Bernd Franzinger

Lehrer Lämpel lebt!


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      Ein Plastikkärtchen versetzte ihn noch mehr in Erstaunen.

      Mit dieser EC-Karte können Sie an jedem Bankautomaten Geld abheben, hatte Theodor Busch geschrieben. Lämpel verzog das Gesicht so, als ob ihm gerade ein üblen Geruch in die Nase steigen würde. Machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen Sie schon hin. Heute Nachmittag trainieren Sie spielerisch die dafür erforderlichen Abläufe. Und jetzt besorgen Sie endlich frische Brötchen.

      »Gemach, gemach«, grummelte Lämpel, während er den Chip der Plastikkarte mit seiner Fingerkuppe streichelte.

      »Was für ein seltsames, goldenes Ding. Und damit soll ich an Geld kommen?«

      Höhnisch stieß er einen Schwall Luft durch die Nase. »Da bin ich aber gespannt wie ein Flitzebogen, ob das wirklich geht.«

      Lämpel öffnete die Haustür, stellte sich auf die Treppenempore und sog tief die frische Morgenluft ein. Es war windstill, die Wiesen dampften und am Himmel war kein einziges Wölkchen zu sehen.

      Richtig schön ist es hier, dachte er mit Blick auf den gepflegten Vorgarten, der mit einem grüngestrichenen Lattenzaun eingefriedet war.

      Vor eineinhalb Jahrhunderten war seine Heimatgemeinde noch stark von der Landwirtschaft geprägt. Doch die Bauernhöfe, die früher an das Haus der Familie Busch angrenzten, wurden in der Zwischenzeit entweder abgerissen oder umgebaut. Auch bei seinem anschließenden Rundgang entdeckte Lämpel nirgendwo auch nur den kleinsten Hinweis auf einen bäuerlichen Betrieb.

      Ein Dorf ohne Misthaufen ist doch gar kein richtiges Dorf, grollte er im Stillen. Diese modernen Menschen halten noch nicht einmal Hühner. Ja, wo kriegen die denn ihre Eier her? Na, wenigstens steht unsere alte Kirche noch.

      Als er die zentrale Straßenkreuzung der Ortschaft erreichte, hielt er nach dem Schulgebäude Ausschau, in dem er damals als Dorfschulmeister mehrere Jahrzehnte lang gewirkt hatte. Doch seine geliebte alte Schule war wie vom Erdboden verschluckt. An dem Platz, an dem sie früher stand, parkten einige Autos.

      Vor seinem geistigen Auge tauchte das Fachwerkhaus auf. Hinter den zur Straße gelegenen Sprossenfenstern war die Schulstube untergebracht. Im rückwärtigen Gebäudeteil hatte er logiert. Wehmut erfasste ihn. Er riss sich von diesem beklemmenden Anblick los und trottete weiter.

      Hinter der nächsten Straßenecke erspähte er das Ziel seiner zweiten Exkursion: die Bäckerei. Gemeinsam mit einem Drogeriemarkt, einer Metzgerei, einem Getränkeshop und der Sparkassenfiliale bildete sie das Einkaufs- und Dienstleistungszentrum der Gemeinde.

      Zu seiner Zeit gab es hier im Dorf lediglich den von Wilhelm Buschs Vater betriebenen Kramladen, in dem allerdings nur selten Brot verkauft wurde. Damals brachte der Bäcker den Sauerteig zu den Bauernhöfen. Mit dem hauseigenen Weizen- oder Roggenmehl wurde eine große Menge Brotteig angerührt und zehn bis fünfzehn Brotlaibe daraus geformt. Diese wurden dann in das Backhaus des Dorfes gefahren und gebacken.

      Die Brote mussten im Schnitt für etwa vier Wochen reichen. Damit sie nicht austrockneten, bedeckte man sie mit Tüchern und lagerte sie im Keller. Als Schulmeister musste sich Lämpel um die Brotbeschaffung nicht kümmern, denn er wurde von den Eltern der Kinder stets reichlich mit allen möglichen Naturalien versorgt.

      Staunend suhlten sich seine Augen in der Schaufensterauslage, in der die verschiedensten Backwaren feilgeboten wurden. Wellness-Krustenlaibe, 5-Körner-Brote, Baguettes, Laugen-Croissants, Ciabattas, Bio-Vital-Stullen, las er abgehackt, ohne den Inhalt der jeweiligen Begriffe zu verstehen.

      Die modernen Menschen leben wahrlich in einem Schlaraffenland, kommentierte er in Gedanken. Aber diese Körner überall. Ganzkornbrot? Wieso essen diese Leute freiwillig Vieh- und Vogelfutter? Haben die denn keine Getreidemühlen?

      Verstohlen beobachtete Lämpel den Verkaufsraum und wartete ungeduldig, bis der einzige Kunde endlich seinen Einkauf beendet hatte. Dann huschte er in die Bäckerei und gab seine auswendig gelernte Bestellung auf. Theodor Busch hatte ihn offensichtlich auch hier avisiert, denn die dickliche Dame hinter dem Tresen behandelte ihn wie einen alten Bekannten, jedoch ohne ihn mit aufdringlichen Fragen zu belästigen.

