gelegenen und näherte sich so dem Körper. Als er näher kam, flogen die Möwen auf und kreischten noch lauter als zuvor. Dann hatte er den Mann erreicht. Er brauchte nur wenige Sekunden um festzustellen, dass der Mann wirklich tot war. Er erkannte eine größere Wunde an der linken Schläfe. Die konnte von einem Sturz herrühren. Bevor die Polizei eintraf wollte er den Körper nicht bewegen. Er sah sich die Kleidung des Mannes an. Der Anzug war sehr elegant und die Schuhe stammten von Bally, wie man dem `B` an der Schnalle entnehmen konnte. Die Lage des Körpers ließ die Vermutung zu, dass er von dem Weg, oberhalb der Felsen abgestürzt und auf dieser Stelle aufgeschlagen war. Die genaue Todesursache würde der Pathologe feststellen müssen.

      Es war noch nicht lange her, dass er mit seinem Freund telefoniert hatte. Dennoch hörte er bereits die Sirenen der Polizeifahrzeuge, die sich schnell näherten. Er beschloss, nach oben zu gehen und den Polizisten die Stelle zu zeigen.

      Der Weiler, der der Straße den Namen gab, hatte die Form einer Tasse mit Henkel und am Ende des Henkels lag der kleine Waldparkplatz, den er seinem Freund beschrieben hatte. Es gab nur diese kleine Stichstraße, die direkt ans Wasser führte. Fünfzig Meter vor dem Ufer war der Parkplatz, der im Sommer ganz schnell von den Badegästen, die aus den umliegenden Häusern zum Baden herfuhren überfüllt war. Bog man an dem Küstenweg nach links anstatt nach rechts ab, dann war man sofort an dem herrlichen Sandstrand von Raguénez, dem ‚plage de Tahiti‘. Martinou hatte den Weg, der zu dem Parkplatz führte gerade zum Teil erklommen, als er den ersten Polizeiwagen näherkommen sah. Er ging auf das Fahrzeug zu und winkte den Fahrer herbei. Dahinter erkannte er einen Krankenwagen und meinte auch, das Fahrzeug seines Freundes zu erkennen.

      Die zwei Polizisten stiegen aus und kamen auf ihn zu.

      „Marc Marson und das ist Claude Ylian. Sie haben einen Toten gefunden?“

      „Ja, er liegt zwischen den Felsen, genau unterhalb des Küstenweges. Mein Name ist Gerard Martinou, ich habe ein kleines Haus an der Küste und bin bei meinem Spaziergang hier vorbeigekommen. Ich bin Arzt und konnte mich vom Tod des Mannes bereits überzeugen. Ich habe nichts verändert und…“ Martinou machte eine kleine Pause und hob seine beiden Hände, die noch immer in den Latexhandschuhen steckten „ich habe auch keine Spuren verwischt oder neue hinzugefügt.“ Die Polizisten betrachteten seine Hände und nickten. Inzwischen waren zwei weitere Männer zu der kleinen Gruppe gestoßen. Der eine trug einen Aluminiumkoffer, der andere eine Rolle Absperrband. Ungeduldig sahen sie zu Martinou, so als wollten sie sagen, dass sie keine Zeit zu verlieren haben. Martinou drehte sich um und gab der Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen. Es waren nur wenige Minuten bis zu dem Steilabfall, an dessen Fuß der Tote lag.

      Marc Marson, der erste Polizist drehte sich zu Martinou um und sagte ihm, dass der Leiter der Mordkommission, Ewen Kerber, von Quimper kommend, bereits unterwegs sei und dass er hier bei der Fundstelle bleiben soll, bis Kerber mit ihm gesprochen hat. Martinou nickte und trat zur Seite um den Polizisten zu ermöglichen, den schmalen Spalt zwischen den Felsen zur Leiche hinunter zu steigen.

      Erst jetzt sah er, seinen Freund Marc näher kommen. Marc Louvin hatte seinen Wagen weiter hinten parken müssen, da der kleine Parkplatz, durch die zuerst eingetroffenen Wagen der Polizei und der Ambulanz schon besetzt war.

      „Gerard, ich musste mich noch anziehen.“ entschuldigte er sich, weil er erst nach den hiesigen Polizeibeamten eingetroffen war.

