Werner Hetzschold

Der Nachlass


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so gesprochen. Vielleicht ändert sich nicht nur die Mode, sondern auch die Sprache. Wenn ich mit meinen Freunden so spreche, denken sie, ich bin nicht richtig im Kopf.“

      „Ein ausgezeichneter Sprecher, ein vorbildlicher Sprecher, flüstert ihm die Mutter zu. So musst du sprechen, mein Junge. Jedes Wort spricht er klar und deutlich aus. Keine Silbe verschluckt er. Nimm dir an ihm ein Beispiel und nuschle nicht länger.“

      „Pst!“ machte eine Stimme in ihrer unmittelbaren Umgebung.

      Je länger Thomas das Spiel auf der Bühne verfolgt, desto mehr findet er daran Gefallen. Schauspieler muss ein schöner Beruf sein, denkt er. Jeden Tag bist du ein anderer Mensch. Jeden Tag trägst du ein anderes Kostüm. Das Leben eines Schauspielers ist bestimmt nie langweilig.

      Als Mutter und Sohn nach der Vorstellung zur Straßenbahnhaltestelle gehen, erzählt ihm die Mutter vom Theater. Damals war sie jung und noch nicht verheiratet. Sehr oft ist sie abends ins Theater gegangen.

      „Damals im Alten Schauspielhaus - das stand dort, wo heute der freie Platz vor dem Kaufhaus Brühl sich befindet - gab es noch Stehplätze, erzählt ihm die Mutter. Diese Plätze waren sehr preisgünstig. Von dort oben hatte man eine vorzügliche Sicht. Das ganze Theater war zu überblicken. Die guten Schauspieler waren selbst noch auf dem Olymp, wie die Stehplätze scherzhaft genannt wurden, zu verstehen. Keine Silbe wurde verschluckt. Klar und deutlich wurde gesprochen, wiederholt die Mutter. Dem Martin Flörchinger, den hast du bestimmt schon in Kinofilmen gesehen, bin ich hier zum ersten Mal begegnet. Gut und vornehm sah er damals aus, als er noch jung war. Da war er noch nicht so verfettet wie jetzt. Damals hatte er Profil, schwärmt die Mutter weiter. Und ein Sprecher war er! Seine Worte waren selbst auf dem Olymp klar und deutlich zu hören. Keine Silbe verschluckte er. Es war ein Ohrenschmaus, ihm zuzuhören. Ja, ja, sagt die Mutter, die Zeiten haben sich geändert. Das Alte Schauspielhaus gibt es nicht mehr. Im Kriege wurde es zerstört. Sinnlos zerstört wie so vieles. Das schöne Schauspielhaus! Nun ist es von der Bildfläche verschwunden. Wie so vieles! Alles hat sich verändert. Damals bekamen die Schauspieler Blumen überreicht. Und heute? Nichts ist mehr so, wie es einst war. Alles ist anders geworden, aber nicht schöner.“

      3

      „Am Sonntag findet ein Friedensmeeting statt. Ich erwarte, dass mein Klasse als eine geschlossene Einheit auftritt.“ Dynamisch und forsch ist das Auftreten des jungen Klassenleiters, der in seiner neunten Klasse Deutsch und Russisch unterrichtet. Besonders die Mädchen mögen ihn.

      „Das ist ein toller Mann“, sagen viele, und dabei denken sie sicherlich an seine blonden Locken und die blauen Augen.

      Erst vor wenigen Tagen sagte Michael: „Blondi wird es noch weit bringen. Gerade erst von der Universität gekommen und gleich an eine Erweiterte Oberschule versetzt worden. Das kommt nicht oft vor. Die meisten Absolventen dürfen sich erst an einer Polytechnischen Oberschule bewähren, auch wenn sie das Bonbon tragen. Sag bloß, Thomas, du weißt nicht, was ein Bonbon ist. Dann will ich es dir sagen: Ein Bonbon ist ein spezielles Parteiabzeichen, nämlich das der SED.“

      Am Sonntagvormittag findet sich eine unvollständige neunte Klasse auf dem Schulhof ein. Thomas vermisst Michael. Kurz vor dem Abmarsch schreibt Blondi für alle Anwesenden sichtbar die Namen der fehlenden Schüler seiner Klasse in sein Notizbuch.

      „Mit denen werde ich ein ernsthaftes Wort reden“, teilt er lautstark den Anwesenden mit. „Sie werden begründen müssen - schriftlich -, warum sie nicht zu unserem Friedensmeeting erschienen sind. Ich denke, ihr seht das genauso wie ich. In unserer Gesellschaft kann doch nicht jeder gerade das tun, was ihm einfällt. Wo käme unser Arbeiter- und Bauernstaat wohl hin, wenn jeder nur an sich selbst denkt, nur auf sein persönliches, sein individuelles Wohlergehen bedacht ist. Ich freue mich, dass ihr die gleiche Einstellung habt wie ich und sie auch nach außen hin dokumentiert, indem ihr voller Stolz euer blaues FDJ-Hemd tragt. Auch ich bin stolz auf mein FDJ-Hemd und trage es zu solchen feierlichen Anlässen wie dem heutigen.“

      Als geschlossene Formation marschiert die Schule klassenweise durch die Straßen. Thomas ist froh, dass er keine Fahne tragen muss. Fast wäre er dazu auserkoren worden, aber zum Glück finden sich noch einige Freiwillige, die Pluspunkte sammeln wollen. Thomas taucht in der Mitte der Marschkolonne unter, um möglichst nicht erkannt zu werden. Jeder Aufmarsch ist ihm zuwider. Blondi verteilt Zettel. Auch Thomas bekommt einen in die Hand gedrückt. Darauf steht mit der Schreibmaschine geschrieben: Wir wollen Frieden auf lange Dauer, nieder mit Strauß, nieder mit Adenauer, wir wollen keine Kriegsbarone, wir wollen die atomwaffenfreie Zone.

