Jean-Pierre Kermanchec

Möwenspur


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zu gehen und so musste sie sich mit Schinken und Eiern zufrieden geben. Sie überlegte nicht lange und bereitete sich ein Rührei mit Schinken zu. Eine frische Baguette hatte sie mitgebracht, als sie am späten Nachmittag ihre Arbeitsstelle verlassen hatte. Als Chefsekretärin hatte sie immer noch zu tun, wenn die anderen schon längst nach Hause gegangen waren. Der Chef hatte eben immer Extrawünsche.

      Julie liebte ihre Arbeit. Ihr Chef war ein sehr netter Mann, unaufdringlich aber bestimmt in seinen Anforderungen. Heute hatte sie noch zwei Verträge fertigstellen müssen, bevor sie das Haus verlassen konnte. Ihr Chef wollte gegen 20 Uhr nochmals in die Firma kommen und die Verträge dann mitnehmen. Morgen früh würde er bereits gegen halb acht Uhr, mit dem Flugzeug von Quimper aus nach Lyon fliegen und er wollte die Verträge mitnehmen.

      Julie sah in ihren Weinständer und nahm sich eine Flasche Rotwein heraus. Sie öffnete die Flasche und goss sich ein wenig in ihr Glas, setzte sich auf das Sofa und sah auf den Computer, der vor ihr auf dem kleinen Tisch stand. Sie freute sich schon auf den Chat mit Robert. Würde er anbeißen? Eigentlich war sie sich sicher, dass es klappen würde, ihr Angebot würde er nicht abschlagen. Erneut sah sie auf die Uhr, immer noch waren es zwei Stunden bis Mitternacht. Julie schaltete den Fernseher ein und wollte sich die Zeit mit einem Film vertreiben.

      Ewen Kerber hatte sich, nachdem Marie sich wieder gefangen und ihrer Mutter erklärte hat, dass sie ruhig wieder nach Hause gehen könne, mit Carla auf den Heimweg gemacht. Carla war auf der Fahrt still und beinahe schon in sich gekehrt. Als Ewen sie ansprach, musste er das zweimal tun, weil Carla beim ersten Mal nicht reagierte.

      „Was ist los Carla?“ Ewen wiederholte seine Frage.

      „Ach, es ist nur…,“ Carla stockte, „es ist, weil ich mir jetzt wieder Sorgen um Marie mache. Sie hatte schon so viel verarbeitet.“

      „Das wird auch weiterhin der Fall sein, Carla.“ Ewen wusste nur zu gut, dass ihre Sorge durchaus berechtigt war. Aber er wollte sie ein wenig trösten.

      „Hoffentlich glaubst du jetzt nicht, dass Marie oder ich etwas mit den Morden zu tun haben?“

      Dieser Satz war aus Carla herausgesprudelt. War das der echte Hintergrund ihres eher sonderbaren Verhaltens? Carla wusste selber nicht, warum sie in diesem Augenblick darauf gekommen war. Es schien ihr jetzt erst bewusst zu werden, dass sie beiden ein Motiv für die Morde hatten. Eine Vergewaltigung war aus ihrer Sicht ein starkes Motiv und es würde auch ein starkes Motiv aus der Sicht der Polizei darstellen.

      „Auf keinen Fall Carla, aber ich muss dir ehrlich sagen, dass meine Kollegen dich bestimmt befragen werden und auch nach einem Alibi fragen. Leider gilt das ebenso für Marie.“ Ewen sah Carla an und hoffte, dass er sie damit nicht schockiert hatte.

      Carla schüttelte nur den Kopf.

      „Nein, bitte nicht Marie. Mich könnt ihr natürlich befragen, ich habe nichts dagegen und kann das auch verkraften. Aber versuche, Marie damit nicht zu belasten.“

      Sie sah Ewen fast flehend an.

      „Wann sind denn diese Morde genau passiert?“

      „Der letzte Mord geschah gestern, so gegen 21 Uhr und der erste am 7. Mai, kurz nach halb 10 Uhr abends.“ antwortete Ewen.

      „Also gestern…“, meinte Carla, „gestern…, wo war ich da am Abend?“

      Ihre Miene hellte sich auf und sie sah, dass auch Ewen plötzlich wieder gelöste Gesichtszüge bekam.

      „Da waren wir doch alle…“

      „Zusammen in der kleinen Crêperie, in der Ville Close!“ ergänzte Ewen, den von Carla begonnenen Satz. Sie lachten vor Freude über das Alibi, dass sie sich gegenseitig geben konnten. Sie hatten erst gegen Mitternacht das Restaurant verlassen und Ewen hatte Marie nach Hause gefahren. Wie konnte er das nur vergessen haben? Damit waren Carla und Marie aus der Sache heraus und er konnte problemlos weiter an dem Fall arbeiten. Warum nur war ihm dies nicht eingefallen als er mit Paul gesprochen hatte. Er musste diese Neuigkeit seinem Kollegen sofort mitteilen.