      „Es ist ja nicht dein Fall, Marc, du bist nur zu Besuch hier. Wir könnten auch sofort wieder gehen, wenn ich nicht auf den Kriminalbeamten aus Quimper warten müsste.“

      „Glaubst du, dass ich einfach so fortgehe? Natürlich werde ich mir die Leiche ansehen. Wie kam es, dass du die Leiche entdeckt hast?“

      „Die Möwen verhielten sich anders als sonst und hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Daher bin ich langsamer an dieser Stelle vorbeigegangen. Sonst wäre mir der Tote wohl nicht aufgefallen. Schließlich konnte man auf den ersten Blick nur die Schuhe sehen und die alleine wären nichts Besonderes gewesen. Hier liegen oft Schuhe im Sand oder zwischen den Felsen herum.“

      Marc Louvin drehte sich um und ging zum Fundort. Ob es auch ein Tatort war konnte jetzt noch nicht entschieden werden. Bedächtig stieg Louvin die Felsen hinunter und zeigte dem Polizisten unten, der gerade ein Absperrband an den Felsen entlang anbringen wollte seinen Dienstausweis. Ein Kommissar aus Paris, das machte auf den jungen Polizeibeamten schon großen Eindruck und wie selbstverständlich trat er zur Seite und ließ Louvin näher an den Fundort heran. Der Mann von der Spurensicherung hatte sich zwischenzeitlich einen weißen Overall und Handschuhe angezogen und begonnen, die Leiche zu untersuchen und Fotos aufzunehmen. Ein weiterer Kollege war dabei, die Felsen abzusuchen, um eventuelle Spuren eines Verbrechens zu finden. Louvin trat näher und wartete in einem gewissen Abstand, um der Spurensicherung nicht im Weg zu stehen. Als er den Eindruck hatte, dass der Mann mit der Leiche weitgehend fertig war, fragte er, ob er sich den Toten jetzt näher ansehen könne.

      „Wer sind Sie?“ fragte dieser, als er zu Louvin aufsah. Louvin zeigte auch ihm seinen Dienstausweis und ergänzte: „Ich bin zu Besuch bei meinem Freund Martinou, der den Toten gefunden hat.“

      „Sie können sich den Toten ruhig ansehen, Monsieur le Commissaire, aber der Fall wird von Commissaire Kerber bearbeitet. Er muss in wenigen Minuten eintreffen. Hier in der Bretagne haben wir leider nicht in jedem kleinen Ort eine Mordkommission und von Quimper bis hierher dauert es schon dreißig Minuten, wenn nicht etwas länger.“

      „Ich möchte mich nicht in die Arbeit ihres Kollegen Kerber einmischen, aber meine berufliche Neugierde treibt mich um.“

      Marc Louvin bückte sich zu dem Leichnam hinunter. Der Mann trug einen Anzug von feinster Qualität, konnte er sofort feststellen, trotz des Schmutzes und der übelriechenden Fischreste, die über ihn verstreut waren. Er betrachtete die Abfälle genauer. Es waren keine vom Meer angeschwemmten Abfälle, dies war ihm sofort klar, als er sie betrachtete. Diese Abfälle waren sehr bewusst über den Körper ausgeschüttet worden, wohl um die Möwen anzulocken. Nur, warum machte jemand so etwas? Louvin konnte sich keinen Reim darauf machen. Ohne diese Abfälle wäre der Leichnam sicherlich nicht sofort entdeckt worden. Die Möwen hatten die Aufmerksamkeit seines Freundes erregt. Warum hat ein Mörder ein Interesse daran, dass man sein Opfer schnell findet? Er grübelte noch darüber nach, als er einen Mann über die Felsen nach unten kommen hörte. Louvin drehte sich um und sah in das etwas mürrisch dreinblickende Gesicht eines etwa fünfzig Jahre alten Mannes, mit dunklen Haaren und einem kleinen Schnurrbart. Er trug einen offenstehenden Trenchcoat, einen dunkelgrauen Anzug und schwarze Schuhe. Der Knoten seiner rot blau gestreiften Krawatte war nicht ganz nach oben gezogen und der oberste Knopf des weißen Hemdes stand offen. Man konnte ihm ansehen, dass er wusste, dass er nicht gerade ideal für diesen Fundort gekleidet war. Die schwarzen Lackschuhe waren für die Straßen von Quimper geeignet aber nicht für die Felsen an diesem Küstenstreifen. Er hatte sich bereits auf dem Weg oberhalb der Fundstelle mit Martinou unterhalten und wusste daher schon über den Kollegen aus Paris Bescheid.

      „Sie dürften der Kollege aus Paris sein! Ewen Kerber!“ stellte er sich vor, als er auf Louvin zuging und ihm seine Hand entgegenstreckte.

      „Stimmt!“