Werner Hetzschold

Der Nachlass


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      „Warum sollte Thomas verlegen werden? Ich bin überzeugt, der Junge hat genug Selbstvertrauen. Auch hat er keinen Grund dazu, nicht wahr, Thomas?“

      „Der Kuchen schmeckt ausgezeichnet.“ Thomas ist über sich selbst erstaunt, wie schnell ihm dieser Satz über die Lippen gekommen ist.

      „Hast du gehört, Johannes? Schmeicheln kann Thomas auch.“

      „Edelgard, wir gehen jetzt los. Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde.“

      „Habe ich richtig gehört? Volker redet seine Mutter mit dem Vornamen an?“ Wieder ist Thomas überrascht.

      Die Ärztin hatte darauf gedrungen: Vater Boronsky musste sich eine andere Arbeit suchen, eine körperlich leichtere.

      Vater Boronsky wird Kassenbote. Der Betrieb nennt sich Institut, beschäftigt nur Diplomingenieure, Ingenieure, Sekretärinnen, kaum Arbeiter.

      „Den ganzen Tag bin ich auf den Beinen, laufe hierhin, laufe dorthin, gebe etwas Versiegeltes ab, hole etwas Versiegeltes. Und jetzt bin ich noch zum Theaterobmann gewählt worden, habe nicht nur die Theaterkarten zu besorgen, sondern auch die Programme, Prospekte ... Heute habe ich die Anrechtskarten geholt für die Herren Diplomingenieure, Ingenieure, für die Sekretärinnen. Die Arbeiter haben kein Anrecht, obwohl es das Institut gerne sehen würde, wenn die Arbeiter von ihrem Recht auf ein Anrecht Gebrauch machen würden.“

      „Wir brauchen auch kein Anrecht, unterbricht ihn Mutter Boronsky. Wenn Thomas mit mir ins Theater geht, bekommen wir unsere Karten an der Kasse oder wir warten, bis uns welche angeboten werden.“

      „Und das wollte ich gerade tun.“ Ein Lächeln umspielt die Mundwinkel von Vater Boronsky. „Ich wollte euch gerade Karten anbieten, da werde ich auch schon unterbrochen. Ich wollte sagen, es gehört sicher zum guten Ton, dass die Studierten ein Anrecht auf ein Anrecht für das Theater haben, denn bei Weitem nicht alle gehen in die Vorstellung, vielmehr versuchen viele, ihre Karten zu verkaufen, zu verschenken. Zwei Karten habe ich für euch mitgebracht, für das Schauspielhaus.“

      „Ich werde gleich einmal den Spielplan in der Zeitung mir vornehmen.“ Thomas ist von dem Angebot begeistert. Schnell hat er die Seite mit den Theaternachrichten gefunden. „Frau Flint“ bringen sie.

      „Bestimmt so ein neuzeitliches Stück“, meldet sich Vater Boronsky wieder zu Wort, „das kein Mensch sehen will.“

      „Mutter und ich werden es uns ansehen“, entscheidet Thomas.

      Frau Boronsky widerspricht nicht.

      „Da schickt dir Helga zum Geburtstag eine so schöne Hose, und du ziehst sie nicht einmal für die Schule an. Und ich habe gedacht, die ist gerade praktisch, ideal für die Schule. Auch kleidet sie dich. Richtig sportlich siehst du in ihr aus. Wie angegossen sitzt die Hose. Bei uns in den Geschäften habe ich noch nie so eine schöne und praktische Hose gesehen ...“

      „Weil diese Hosen bei uns nicht hergestellt werden. Mutter! Das sind Jeans. Niethosen! Diese Hosen gibt es nur drüben. Und in der Schule ist es verboten, in diesen Dingern herumzulaufen.“

      „Verstehe ich nicht.“ Frau Boronsky sieht ungläubig ihren Sohn an. „Wieso kann etwas verboten sein, was praktisch ist. Obendrein sehen diese Hosen manierlich und schick aus.“

      „Mutter! Weil die von drüben sind! Deshalb!“

      „Deshalb kannst du sie nicht in der Schule tragen? Und wenn einer nur solche Hosen hat? Manche bekommen doch alles von drüben.“

      „Dann muss er sich ordentliche bei uns für die Schule kaufen. In den Dingern darf er sich nicht in der Schule sehen lassen. Das sind Hosen vom Klassengegner! Vom Klassenfeind! Und Dinge vom Klassengegner haben in der Schule nichts zu suchen. Deshalb trage ich sie auch erst nach der Schule. Erst vor drei Wochen wurde einer aus der zwölften Klasse gemaßregelt. Trotz wiederholter Ermahnungen kam er immer wieder in dieser Kluft. Einen Schnurbart hatte er sich auch wachsen lassen. Die Folge: strenger Verweis beim Fahnenappell. Im Wiederholungsfall Verweis von der Schule. Den Tag darauf erschien er ohne Schnurbart und ohne Jeans. Andere waren auch gleich beim Friseur gewesen. Wir dulden keine Gammler, hatte der Direktor lautstark während des Fahnenappells verkündet. Niethosen und lange Haare sind Auswüchse der Dekadenz, hatte er gebrüllt, sind unverkennbare Kennzeichen des Klassengegners, der unseren Arbeiter- und Bauernstaat unterminieren will; Niethosen und lange Haare sind äußerliche Merkmale des Klassenfeindes. Wer mit dem Klassenfeind sympathisiert, hat der Direktor gesagt, sich mit ihm identifiziert, indem er sich die Haare lang wachsen lässt und Nietenhosen trägt, hat an unserer sozialistischen Oberschule nichts zu suchen. Wir im Sozialismus dulden keine Nieten!“