      Julie sah, wie sich der Zeiger der Zwölf näherte und so beschloss sie, ihren Computer auf den Schoß zu nehmen und sich auf ‚chat.fr‘ einzuloggen. Jetzt war Lolita 23 online. Es dauerte nur wenige Minuten und sie sah, dass ein gewisser ‚Tiger‘ mit ihr in Kontakt treten wollte.

      „Hallo Lolita 23, die Uhr zeigt jetzt Mitternacht und ich habe eine Stunde Zeit, wie ich es dir gesagt habe.“

      „Hallo Tiger, kein sehr origineller Name, Robert wäre mir da lieber.“

      „Du heißt doch bestimmt auch nicht Lolita 23, oder?“

      „Stimmt, aber man möchte ja ein wenig Anonymität behalten“

      „Ja, aber du kennst meinen richtigen Namen ja bereits. Wie wäre es, wenn du mir deinen verraten würdest?“

      „Nicht so schnell, wir kennen uns ja noch nicht einmal richtig.“

      „Das kann sich ganz schnell ändern. Wo wohnst du? In Paris, in New York oder vielleicht sogar in China?“

      „Ha, ha, ha! Nein nicht in Paris und auch nicht in China. Seit wann sprechen die Chinesen französisch? Schon etwas weiter von Paris entfernt, aber dafür in einer schönen Gegend.“

      „Was machst du denn so, wenn du einmal nicht gerade chattest?“

      Robert Le Floch versuchte, von dieser Lolita wenigstens ein paar Informationen über ihren Beruf oder ihren Standort herauszubekommen. Am frühen Abend, als er die Email erhielt wollte er zuerst überhaupt nicht antworten, dann war seine Neugierde aber doch stärker gewesen. Was war das für eine Frau, die ihm einfach schrieb, ihm eine Mail sandte und mit ihm chatten wollte, nur weil ihr sein Bild auf Facebook aufgefallen war? Natürlich schmeichelte es ihm.

      Er hatte längere Zeit in seinem Büro zugebracht und war von dort aus auf Facebook gegangen, um seine Mails anzusehen. Er hatte mit seinen dreißig Jahren beruflich eine gute Position. Als Abteilungsleiter einer renommierten Investmentgesellschaft verdiente er sehr gut. Er war ein überzeugter Single und genoss es, ständig neue Kontakte mit Frauen zu knüpfen. Nachdem er mit dieser Lolita 23 ausgemacht hatte, sich um Mitternacht in einem Chatroom zu treffen, hatte er das Büro verlassen, war mit seinem Porsche in sein Lieblingsrestaurant gefahren und hatte noch schnell etwas gegessen. Kochen war nicht gerade seine Leidenschaft und so besuchte er beinahe täglich ein Restaurant und genoss die verschiedenen angebotenen Spezialitäten. Heute Abend sollte es die indische Küche sein. Er liebte es, etwas schärfer zu essen und da war er bei seinem „Inder“ genau richtig. Anschließend fuhr er in seine Wohnung, öffnete eine Flasche Mouton Rothschild und genoss den Wein. Er hätte sich auch früher mit dieser Lolita verabreden können, aber wer sich rarmacht, macht sich interessant, war seine Devise. Vielleicht würde ihr Interesse an ihm dadurch noch gesteigert.

      „Ich bin nur eine kleine Sekretärin, aber vom Chef! Was machst du so?“

      „So, so, eine Chefsekretärin. In welcher Branche bist du denn tätig? Ich bin ein kleiner Abteilungsleiter.“

      Julie überlegte, was sie ihm antworten sollte. Sie wollte nicht zu viel an Informationen preisgeben. Sie war sich nicht sicher, wer seine Mails später einmal lesen würde. Sie war kein intimer Kenner von EDV-Anwendungen und daher nicht sicher, ob man auch Chats verfolgen konnte. Daher wollte sie ihm nur vage Auskunft geben. Sie würde auf keinen Fall ihren richtigen Arbeitgeber nennen.

      „Ich bin in der Gemüsebranche tätig, reicht dir das? Was machst du denn genau?“

      „Ich bin bei einem Investmentunternehmen für Geldanlagen zuständig. Du bist also in der Gemüsebranche, das heißt in ein

      „Stimmt, so etwas wie Bondella und du bist so etwas wie ein Banker? Hast du auch den Leuten das Geld abgenommen, um es sicher in amerikanische Immobilien zu investieren?“