Hymer Georgy

Geheimauftrag für SAX (4): SPECTATOR II


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Maximilian zu Leiningen mit dem legendären Bugatti T35B; zwei deutsche Rennfahrer, die auch hiernach noch einige Erfolge verbuchen konnten. Doch das war Geschichte, und zuweilen versunken im allgemeinen Vergessen. Nur eine kleine bebilderte Ausstellung im Hauptgebäude des Motorsportverbandes erinnerte noch an jene frühen Tage. Im Zuge zunehmenden Sicherheitsbewusstseins hatte man 1985 mit dem Neubau einer Rennstrecke innerhalb des alten Circus begonnen. Seit deren Fertigstellung gab es dort nun jährlich eine Anzahl landeswichtiger motorsportlicher Ereignisse, aber nur wenige von internationalem Rang. Eines der letzteren war der oft immer noch so genannte „Herbstpreis“, der inzwischen jedoch offiziell umgetauft war.

      Die „Masaryk Racing Days“ waren in vollem Gange. Der finale Lauf der Division 4, bei dem sich die besten Tourenwagenfahrer Mitteleuropas maßen, befand sich in seinen letzten fünf Runden. Es sah im Moment fast so aus, als würde diesmal Lamborghini das Rennen für sich entscheiden, aber noch war das Rennen nicht zu Ende. An die tausend Zuschauer mochten das Geschehen auf dem Gelände verfolgen, verteilt auf die verschiedenen Schikanen der Strecke, der überwiegende Teil davon im Bereich des späteren Zieleinlaufes oder eingangs der berüchtigten „Omega-Kurve“. Überall wehten große tschechische Fahnen, die Flaggen des Motorsportverbandes und jene aller anderen beteiligten Nationen von den Masten, und es mangelte auch nicht an Werbebannern zahlreicher Sponsoren.

      Günter Freysing stand inmitten einer lose verteilten, aber nicht geringen Anzahl Schaulustiger unter einem aufgesetzten Strohhut am nordöstlichen Ausläufer der Piste nah am Geschehen und setzte das kleine Fernglas ab, mit dem er die sich etwas entfernter abspielende Szenerie beobachtet hatte. Das, was er dann kurz von oben herab zu dem kleinwüchsigen Einheimischen neben ihm sagte, ging im Lärm der nahenden Motoren und dem aufkommenden Beifall der Zuschauer unter.

      Der angesprochene, Ernö Kicsi, war zwar ungarischer Abstammung, lebte aber seit seinem siebenten Lebensjahr im heutigen Tschechien, welches damals noch Teil der zerfallenen Tschechoslowakei gewesen war. Er mochte mitte fünfzig sein, wirkte aber älter, maß knapp einen Meter siebenundfünfzig, wenn er wie jetzt Schuhe mit extrahohen Absätzen trug, und besaß ein wettergegerbtes, runzeliges Gesicht. Seine dunkelbraun nachgetönten Haare waren an den Stirnseiten schon etwas zurückgegangen und dabei kurz und kraus. Er trug ein fast fieses, offenmundiges Grinsen zur Schau, das jeden halbwegs intelligenten Menschen davon abhalten sollte, einen Gebrauchtwagen von ihm zu erwerben. Das, was er Freysing anzubieten hatte, war jedoch ganz anderer Natur, und der deutsche Agent instinktiv misstrauisch genug für diesen Handel. Sax überlegte, was er aus der Datenbank des BND sonst noch über den gebürtigen Magyaren wusste.

      Ernö Kicsi, Mitte der Neunzehnhundertsechziger Jahre zusammen mit seinen Eltern Arpad und Réka nach Prag übergesiedelt, hatte er dort zunächst die Schulbank gedrückt und war dreisprachig aufgewachsen. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Universität konnte er aufgrund seines ausgezeichneten Hochschulabschlusses in ein bekanntes ursprünglich deutsches Maschinenbauunternehmen eintreten, in welchem er zeitlebens arbeitete. Dieses, bereits 1889 als „Königsfelder Maschinenfabrik“ gegründet und zunächst auf den Bau von Straßen- und Eisenbahnwaggons spezialisiert, beschäftigte sich in der Zeit, als sich Ost und West nach dem zweiten Weltkrieg waffenstarrend feindselig gegenüberstanden, zunehmend mit der Entwicklung und Produktion von petrochemischen Stoffen. Vom politischen System der elterlichen Wahlheimat nicht überzeugt und zudem ständig knapp bei Kasse, war Kicsi 1981 eine leichte Beute für die Anwerber des BND in Gestalt eines Mannes, den Günter Freysing einige Jahre später selbst als August in Leipzig kennenlernte, gewesen. Diese suchten zu jener Zeit politikbestimmt im „Ostblock“ willfährige Informanten in rüstungsnahen Betrieben für die Humint-Aktivitäten des westdeutschen Auslandsgeheimdienstes. Da man seinerzeit hinter der Entwicklungsabteilung des Unternehmens eine geheime Forschungseinrichtung für Chemiewaffen vermutete, war es ins Visier des BND geraten, und Ernö Kicsi hatte nach seiner Rekrutierung regelmäßig Informationen aus dem Werk beschafft. Das blieb auch so, nachdem der Ostblock längst zusammengebrochen war, nur waren diese Informationen nun nicht mehr so wertvoll wie früher, und wurden freilich auch schlechter bezahlt.