      „Das soll der Direktor gesagt haben? Das glaube ich nicht!“ Frau Boronsky schüttelt ungläubig den Kopf. „Solche schönen und praktischen Hosen sollen verboten sein? Ich kann das nicht glauben, mein Junge.“

      Blondi tobt. So erregt und aufgebracht hat ihn Thomas noch nicht erlebt.

      „Was bilden Sie sich eigentlich ein,“ schreit der Klassenleiter. Am liebsten hätte er Michael durchgeschüttelt. „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“

      Ihm fehlen die Worte. Er holt tief Luft, will wieder laut werden, besinnt sich, fährt in erzwungen ruhigem Ton fort: Immer wieder habe ich Ihnen gesagt, dass diese Niethosen nicht in der Schule getragen werden sollen. Das ist nicht die Kleidung für einen Oberschüler in unserer Gesellschaftsordnung. Wir an unserer Schule dulden keine Nieten. Und erst recht keine Niethosen! Verstanden! Und was tun Sie, Michael! Trotz wiederholter gut gemeinter Ermahnungen lassen Sie sich wieder in diesen Dingern in der Schule blicken. Sogar unser werter Direktor ist auf Sie aufmerksam geworden. Ist das nicht ein Schüler aus Ihrer Klasse, hat er gesagt. Reden Sie mit dem Mann, hat mein Direktor gesagt. Jawohl, habe ich gesagt, habe schon mehrmals mit dem Burschen geredet. Jetzt ist das Maß voll, zum Überlaufen voll. Wer provoziert, hat an einer sozialistischen Oberschule nichts zu suchen. Und nicht genug damit, dass Sie Niethosen tragen! Jetzt muss ich erfahren, dass Sie, wie nennt sich das doch gleich in Ihrem Jargon ..., ja richtig, dass Sie ein Elvis-Presley-Fan sind. So heißt doch dieser Kerl, diese Heulboje, dieser randalierende Asoziale ... Sie wollen mir doch nicht erzählen, dieser Presley gehört zu den Sängern, die wir schätzen auf Grund ihrer künstlerischen Qualitäten. Sie wollen mir doch nicht einreden, dieser Schreihals ist auf unseren Sendern zu hören! Sie wollen uns, unserer Partei doch nicht etwa unterschieben, dass wir solche Ganoven in unseren Sendungen bringen. Michael! Ich, wir, unsere Gesellschaft ... Wir können nicht dulden, dass Sie unserem Klassenfeind Gehör schenken. Wir haben nicht umsonst den Antifaschistischen Schutzwall errichtet! Wir wissen genau, warum wir das getan haben. Sichtbar für alle Welt haben wir uns abgegrenzt von unserem Klassengegner! Wir als Genossen wissen genau: warum! Michael, welchen Sender bevorzugen Sie denn?“

      Ruhig steht Michael neben seinem Tisch. Ruhig antwortet er: „Luxemburg. Das wollen Sie doch hören. Sicher hat es Ihnen bereits einer meiner Freunde gesteckt. Hoffentlich hat der Betreffende nicht vergessen, Ihnen mitzuteilen, wie begeistert er von Elvis war...“

      Jäh wird Michael unterbrochen.

      „Was heißt hier gesteckt!“ Blondi läuft rot im Gesicht an. „Das ist die Pflicht jedes ordentlichen Schülers! Und Sie nennen das gesteckt! Was ist das nur für eine Terminologie! Sie hören also Luxemburg! Diesen Hetzsender! Wer Luxemburg hört, hört Rias, hört jeden westlichen Sender, jeden Sender des Feindes. Michael, ich versichere, ich werde alles in meinen Kräften Erdenkliche tun, um bei meinen Vorgesetzten durchzusetzen, dass Sie von der Schule verwiesen werden. Ein Exempel muss statuiert werden. Unglaublich das! Und das in meiner Klasse!“

      Seine Faust donnert krachend auf die Tischplatte. Keiner schreckt hoch. Jeder ist bemüht, den vor sich sitzenden Rücken als Deckung zu nutzen.

      Nur nicht auffallen, Thomas, befiehlt ihm sein Verstand: Verhalte dich ganz ruhig, Junge, sei still, tauche ab, falle nur nicht auf. Lenke nicht die Aufmerksamkeit dieses Minidespoten auf dich. Fieberhaft arbeitet das Hirn des Jungen. Wer hat Michael verpfiffen. Wird nun jeder jedem misstrauen? Jeder in der Klasse, in der Schule weiß, Michael hat Bänder mit der heißesten Musik.