Jean-Pierre Kermanchec

Möwenspur


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fand, nachdem sie sich das Leben genommen hatte, blieben die Täter bis heute unbestraft. Die Anzeige, die damals gegen Unbekannt aufgegeben wurde, musste eingestellt werden.

      Marie begann, mit der Unterstützung ihrer Eltern, eine psychologische Therapie.

      Für Ewen war das Zusammentreffen mit Carla wie ein vom Schicksal gewolltes Arrangement. Seine Frau war, wie auch Carlas Mann bei einem Verkehrsunfall gestorben. Ewen sah in Carla ein Geschenk des Himmels. Sie trafen sich nun regelmäßig und vor einigen Tagen hatten sie sich entschlossen zusammenzuziehen.

      Ewen Kerber bewohnte ein sehr großes Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Carla lebte mit ihrer Tochter in einer Mietwohnung.

      Carla Rozier arbeitete als Abteilungsleiterin in der Filiale der BNP Paribas in Quimper. Ihre Tochter war seit einem Jahr als Kindergärtnerin tätig.

      Die Arbeit mit den Kindern hatte Marie geholfen über die Vergewaltigung hinweg zu kommen. Vor zwei Wochen war Marie zu ihrer Mutter gekommen und hatte ihr gesagt, dass sie sich eine eigene Wohnung nehmen wollte. Langsam müsse sie auf eigenen Beinen stehen. Carla hatte ihre Tochter in ihrem Vorhaben unterstützt. Und so war ihr die Entscheidung, zu Ewen zu ziehen, leicht gefallen.

      Ewen erwachte langsam wieder aus seinem Tagtraum und legte den Bericht des Pathologen zur Seite, den er immer noch in Händen hielt. Vielleicht würden sie morgen weiterkommen, wenn die Bilder einmal im Fernsehen veröffentlicht waren. Ewen erhob sich und ging zu seinem Kollegen Paul Chevrier.

      „Paul, haben wir außer diesen Fischabfällen und den Geldbörsen weitere Übereinstimmungen zwischen den beiden Morden gefunden?“

      „Nachdem wir alles was wir gefunden haben untersucht haben, muss ich eine gewisse Enttäuschung zugeben. Wenn du mich fragst, dann sehe ich eine weitere Übereinstimmung in dem Alter der beiden Toten. Beide müssen etwa um die dreißig Jahre alt gewesen sein. Auch waren sie auffallend gut gekleidet, was auf ein gehobenes Einkommen hindeutet. Beide stammen mit Sicherheit nicht aus der Bretagne, denn hier wird niemand Unbekanntes vermisst. Von Beiden fehlt das Portemonnaie und beide Fahrzeuge sind noch nicht gefunden. Mehr habe ich nicht herausfinden können.“

      „Dann können wir nur hoffen, dass wir nach der Ausstrahlung im Fernsehen etwas mehr wissen. Paul, ich bin nachher verabredet aber du weißt, wie du mich im Notfall erreichen kannst.“

      Damit verließ Ewen Kerber das Büro seines Kollegen Paul Chevrier und das Kommissariat am Place Charles de Gaulle.

      Er überlegte eine Weile, ob er den Weg hinunter zum Place Saint-Corentin zu Fuß oder mit dem Wagen zurücklegen sollte. Er entschied sich für den 15 minütigen Fußweg und ließ seinen Wagen hier oben stehen. Gemütlich spazierte er in Richtung der Innenstadt. Er freute sich, Carla zu sehen. Sie hatten sich vorgenommen, am Abend gemeinsam etwas zu kochen.

      Auf dem Weg zum Café Finistère ließ er sich noch einmal alles durch den Kopf gehen, was er über den Fall wusste. Auch wenn es nicht sehr viel war, er konnte aber dennoch eine Kleinigkeit übersehen haben. Dass er nicht an das Fernsehen gedacht hatte, wurmte ihn. Was sollte der Kollege aus Paris von ihm denken. Aber auch bei diesem Spaziergang fiel ihm nichts Weiteres ein. Die Fischabfälle blieben ihm ein Rätsel. Was wollte jemand damit nur ausdrücken? Er war beinahe sicher, dass sich darin eine Botschaft verbarg. Er überlegte, woher solche Abfälle zu bekommen waren. Aus seiner Sicht kamen nur Restaurants oder die Fischindustrie in Concarneau in Frage. Es musste eine Person geben, die Zugang zu solchen Abfällen hatte. Davon gab es aber bestimmt sehr viele. Hier an der Küste befanden sich zahlreiche Fischrestaurants und in Concarneau, Douarnenez oder an den anderen Fischereistandorten, gab es darüber hinaus eine Menge Leute, die an solche Abfälle gelangen konnten. Man konnte ja schwerlich alle Fischer, Köche oder Küchengehilfen überwachen oder befragen und um ihre Alibis bitten. Nein, er musste einen weiteren Zugang zu dem Fall finden.

