Bernd Franzinger

Lehrer Lämpel lebt!


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ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Er schenkte sich ein und trank einen Schluck. Als er das Kribbeln der Kohlensäure auf der Zunge spürte, leckte er sich verdutzt die Lippen. Erst jetzt bemerkte er die aufsteigenden Gasperlen in seinem Glas. Kopfschüttelnd faltete er die Hände zu einem stillen Gebet. Anschließend klappte er den Deckel auf.

      Wirf mal einen Blick in die Schublade!

      Lämpel nahm den Oberkörper zurück und zog die Tischschublade bis an seinen Bauchnabel heraus.

      »Du hast wirklich an alles gedacht. Danke«, sagte er in die Stille hinein.

      Diesmal antwortete die Stimme nicht. Staunend entnahm er eine Meerschaumpfeife, Tabak, Zündhölzer, einen Pfeifenstopfer sowie einen Aschenbecher.

      »Ist zwar leider nicht meine alte«, murmelte Lämpel, als er die Pfeife begutachtete. »Die hier ist ganz neu, das Tonmaterial ist noch marmorweiß, richtig jungfräulich.« Er kicherte hinter vorgehaltener Hand.

      »Aber sie liegt ausgesprochen gut in der Hand. Meine alte wäre mir zwar lieber, aber die ist mir ja damals bei dem heimtückischen Anschlag dieser Lauselümmel um die Ohren geflogen.«

      In aller Ruhe stopfte er seine Pfeife, zündete sie an und schmauchte genüsslich ein paar Züge. Dann blätterte er um.

      Sehr geehrter Herr Lehrer Lämpel,

      wenn Sie diese Zeilen lesen, habe ich bereits meine letzte Reise angetreten. Mein Name ist Theodor Busch. Ich bin der Urenkel des berühmten Schriftstellers, Malers und Satirikers Wilhelm Busch. Seit fünf Generationen bewohnt unsere Familie dieses schmucke Fachwerkhaus.

      Da ich keine Nachkommen habe, ist es nun an mir, das Vermächtnis meines Urgroßvaters in die Tat umzusetzen und Sie zum Leben zu erwecken. (Das war nebenbei bemerkt nicht sonderlich schwer, schließlich musste ich mich dazu lediglich neben die Tiefkühltruhe stellen, Ihnen den 4. Streich aus ›Max und Moritz‹ vorlesen – und den Stecker ziehen.)

      Bis zum heutigen Tag haben wir unser Familiengeheimnis wie einen Schatz gehütet. Die Biographen meines Urgroßvaters behaupten zwar immer noch unverdrossen, dass er für seine mit schwarzem Humor gespickten Geschichten fiktive Figuren verwendet habe. Dem ist aber definitiv nicht so. Alle in ›Max und Moritz‹ auftauchenden Personen haben tatsächlich existiert, wenn auch manche unter anderem Namen.

      Für Sie trifft diese Einschränkung jedoch nicht zu, denn Sie haben damals als Dorfschulmeister Lämpel gewirkt. Im Gegensatz zu den anderen literarischen Figuren leben Sie allerdings noch. Diese Behauptung mag Sie verblüffen und Ihnen unwirklich erscheinen, aber sie entspricht der Wahrheit. (Wovon Sie sich im Übrigen selbst überzeugen können, indem Sie sich in die Nase zwicken.)

      Max und Moritz’ Attentat mit dem Flintenpulver hat Sie damals zwar ziemlich zugerichtet, aber Sie wurden dadurch nicht getötet, sondern sind ins Koma gefallen. Diesen gravierenden Unterschied bemerkte aber anscheinend niemand, denn man hat Sie für tot erklärt und kurz darauf bestattet. Da sich Wilhelm Busch Ihnen sehr verbunden gefühlt hat und Sie nach Ihrem vermeintlichen Ableben unbedingt in seiner Nähe haben wollte, schlich er bei Nacht und Nebel auf den Friedhof und hat Ihren Sarg wieder ausgegraben.

      Eigentlich wollte er Sie in unserem Garten beerdigen. Als er jedoch den Sarg öffnete, bemerkte er, dass Ihr Körper keinerlei Anzeichen einer Verwesung aufwies. Bei einer näheren Begutachtung stellte er schließlich fest, dass Sie sich in einem tiefschlafähnlichen Zustand befanden. Daraufhin hat er Sie als lebende Mumie in unserem Keller versteckt.

      Durch die Explosion sind Sie offensichtlich dauerhaft konserviert worden. Obwohl Sie all die Jahre über weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich genommen haben, sind Sie nicht gestorben. Zudem hat Sie dieser Lausbubenstreich anscheinend unverwundbar gemacht.

      Mit eigenen Augen habe ich einmal beobachtet, wie eine Ratte an Ihrer Hand herumnagte. Kurz darauf fiel sie tot um, während die Wunde sofort wieder zuheilte. Irgendwann hatte mein Vater dann die geniale Idee mit der Tiefkühltruhe. Damit war das Rattenproblem ein für alle Mal erledigt. Selbst diese hohen Minustemperaturen konnten Ihnen nichts anhaben. Sie sind eben ein medizinisches Wunder!

