Matthias Matussek

Sucht und Ordnung


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werde in diesem Buch nicht nur über das Schmachten und die Gier nach Zigaretten und Nikotin schreiben, sondern auch über andere potente Süchte. Und ich werde sie nicht verteufeln, diese Süchte, denn es gäbe sie nicht, wohnte ihnen nicht diese ewige Glücksverheißung inne. Es gibt (um ein altmodischeres Wort zu verwenden) Laster, derer sich selbst der Hl. Augustinus eine beträchtliche Zeit lang nicht erwehren wollte, da sie zum Erfahrungsschatz eines Lebens gehören.

      Ob Sie sich nach der Lektüre dieses Buches hinreichend ermutigt und motiviert fühlen, den überraschend einfachen Schritt in die Nichtraucherfreiheit zu wagen, das vermag ich nicht zu sagen. (Prognosen sind, wie Mark Twain schon wusste, immer etwas problematisch – besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.)

      Aber ich bin guter Hoffnung, Sie werden ihn sich ernsthaft überlegen, diesen Schritt – und auf dem Weg dorthin mit meinem Buch hier besser unterhalten sein als ohne!

      Gelegentlich werden Ihnen wahrscheinlich Räucherstäbchen-Wolken oder Haschisch-Schwaden aus den unschuldigeren Zeitgefilden der 60er Jahre, der Hippiejahre, entgegenwehen. Die haben mit meiner Herkunft zu tun, mit meiner „éducation sentimentale“, meiner „Geschichte eines Jungen Mannes“, wie Flauberts Roman im Untertitel hieß, also mit meiner pubertären Gefühlsbildung.

      Dann machen Sie es wie ich: Lächeln Sie gütigst über diesen Verrückten, der in seinen jungen, wilden Jahren kaum etwas anderes im Kopf hatte als diese sehr amerikanische Counterculture, die ohne Drogen überhaupt nicht vorstellbar war und ist – was übrigens ebenso gilt für das babylonische Berlin der 20er Jahre, in denen der heilige Hugo Ball mit der morphiumsüchtigen Kabarett-Sängerin und tieffrommen Gelegenheitsprostituierten Emmy Hennings zusammenlebte, die vom ebenfalls morphiumsüchtigen Johannes R. Becher umworben wurde.

      Also – ein bisschen Gelächter und Gegröhle ist angebracht über diesen kiffenden Loser und Hippietrottel und Säufer und Gelegenheitsjunkie, der eine Zeit lang im Marxismus wie auch in vernünftig gebauten Joints die Mittel zur Behebung des menschlichen Elends gefunden zu haben glaubte, bevor er erwachsen wurde – und erst jetzt, hochbetagt, es endlich schaffte, das Rauchen aufzugeben.

      Dass ausgerechnet aus diesem ehedem idiotisch-linken Hippie-Sumpf nunmehr also ein angejahrter Reaktionär hervorgekrochen kömmt, ist das ist nicht eine hinreißende Pointe der Evolution (nicht zuletzt auch für mich selber)? Für manch einen womöglich sogar eine Enttäuschung – dann aber auf beiden Seiten des politischen Spektrums; dies sei mir das Tröstliche daran!

      Aber Scheiß auf die derzeit politisch angesagten Anstandsregeln, auf das ganze Kulturgewese, auf diesen staatlich betreuten Meinungsschnickschnack! Ich schreibe nicht für Merkel-Wähler und andere Herdenmenschen; Unabhängigkeit hatte schon immer ihren Preis.

      Wahre Unabhängigkeit duldet ohnehin nur eine einzige Bindung, und die ist stärker als jedwede Sucht (und das Buch dazu habe ich bereits geschrieben; es heißt „Das katholische Abenteuer“).

      SUCHT & ORDNUNG

      Mein ganzes Leben lang war ich süchtig – auf die ein oder andere Art neugierig bis gierig! Gierig nach irgendetwas! Gierig nach mehr! (Denn spätestens seit Mae West wissen wir: Zuviel des Guten kann wundervoll sein! Und überhaupt: Nicht weniger ist mehr; mehr ist mehr!)

      „Please Sir, I want some more“ sagt Oliver Twist, als er sich beim Essen im Waisenhaus dort ein zweites Mal anstellt, für einen Nachschlag – eine graue Pampe, die kaum sättigt – und löst damit einen Skandal aus. Köchinnen und Schwestern trauen ihren Ohren nicht! Den beleibten Honoratioren fällt der Zwicker von der Nase! Der Prinzipal schwingt den Rohrstock!

      Diese Bitte nach „Mehr“ ist ein Aufstand gegen die Ordnung. Doch „Mehr“ ist noch mehr – so weiß der Koch, dass ebendiese Forderung ein paar Jahrzehnte zuvor die Französische Revolution auslöste – ja, dieses „Mehr“ hat die Welt verändert! Also verschlägt’s dem Koch die Sprache, Oliver bekommt eins mit dem Löffel auf den Kopf, der Kirchendiener Bumble erstattet den Vorständen schwer atmend Bericht, und das Folgende ist der satirische Sound jenes Dickens, der sich selber „unnachahmlich“ genannt hatte.