      Günter Freysing kannte dieses Spiel nur zu gut. Auch er war schließlich vor vielen Jahren auf diese Weise angeworben worden, zunächst als „Insider“ der Revolution in der DDR; später hatte er Geschmack an der Geheimdienstarbeit gefunden und wurde wegen seiner Fähigkeiten in den operativen Agentendienst berufen. In der Zeit nach der „Wende“ und dem baldigen Abschluss seines Studiums war Freysing einige Male im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes im zusammenbrechenden Ostblock tätig gewesen. Stets ging es dabei um heikle, zuweilen gar lebensgefährliche Missionen. Doch seit dem verhängnisvollen Jahr 2001, als islamistische Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers von New York steuerten und damit das Gesicht der Welt veränderten, hatte sich auch sein Tätigkeitsbereich schnell verlagert. Anstelle von Osteuropa standen der Nahe Osten und Nordafrika mehr auf seiner Reiseliste. Jedoch kannte er Tschechien sehr gut, und er war auch schon drei, viermal in Brno gewesen. Die heute etwa vierhunderttausend Einwohner zählende Stadt war, das wusste er, neben Prag die bedeutendste Metropole des Landes und mit vielen Forschungseinrichtungen und Industriebetrieben auch ein wichtiger Messeplatz – und damit ein Tummelplatz der Wirtschaftsspionage.

      Der Bundesnachrichtendienst beorderte seinen besten Mann nunmehr eigentlich aus nur einem Grund nach so langer Zeit erneut hierher: Jener Führungsagent, der die Kontrolle über Kicsi ausübte, ein Mann namens Marius Holler, den Freysing nicht persönlich kannte, hatte sich seit einigen Tagen nicht mehr routinemäßig gemeldet. Auch in der deutschen Residentur in Prag, wo der Spion ein offizielles Büro als mittlerer Beamter unterhielt, wusste man nichts über dessen weiteren Verbleib, außer dass er nach Brno hatte fahren wollen, angeblich um sich mit verschiedenen Kontakten zu treffen.

      Früher einmal, im kalten Krieg, wäre ein solches Ausbleiben eines führenden Agenten sehr besorgniserregend gewesen, und man hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Heute jedoch, da sich Ost und West näher gekommen und Internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität und Wirtschaftsspionage mehr in den Fokus der Geheimdienste gerückt waren, bedeutete das Verschwinden eines Mannes in einem osteuropäischen Land nicht mehr unbedingt gleich dessen Entführung oder Ermordung – wenngleich genau jener kalte Krieg zwischen Russland und den westlichen Staaten durch die gefährlichen Entwicklungen in der Ukraine im Laufe des Jahres wieder deutlich angeheizt worden war.

      Ein wichtiger Mensch im Ministerium hatte Generalmajor Stoessner, seit einiger Zeit ja Freysings Vorgesetzter beim BND, jedoch entweder eines Anderen überzeugt oder unter leichten Druck gesetzt, und so war der Agent zu diesem eher unscheinbaren Auftrag von ihm in Marsch gesetzt worden. Schon länger war da ein schöner, leider viel zu kurzer Urlaub mit seiner neuen Lebensgefährtin Katie bei St. Aygulf an der französischen Mittelmeerküste zu Ende gegangen, die er im Zuge der „Stahlmann-Verschwörung“ kennen und lieben gelernt hatte. Nun war Sax mitten in seinem neuen Fall drin, immerhin. Wenn auch in einem, wie er fand, eher tristen.

      Sax betrachtete die Suche nach Marius Holler nicht als besonders wichtig. Natürlich verschwanden BND-Führungsagenten nicht jeden Tag, eigentlich kam es so gut wie nie vor. Dieser hier war weder sonderlich bedeutend noch ein außergewöhnlicher Geheimnisträger, und so würde sich am Ende wahrscheinlich herausstellen, dass sein Verschwinden sehr trivialen Gründen unterlag oder auch nur temporär war.

      Freysing hatte in den letzten beiden Tagen bereits drei Kontaktleute, also „Spione“ im eigentlichen Sinn dieses Wortes, aus bedeutsamen Werken und verschiedenen Forschungseinrichtungen der Region getroffen, welche Holler in unregelmäßigen Abständen Informationen lieferten. Keiner der Befragten wusste etwas über dessen Verbleib auszusagen. Ernö Kicsi war der vierte Versuch, vielleicht doch etwas Sachdienliches zu erfahren. Der nicht ganz freiwillige Wahltscheche schien allerdings mehr daran interessiert, sein Material zu verkaufen, bevor es durch das Verstreichen von Zeit noch mehr an Wert verlor.

      Die Spitzengruppe des Rennens durchfuhr nun die Omega-Kurve, und in der kurzen Lärmpause bis zum Herannahen des Feldes schrie der vertikal gehandicapte Unsympath ungeduldig zu Freysing hinauf: „Wollen Sie es nun haben, oder nicht?“

      „Geben Sie her!“, meinte dieser ruhig, wenn auch ebenfalls laut.

      Ernö