      So, jetzt aber zu einem weiteren Familiengeheimnis. Sie erinnern sich bestimmt daran, dass der kleine Wilhelm damals von seinem Vater in einem Akt barbarischer Willkür von Ihrer Dorfschule abgemeldet wurde. Dieser Schock hat bei Wilhelm ein Trauma ausgelöst, unter dem er zeitlebens gelitten hat.

      Andererseits hat dieses einschneidende Erlebnis aber auch ein außergewöhnliches Interesse an Bildungsfragen in ihm erweckt. Aus diesem Grund hat mein Urgroßvater testamentarisch verfügt, dass seine Nachkommen in regelmäßigen Abständen das aktuelle Schulsystem einer kritischen Analyse unterziehen sollen. Und da ich, wie bereits erwähnt, keine Nachkommen habe und selbst nicht mehr am Leben bin, fällt Ihnen diese wichtige Aufgabe zu.

      Nun, mein lieber Lehrer Lämpel wird es ein wenig makaber: Nachdem Sie das Dossier mit der ungeschminkten Bestandsaufnahme des deutschen Schulwesens zusammengestellt haben, müssen Sie es in unserer Familiengruft deponieren. Bisher sind alle dort abgelegten Dossiers innerhalb kürzester Zeit aus der Gruft verschwunden, so als ob sie Wilhelm höchstpersönlich abgeholt hätte. Richtig unheimlich, nicht wahr?

      Die nächsten Stunden verbrachte Lämpel mit der Lektüre des übrigen Ordnerinhaltes. Der Integrationshelfer in sein neues Leben hatte wirklich an alles gedacht. In einem Regal lagerten Tageszeitungen, mit deren Hilfe sich Lämpel aktuelle Informationen besorgen und sich in die Sprache der Gegenwart einlesen konnte.

      Dort stieß Lämpel auch auf ein Geschichtsbuch, das einen kompakten Überblick über die wichtigsten Ereignisse und Veränderungen der letzten eineinhalb Jahrhunderte enthielt. In einer Klarsichthülle entdeckte er einen auf seinen Namen ausgestellten gültigen Personalausweis und ein notariell beglaubigtes Testament, das ihn als rechtmäßigen Besitzer dieses Hauses auswies. In einer Anmerkung unterrichtete ihn Theodor Busch darüber, dass er ihn bereits vor Wochen im Dorf als entfernten Verwandten und seinen potentiellen Alleinerben avisiert habe.

      In diesem Aktenordner stieß Lämpel zudem auf ein amtliches Dokument des Kultusministeriums, das ihm überall Tür und Tor öffnen sollte. Es handelte sich dabei um eine perfekt gefälschte Bestallungsurkunde zum Oberministerialrat mit Sonderaufgaben und uneingeschränkten Befugnissen. Und zu guter Letzt hatte sein verstorbener Mentor zu jedem im Haus befindlichen technischen Gerät die Bedienungsanleitung abgeheftet und wertvolle Tipps beigefügt.

      »So, Herr Lehrer Lämpel, das war’s. Ich hoffe, dass Ihnen diese Informationen helfen werden, sich in unserer modernen, ziemlich verrückten Welt einigermaßen zurechtzufinden«, las Lämpel laut vor. »Dabei wünsche ich Ihnen von Herzen viel Glück! Ihr Theodor Busch.«

      Als er den Ordner zuklappen wollte, bemerkte er am unteren Ende der Seite ein Postskriptum.

      »An Ihrer Stelle würde ich mich jetzt umgehend ins Bad begeben und mich ein wenig zurechtmachen. Denn so, wie Sie aussehen, können Sie sich unmöglich unter Ihre Mitmenschen wagen. Außerdem muffeln Sie ganz gewaltig.«

      Reflexartig schnüffelte Lämpel an seiner Kleidung, doch die war neu und roch entsprechend. Also lüpfte er den Halsausschnitt seines Unterhemdes und steckte die Nase hinein. Der strenge Geruch, der sein Riechorgan narkotisierte, überzeugte ihn schlagartig von Buschs Behauptung.

      Da er stets auf tadellose Bekleidung und ein gepflegtes Äußeres geachtet hatte, war ihm dieser Vorwurf extrem peinlich. Er eilte ins Badezimmer – und erschrak fürchterlich. Denn diese Gestalt, die ihm im Spiegel mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte, hatte mit dem Bild, das er von sich selbst in Erinnerung hatte, wahrlich nichts mehr gemein. Zwar trug sein Visavis ein tadellos sitzendes, dunkles Sakko und ein sauberes Hemd. Aber der Männerkopf über dem Stehkragen!

      »Oh je«, stieß Lämpel entsetzt aus, als er sein rußgeschwärztes Gesicht, die schulterlangen Haare und den dünnen, graumelierten Vollbart erblickte.

      »Wie ein Ziegenbock, der in den Kohlenkeller gefallen ist.«

      Er hielt nach einem Wasserbottich Ausschau, konnte aber nichts Derartiges entdecken. Mit gekrauster Stirn spielte er an der Mischbatterie herum.