      „Mehr?“, rief Mr. Limbkins. „Kommen Sie zu sich, Bumble. Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?“

      „Jawohl, Sir.“

      „Der Bursche kommt noch an den Galgen“, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. „Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.“

      Dickens‘ Figuren wollen mehr vom Leben, als die Gesellschaft ihnen zuteil werden lässt – das ist der Motor, der sie antreibt, der Optimismus, der sie beflügelt. Die Dickens-Waisen – vom frühen Oliver Twist bis zum späten Pip in „Große Erwartungen“ –, sie sind revolutionärer als jede Gewerkschaft.

      Lebenshungrige Anarchisten sind sie! Unschuldig wie Kinder! In eine Welt geworfen, die ihnen auf den ersten Blick alle Chancen verwehrt. Deshalb sind sie universell. Denn sie sagen: Ich will mehr!

      Ich schrieb für den Spiegel über Dickens, zu seinem 200. Geburtstag, und ich suchte Dickens-Figuren im London von 2012, kurz nachdem dort Jugendliche in einer Revolte (der Anlass war der Schuss eines Polizisten auf einen Schwarzen) im East End Läden geplündert hatten.

      Ich sprach mit der schwarzen Bianca, die ihre eigene Dickens-Geschichte lebte, ihr prügelnder Vater hatte sich aus dem Staub gemacht („Gottseidank!“), die Mutter schuftete als Putzfrau, sie versuchte, aus ihrem Leben etwas zu machen – wenngleich auch ‚irgendwas mit Medien’. Ebenso sprach ich mit Complex, dem ehemaligen Koksdealer und Grime-Music-Produzenten und mit seinen jungen

       Rappern – und einer von den Kiffern auf der Matratze in diesem Council-House auf der Anhöhe über Lewisham hatte einen jüngeren Bruder, der hätte Oliver Twist sein können.

      Soviel erst mal zur gegenwärtigen Drogenkultur und wie selbstverständlich sie heutzutage ins Leben eingebaut ist; machen wir uns bitte nichts vor, nicht nur die Kids; die ganze Gesellschaft säuft oder kokst oder schmeißt Pillen ein – darüber lasst uns hier mal unmißverständlich reden! (Allerdings ohne zu rauchen – Raucher mögen dies draußen tun!)

      Zum Beispiel ich jetzt mal! Von Ärzten und diversen Psychologen höre ich, dass meine Veranlagung zur Sucht (wie auch zur Depression) damit zu tun haben könnte, dass ich ein 7-Monats-Kind bin, also ein sogenanntes „Frühchen“. (Nicht zu verwechseln mit ‚Früchtchen’; das rief man mir erst nach, als ich laufen konnte...)

      Ich bin einfach der Suchttyp und habe mich damit abgefunden. Doch hier kommt der Clou: Am Ende des Buches werden Sie, lieber Leser, sich sagen: Wenn so ein Typ es schafft, mit dem Rauchen aufzuhören – mit dieser stärksten aller Drogen (und ich habe durchaus ein paar spannende Drogengeschichte auf Lager), dann wird es für mich ein ‚piece of cake’ sein!

      Zunächst einmal: Sucht dramatisiert das Leben! Sucht hebt uns in schwindelerregende Höhen – sie lässt uns aber auch abstürzen in schwindelerregende Abgründe. Bisweilen führt sie auch zu aufregenden bis bizarren Doppelexistenzen. Als ich in meinen Anfangsjahren als Journalist soff und von meiner Fahne mit Pfefferminzbonbons abzulenken suchte – wer soff da nicht? –, sprachen mich in den Redaktionen höchstens die darauf an, die es schon hinter sich hatten.

      Als ich in der Herz-Reha erfuhr, die Nikotinabhängigkeit sei noch schwerer zu bekämpfen als die Heroinabhängigkeit, konnte ich da durchaus mitreden, doch davon später.

      Zunächst die Nikotinsucht, denn die ist die purste aller Süchte – das Zen der Sucht! Warum? Sie produziert nichts anderes als – Sucht. Sie schenkt keine angenehmen Gefühle wie Heroin, keine Über-Wachheit oder gar gesteigerten sexuellen Appetit wie Koks oder irgendeinen kreativen Quatsch wie Marihuana, sondern einzig und allein das Wonnegefühl, das sich einstellt, wenn der Abhängige seinen Entzug kurzfristig befriedigt.

      Nun gut, Nikotin hat sich offenbar auch als erfolgreich im Kampf gegen Blattläuse bewährt, aber die halten sich selten bei mir auf dem Schreibtisch auf – geschweige denn im Berliner Szene-Restaurant Borchardt nach 24h, wenn dort gepafft werden darf.

      Also