      Nachdem er seinen Auftrag erfüllt hatte, schlenderte Lämpel gedankenversunken über einen mit Blaubasaltsteinen gepflasterten Fußweg, der sich neben einer prächtigen Lindenallee bis zum Bahnhof schlängelte.

      Linker Hand zweigte ein Pfad ab, an den er sich noch sehr gut erinnerte. In seinem früheren Leben diente er ihm als Ausgangspunkt für seine täglichen Spaziergänge hinüber zu einem weitläufigen Waldgebiet.

      Die Dorfbewohner konnten ihre Uhr danach stellen, denn er tauchte stets um dieselbe Uhrzeit auf. Der Dorfschullehrer Lämpel war ein sehr disziplinierter Mensch. Diese Kardinaltugend pflegte er mit allen Mitteln seinen Schülern einzutrichtern.

      In den zwischen Dorf und Wald gelegenen Feldern und Wiesen war er häufig Wilhelm Busch begegnet. Der leidenschaftliche Dichter und Maler saß meist in der Nähe des schmalen Flüsschens auf einem Grenzstein, zeichnete Skizzen auf seinen Block oder bastelte an neuen Versen herum.

      Vor 150 Jahren überspannte hier tatsächlich eine schmale Holzbrücke den Bach. Sie sah genauso aus, wie diejenige, die Wilhelm Busch in seine ›Max und Moritz-Geschichte‹ eingebaut hatte. Schmunzelnd rief sich Lämpel eine Szene ins Gedächtnis, die er selbst erlebt hatte.

      Hieronymus Böck betrieb damals in unmittelbarer Nähe des Bachs eine Schneiderwerkstatt. Eines Nachmittags betrat er den Steg. Ehe er sich versah, zerbrach die Holzbrücke unter seinem Gewicht und er stürzte ins Wasser. Lämpel und eine tatkräftige Nachbarin retteten ihn vor dem Ertrinken. Die Nachbarin hieß Bolte. Sie war Witwe und hielt wie viele ihrer Zeitgenossen Hühner.

      Dieser Wilhelm Busch war schon ein arger Schlingel, sagte Lämpel zu sich selbst. Er wiegte den Kopf hin und her. Welche bösen Streiche er sich für seine Max-und-Moritz-Geschichten ausgedacht hat. Dabei habe ich in all den Jahren nie einen Schüler unterrichtet, der Max oder Moritz hieß. Wen er wohl mit diesen beiden Vornamen gemeint hat?

      Brummend strich Lehrer Lämpel über sein glattrasiertes Kinn.

      Es gab ja viele Lausbuben damals, erinnerte er sich. Aber in meiner Schule waren sie alle brav.

      Lämpel grinste und ergänzte in Gedanken: meistens jedenfalls. Und wenn mal einer nicht richtig pariert hat, habe ich ihn übers Knie gelegt und ihm mit dem Rohrstock anständig den Hintern versohlt.

      Oder ich habe ihn ein paar Stunden in den Karzer gesteckt. Danach war selbst der schlimmste Lauselümmel handzahm wie ein Lämmchen. Wie steht es schon in der Bibel: ›Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.‹

      Lehrer Lämpel blieb stehen und reckte den linken Zeigefinger empor.

      In meinem Unterricht habe ich großen Wert auf Ruhe, Ordnung, Fleiß, Sauberkeit und Disziplin gelegt, sagte er tonlos. Diese Kardinaltugenden sind die Grundpfeiler einer jeden guten und gerechten Schule!

      Damit liegst du goldrichtig, mein lieber Lehrer Lämpel. Ich bin sehr gespannt, ob diese Kardinaltugenden auch heute noch gelten. Als dein amtlich bestallter Vorgänger die Bildungsanstalten zum letzten Mal inspizierte, wehte jedenfalls der Geist deiner alten Schule noch durch die Gemäuer. Das ist jetzt allerdings auch schon 50 Jahre her.

      Als Lämpel die Stimme in seinem Kopf hörte, fuhr er zusammen und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen um.

      Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich jetzt gleich um die Ecke biege. Nein, nein, du wirst mich niemals zu Gesicht bekommen. – So, und nun spitz die Ohren, denn ich habe eine neue Aufgabe für dich. Bist du bereit?

      »Ja«, erwiderte Lämpel alles andere als begeistert.

      Du fragst nun irgendjemanden, wo der Kindergarten ist.

      »Der Kin-der-gar-ten?«, erwiderte Lämpel mit geschürzten Lippen, wobei er das Wort in seine einzelnen Silben zerlegte.

      »Was ist denn das? Ich weiß zwar, wie ein Kräutergarten oder ein Gemüsegarten aussieht, aber ein Kindergarten. Werden dort Kinder angepflanzt?«