      „Achtung!“, brüllt Blondi, „sprecht im Chor nach: Wir wollen Frieden auf lange Dauer ...!!!

      Thomas kapselt sich ab, versucht an etwas Schönes zu denken, versucht die Gegenwart zu vergessen, die ihn so ängstigt.

      Thomas steht vor dem großen Gebäude der Leibniz-Oberschule. Unschlüssig ist er, zögert, ob er das Haus betreten soll oder nicht. Noch ist Zeit. Einen flüchtigen Blick wirft er auf seine Uhr, einen weiteren hinüber zur Nordkirche. Noch hat er Zeit, ausreichend Zeit. Er zieht es vor, sich noch einen Augenblick von der Septembersonne wärmen zu lassen. Während er noch vor der Schule ausharrt und sich den Sonnenstrahlen überlässt, beobachtet er, wie immer mehr Menschen, junge und alte, in das Gebäude strömen. Heute ist Semesteranfang. Thomas hat auch einen Lehrgang an der Volkshochschule belegt.

      Der Junge betritt das Gebäude. Gleich im Treppenhaus empfangen ihn riesige Tafeln, auf denen die Lehrgänge und die Zimmernummern angegeben sind. Wie viele andere auch sucht er nach seinem Lehrgang und dem Raum auf den Tafeln, ist glücklich, sie endlich gefunden zu haben. Er steigt Treppen hinauf, folgt langen Gängen. Wie die Humboldt-Oberschule so ist auch die Leibniz-Oberschule ein ehrwürdiger Bau mit Geschichte und Tradition. Wie die Geschichte ändert sich auch die Tradition: Zuerst wurden Gymnasiasten im humanistischen Zeitgeist ausgebildet, dann die geistige Elite des Deutschtums und jetzt erstmals die künftige Intelligenz des ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaates in der deutschen Geschichte.

      Nun steht Thomas vor dem angegebenen Raum. Weit geöffnet ist die Tür. Am Lehrertisch sitzt eine ältere Dame. Sofort bemerkt sie Thomas, fordert ihn freundlich auf, Platz zu nehmen. Beim Betreten des Klassenraumes fällt Thomas auf, dass er nicht der Einzige ist, der die deutsche Hochsprache, die deutsche Hochlautung erlernen möchte. Nicht leicht ist es für ihn, einen noch nicht besetzten Stuhl und Tisch zu finden.

      Er findet seinen Platz am vorletzten Tisch in der Fensterreihe. Etwa zehn Minuten fehlen noch bis zum Unterrichtsbeginn. Thomas hat Zeit, sich im Raum etwas genauer umzusehen. Gleich fällt ihm auf, dass er einer der jüngsten Teilnehmer ist. Zwei Herren im Anzug mit Glatze erregen seine Aufmerksamkeit und Neugierde. Thomas schätzt ihr Alter zwischen 30 und 40 Jahren; vielleicht sind sie aber jünger und sehen nur so alt aus mit ihrer Glatze. Dann sind noch einige schicke Damen im Raum, die Thomas sehr anziehend findet, obwohl sich die Damen sehr voneinander unterscheiden, das beginnt schon bei der Frisur und der Haarfarbe. Ausgiebig betrachtet Thomas die Dozentin, wie sich die Lehrerinnen der Volkshochschule nennen. Sie erinnert ihn an eine Künstlerin, die sicher schon einmal bessere Tage gesehen hat. Ihre giftblond gefärbten Haare, die lang und glatt bis zu ihren Schultern herab wallen und die sie in der Mitte gescheitelt trägt, stehen im Kontrast zu ihrem faltigen, welken Gesicht mit den roten schlaffen Wangen und dem grellroten Lippen. Wenn sie lächelt, zeigt ihr Mund zwei tadellose weiße Zahnreihen. Ihre Zähne erinnern ihn an Frau Schlundt. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid mit einem großen Ausschnitt. Solche Kleider hat Thomas bisher nur bei den Damen im Theater gesehen. Bestimmt kommt sie vom Theater, denkt Thomas, und jetzt arbeitet sie als Dozentin für Sprecherziehung.

      Noch zwei Minuten fehlen bis zum Unterrichtsbeginn. Da betritt ein junger Mann den Raum, nicht viel älter als Thomas. Ohne zu zögern steuert er den Tisch von Thomas an.

      „Der Platz neben dir ist doch noch frei?“ Die Stimme des jungen Mannes klingt sympathisch.

      Thomas nickt ihm freundlich zu. Der junge Mann setzt sich, will gerade etwas zu Thomas sagen. In diesem Augenblick erhebt sich die Dozentin von ihrem Stuhl, strahlt ein breites Lächeln in die Runde, dann beginnt sie zu sprechen: