Werner Hetzschold

Der Nachlass


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fest. Ich drücke sie für uns beide. Zu schön wäre es, wenn wir beide genommen werden.“

      „Was wirst du denn vorspielen?“

      „Den Kosinsky, den Jago und den Ferdinand.“

      „Und keine Rolle aus einem zeitgenössischen Stück?“ Fragend blickt sie Thomas an.

      „Muss das sein?“

      „Soviel ich weiß, sieht das die Prüfungskommission gern.“

      „Da habe ich wohl gleich schlechte Karten?“ Thomas kommt nicht dazu, über die von ihm getroffene Auswahl an Rollen sich den Kopf zu zerbrechen. Gerade in dem Augenblick wird sein Name aufgerufen.

      Hinter ihm schließt sich die Tür. Er ist im Prüfungsraum, wird von zwölf Augenpaaren begutachtet. Manche der Gesichter kennt er von der Bühne, manche gehören auch Regisseuren. Ihre Freundlichkeit irritiert ihn. Zu viel mütterliche und väterliche Güte beunruhigt ihn. Der Gedanke, dass diese zwölf mild lächelnden Richter über seine Zukunft zu entscheiden haben, versetzt ihn in Angst, weil er sich nicht vorstellen kann, dass sie noch immer väterlich oder mütterlich milde lächeln, wenn sie ihm sein Todesurteil verkünden. In ein Gespräch wird er verstrickt. Fragen hat er zu beantworten: „Wer ist Ihr Lieblingsschauspieler? Warum? In welchen Rollen haben Sie ihn erlebt? Wer ist Ihr Vorbild? Sind Sie Mitglied einer Laienspielgruppe? Warum nicht? Warum wollen Sie ausgerechnet Schauspieler werden? Es gibt doch so viele andere interessante Berufe. Warum ausgerechnet dieser Beruf?“

      Thomas beantwortet alle Fragen, erst dann darf er auf die Bretter, die für ihn die Welt bedeuten.

      „Nun, junger Mann“, sagt der Leiter der Schauspielschule, „zeigen Sie uns bitte, was Sie können.“

      Thomas spielt. Er rennt auf der Bühne hin und her, steigert sich in seinen Kosinsky hinein, er vergisst, wo er sich befindet. Er rast, brüllt, schreit, stellt seine zweite und dritte Rolle vor. Er ist am Ende. Den Schweiß spürt er auf der Haut. Schwer geht sein Atem.

      Die Prüfungskommission berät; dann verkündet der Direktor der Schauspielschule das Urteil. Thomas hat bestanden.

      Vor Freude möchte der Junge tanzen. Vor Freude möchte er schreien. Er wagt es nicht. Eine seltsame Scheu hält ihn davor zurück. Die blonde junge Frau mit dem schmalen Gesicht und den traurigen dunklen Augen gratuliert ihm.

      „Ich warte auf Sie“, sagt Thomas, und er ist erstaunt, woher er den Mut so schnell genommen hat.

      Als sie den Prüfungsraum verlässt, hat sie Tränen in den Augen. Thomas versucht sie zu trösten. Er nimmt ihre Reisetasche.

      Gemeinsam schlendern sie durch die Stadt. Die Geschäfte haben bereits geschlossen. Stunden später steht er auf dem Bahnsteig, sie in der geöffneten Tür.

      „Findest du, dass ich zu alt bin?“, fragt sie, „zu alt, um Schauspielerin zu werden?“

      „Wieso das?“ Wieder ist Thomas hilflos, weiß nicht, was er erwidern soll.

      Sie wartet seine Antwort nicht ab, sagt: Das war die Begründung für die Ablehnung.

      Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Thomas winkt. Sie winkt.

      „Nie werden wir uns wiedersehen.“ Thomas fühlt, wie eine große Traurigkeit über ihn kommt. Ich kenne ja nicht einmal ihren Namen ...

      Immer wieder gefällt ihm dieses Zimmer. Immer wieder beneidet Thomas seinen Freund Volker darum. Gern hätte er auch so ein Zimmer, ein eigenes Zimmer mit eigenen Möbeln. Thomas muss sich sein Zimmer mit Gisela teilen. Für beide bringt das Probleme mit sich, weil sie aufeinander Rücksicht nehmen müssen, auf Persönliches weitestgehend verzichten müssen, denn es bleibt kaum Raum für eigene Regale, von einem eigenen Schreibtisch ganz zu schweigen. Volker besitzt das alles, wovon Thomas träumt: eigenen Schreibtisch, Bücherregale, Tonbandgerät, einen Sessel, gemütliche Couch, die gleichzeitig als Bett genutzt werden kann.

      Volker und Thomas sitzen sich gegenüber, Volker auf der Couch, Thomas im Sessel. Thomas muss seinem Freund unbedingt die Neuigkeit mitteilen, dass er die Eignungsprüfung bestanden hat.

      „Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn wir beide gemeinsam die Prüfung hätten ablegen können.“ Thomas gerät ins Schwärmen.

      „Es sollte nicht sein.“ Volker blickt nachdenklich vor sich hin. „Es sollte eben nicht sein. So ist eben das Schicksal. Wir haben die kühnsten Träume, unsere Fantasie gaukelt uns die tollsten Bilder vor, aber die Realität bietet wenig Raum für Träumer und Fantasten.“

      „Aber du bist doch weder das eine noch das andere; du bist Realist. Oder sollte ich mich täuschen?“ Thomas erkennt seinen Freund nicht wieder.

      „Eben deshalb, weil ich Realist bin, habe ich mich nicht für das Schauspiel entschieden. Als Schauspieler habe ich meine Grenzen erkannt. Über Mittelmaß würde ich nie hinauskommen. Und Durchschnitt möchte ich nicht sein. Deshalb habe ich von der Schauspielerei Abstand genommen. Ich habe mich für die Theaterwissenschaften entschieden und für diese Disziplin mich an der Schauspielschule beworben. Nächste Woche finden die Prüfungen statt ...“

      „Du willst nicht Schauspieler werden!“ Thomas kann es nicht fassen, nicht begreifen, dass sein bester Freund, für den es offensichtlich nur diesen Beruf gab, unvermittelt aufgibt und sich für die Theaterwissenschaften entschließt. Wie kannst du auf diesen Beruf verzichten, ohne dich ihm zu stellen?“

      Ich habe eben erkannt, dass mein Talent nicht ausreicht. Einfach Selbsterkenntnis geübt - und meine Konsequenzen gezogen.“

      „Immer habe ich uns beide gemeinsam auf der Schule gesehen. In meinen Träumen werden wir beide berühmte Schauspieler. Wir spielen an den größten Häusern...“ Thomas will seinen Faden weiterspinnen, wird jedoch von seinem Freund jäh unterbrochen.

      „Der Realität halten die Träume oft nicht Stand, zerfließen wie Schaum, lösen sich in nichts auf. Es ist schon besser, Realist statt Träumer zu sein. So bleiben viele Enttäuschungen dem Realisten erspart“

      Schweigend blickten sich die beiden Freunde lange an, dann sagte Volker in die Stille: Meine Mutter hat sich von ihrem Freund getrennt. Sie fühlte sich von ihm eingeengt, vereinnahmt, konnte nicht mehr sie selbst sein. Zumindest war das ihre Ansicht.

      „Aber ich fand, die beiden passten gut zusammen, nur dass er um vieles älter war als sie.“

      „So groß war der Altersunterschied gar nicht. Und ich mochte Johannes. Wir verstanden uns sehr gut. Immer sah ich in ihm einen älteren Freund, blickte zu ihm auf.“

      „Und warum ist es auseinander gegangen?“

      „Meine Mutter hat Schluss gemacht. Sie hat einen anderen Typ kennengelernt. Nur mit dem Neuen habe ich nichts gemeinsam. Er kommt auch kaum her.“

      „Aber deine Mutter und du - ihr seid euch doch ähnlich, auch was die Interessen betrifft. Und wenn du nicht mit ihm auf einer Wellenlänge liegst, wie kommt sie dann mit ihm zurecht?“

      „Vielleicht verbindet sie nur das Bett. Ich weiß es nicht, was sie an ihm findet. Und sie kann es mir auch nicht sagen. Immer weicht sie aus, wenn ich sie danach frage. Ich kann mir nur vorstellen, bei Johannes stimmte nicht mehr die Chemie mit der ihren überein; und mit dem Neuen spielt sie Synthese. Ich bin wirklich gespannt, wie lange dieses Verhältnis dauern wird. Und jetzt sprechen wir über etwas anderes.“

      Wieder schiebt sich das große Schweigen zwischen die beiden Freunde.

      Die Villa ist Thomas vertraut. Er wartet auf seinen großen Auftritt. Wie er so wollen außer ihm zwanzig junge Menschen die Prüfung bestehen. Dass sie Talent haben, wurde ihnen nach der Eignungsprüfung bescheinigt; ob sie erfolgreich sein werden, wird sich nach dieser Prüfung erweisen. Alle Prüflinge wissen, maximal werden fünf von ihnen die Aufnahmeprüfung bestehen, die anderen können sich im nächsten Jahr erneut zur Aufnahmeprüfung melden.

      Wieder verlassen traurige, enttäuschte Gesichter den Prüfungsraum. Wie die anderen auch zählt Thomas die Glücklichen,