      Carla war schon etwas früher auf der Terrasse des Kaffees eingetroffen. Als Ewen um die Ecke bog und auf den Platz trat, sah er Carla ihm zuwinken.

       Kapitel 4

      Ewen Kerber und Carla Rozier hatten die gemeinsam zubereitete Mahlzeit genossen. Die Flasche Rotwein war bereits zur Hälfte geleert, als Ewen den Fernseher einschaltete. Er wollte unbedingt sehen, ob die Bilder der beiden Toten in den Nachrichten ausgestrahlt würden. Es war schon kurz nach 20 Uhr 30 als die Nachricht erschien. Carla saß neben Ewen.

      „Die sehen sympathisch aus“, meinte sie, „und sie scheinen beide noch ziemlich jung zu sein.“

      „Ja, wir schätzen sie auf höchstens 30 Jahre. Es ist uns ein Rätsel, warum man sie umgebracht hat, vor allem die Art und Weise. Es sieht aus wie ein Unfall und dennoch will uns der Täter auf etwas aufmerksam machen.“ Ewen erzählte Carla ein paar Einzelheiten, ohne ausschweifend zu werden. Die Nachrichten waren vorbei und sie schalteten den Fernseher aus. Ewen wollte mit Carla den Rest des Rotweins genießen und etwas plaudern, als das Telefon klingelte.

      „Ewen Kerber“, meldete er sich.

      „Hier ist Marie, Ewen, ist meine Mutter bei dir?“

      „Ja, ich gebe sie dir Marie, noch einen schönen Abend.“

      Carla Rozier nahm den Hörer, den Ewen ihr reichte und begrüßte ihre Tochter.

      „Hallo Marie, hast du am Nachmittag vergessen, mir etwas Wichtiges zu sagen?“

      „Nein Mama, aber ich habe gerade die Nachrichten gesehen und da zeigten sie die Bilder von Pierre und Jules. Die beiden waren es, die uns vergewaltigt haben. Jetzt beginnt alles wieder von vorne.“ Marie begann zu weinen.

      „Beruhige dich mein Schatz, soll ich zu dir kommen?“

      „Ja, bitte komm, ich will jetzt nicht alleine sein.“

      „Ich komme sofort mein Schatz.“

      Carla legte das Telefon auf und erzählte Ewen schnell von dem Telefongespräch. Ewen half ihr bereits in den Mantel.

      „Die beiden Toten sind die Vergewaltiger von Marie. Sie hat sie erkannt, als sie jetzt in den Nachrichten gezeigt wurden. Ich hoffe, dass jetzt nicht wieder alles von Neuem beginnt. Sie war so gut darüber hinweg.“

      „Ich begleite dich Carla, vielleicht kann Marie mir weiterhelfen.“

      „Du willst sie doch nicht sofort verhören?“

      „Nein, kein Verhör aber sie kennt vielleicht noch ein paar Einzelheiten, die uns weiterhelfen können, den Mörder zu finden.“

      „Warum suchst du denn überhaupt noch den Mörder, wenn es die zwei Männer waren, die meiner Tochter das angetan haben? Wir können dankbar sein, dass es sie nicht mehr gibt.“

      „Es bleibt aber Mord, Carla, das weißt du genau und ich mache meine Arbeit.“

      Carla nickte nur und war dankbar für seine Begleitung. Als sie bereits im Auto saßen, bat sie ihn, sehr rücksichtsvoll mit Marie umzugehen.

      Die Fahrt zu Maries neuer Wohnung dauerte nur gute fünf Minuten. Marie hatte bereits auf die Ankunft ihrer Mutter gewartet und die Haustür geöffnet, als sie Ewen und ihre Mutter ankommen sah. Schluchzend fiel sie ihr um den Hals.

      „Ich habe die beiden sofort erkannt, Mama.“

      Sie gingen in die Wohnung und schlossen die Tür. Carla Rozier beruhigte ihre Tochter, dann holte sie ihr ein Glas Wasser und setzte sich mit ihr auf das Sofa im kleinen Wohnzimmer. Ewen hatte ihnen gegenüber, auf dem Sessel Platz genommen und ließ Carla und Marie miteinander sprechen. Nach einer guten halbe Stunde fasste sich Marie langsam wieder. Sie wurde ruhiger und begann zu erzählen. Ewen stellte keine Zwischenfragen, er ließ sie ihre Geschichte erzählen. Als sie fertig war, hatte sie alles gesagt, was er wissen musste. Er war nur Zuhörer gewesen und doch hatte er die Informationen, die er zu bekommen gehofft hatte erhalten. Er sah Carla, die ihrer Tochter immer noch über den Kopf streichelte, kurz an und bedeutete ihr, dass er kurz vor die Tür gehen würde, um zu telefonieren.