Rainer Seuring

Eringus - Hungersnot im Kinzigtal


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Mir tun alle Knochen weh, ich krieg nur sehr schwer Luft und stecke wohl tief unter den Schneemassen. Es wäre nett, würdet ihr mich endlich von meinem Lebensretter befreien.“

      Den Sinn dieser Worte kann im Moment keiner verstehen, doch immerhin beeilt man sich, in dem Schneehaufen gleich neben dem Wagen nach dem Zwerg zu suchen. Doch dort liegt er nicht.

      Wie zufällig blickt der Rufer vor sich die Böschung hinab. „Hier ist eine Hand. Beeilt euch. Hier!“ Dabei zeigt er auf die Stelle, wo eine Hand aus dem Schnee hervor ragt. Schnell wird man fündig und legt das Fundstück frei. Als sie das, was an der Hand hängt, aus dem Schnee geborgen haben, fahren alle erschreckt zurück. Billung hält die gefrorene Leiche eines Mannes über sich.

      „Sucht weiter!“, erschallt der Befehl und gleich darauf kommt auch der Gesuchte zum Vorschein.

      Bevor übereifrige Zwerge zupacken können heißt es: „Lasst ihn liegen. Wo ist der Heiler?“

      „Ich bin schon zur Stelle.“

      Der Heilkundige rutscht den leichten Hang hinab, bis er auf Billungs Höhe ist. Inzwischen sind auch die Gruppenführer am Ort des Geschehens eingetroffen und lassen sich berichten.

      „Kannst du Hände und Füße bewegen?“, fragt der Heiler.

      „Ja, aber es tut saumäßig weh.“, klagt Billung.

      „Legt ihn vorsichtig auf ein Brett und schafft ihn hinauf. Hier unten kann ich ihn nicht untersuchen.“

      „Wie sieht es aus?“, will Anschild wissen.

      „Anscheinend hat er sich nichts am Rückgrat getan, Großmächtiger. Genaueres kann ich jetzt noch nicht sagen.“

      Vorsichtig wird Billung nun auf ein Brett geschoben, was ihm unterdrücktes Stöhnen entlockt. Oben auf dem Weg verlangt der Heiler dann: „Auspacken!“

      Verdutzt blicken sich die umstehenden Zwerge und Menschen an.

      „Na los, auspacken. Zieht ihn aus. Durch die dicken Gewänder kann ich ihn doch nicht untersuchen. Die Kälte wird sicherlich das geringste Übel für ihn sein.“

      Das Stöhnen Billungs wird vernehmlicher, als ihm die Kleider ausgezogen werden. Jeder Handgriff bereitet große Schmerzen. Vor allem wenn Arm und Bein betroffen sind. Schon das Abnehmen des Rucksacks ist schwierig. Letztlich ist der Zwerg es leid und murrt: „Ich mach das selbst.“ Es dauert bis der Wintermantel, der dünne Mantel, die dicke Tunika und die dünne Tunika oder auch die Hose unter größten Schmerzen abgelegt sind.

      Der Heiler beobachtet jede Bewegung aufmerksam und macht dabei ein zufriedenes Gesicht. So fest wie nötig, aber so mitfühlend wie möglich, drückt er alle fraglichen Körperstellen ab.

      „Dreh dich vorsichtig auf den Bauch!“

      Auch der Rücken wird nun einer genauen Untersuchung unterzogen.

      „Großmächtiger, ich muss sagen, der Kerl hat mehr Glück als Verstand gehabt. Ich finde keinen gebrochenen Knochen. Aber Prellungen und Stauchungen in Hülle und Fülle. Sein Rucksack mag wohl Schlimmeres verhindert haben. Der Zwerg kann die nächsten vierzehn Tage nicht laufen. Er muss liegend transportiert werden. Ich werde ihn nun mit reichlich Salbe einreiben und dann wieder leicht anziehen. Ich schlage vor, er wird dann auf den Wagen mit den Ersatzsäcken verbracht. Dort ist er so gut als möglich vor Kälte geschützt und liegt weich, damit die Erschütterungen auf dem Weg ihm nicht über die Maßen Beschwerden bereiten.“

      „Wird er uns dann wieder nütze sein oder schicken wir ihn lieber mit einer Begleitung zurück in den letzten Ort, von wo aus er nach seiner Genesung wieder nach Hause wandern kann?“, fragt Gernhelm, zu dessen Gruppe Billung gehört.

      „So schlimm ist es nicht, dass er zurück müsste. Er wird dann wieder seinen Aufgaben nachgehen können.“, beschwichtigt der Heiler.

      „Gut, dann beendet eure Arbeit und lasst ihn dann auf den Wagen packen. Wie geht es den Ochsen, die der Wagen mit hinab riss? Und was ist mit dem Wagen selbst?“, ist des Prinzen nächste Frage.

      Dankwart hat sich bereits darum gekümmert.

      „Die Zugtiere sind noch recht verstört, aber zum Glück nicht verletzt. Der tiefe Schnee hat sie vor Schlimmerem bewahrt.“, berichtet er. „Der Wagen allerdings muss repariert werden. Die Stützen der Kufen sind gebrochen, Lob sei Gabbro, das Rad ist heil geblieben. Allerdings liegt der Karren auf der Seite. Wir müssen die Feuerschalen aufsammeln und den Wagen nach vorne zur Furt zerren. Dort werden wir ihn wieder vorsichtig aufrichten können“

      Es ist ein wildes, aber bedachtes Gezerre und Geschiebe. Selbst für Zwerge ist dies eine anstrengende Arbeit. Menschen hätten den schweren Wagen wahrscheinlich aufgeben müssen.

      Gegen Ende der Böschung drückt man den Karren vorsichtig an den Hang, dass das Rad, wenn man so will, Bodenkontakt hat und zieht ihn dann mittels dicker Seile, die am rechten Rahmen festgebunden sind, dass er, ohne die linken Räder übermäßig zu belasten, sich wieder aufrichtet. Zur Unterstützung werden die langen Bretter links untergelegt und nach oben gedrückt.

      Erst einmal angehoben ziehen dann die Zwerge an der Deichsel und rollend und rutschend kommt das Gefährt wieder in normale Lage.

      Mit Hilfe von aufgestapelten Feuerschalen wird der Wagen dann so hoch gebockt, dass die Kufe mit den Ersatzhölzern repariert und neu befestigt werden kann. Dazu haben zuvor die stärksten sechs Zwerge den Wagen mit ihren Rücken in die notwendige Höhe gestemmt. Nach getaner Arbeit haben diese Sechs ihn dann auch wieder auf die Kufe gestellt.

      Um die Enge im Flusslauf zu umgehen, haben die Übrigen nun endlich eine Abkürzung geplättet, damit die Wagen leichter zur Furt hinab kommen. Die ganze Arbeit hat so lange gedauert, dass es Walram und seinen Leute gelungen ist, den Zug einzuholen. Dieses Mal tritt er erst vor, als ihn Anschild dazu auffordert.

      „Ich grüße euch, Walram, Ramwolds Sohn. Wie lautet der Auftrag eures Vaters für euch?“

      Während der Begrüßung mustert der Zwerg den jungen Mann. Wahrscheinlich ist er noch nicht einmal 17 Jahre alt. Also sicherlich völlig unerfahren. Unter seiner Mütze spitzen glatte, dunkelbraune Haare hervor. Die löchrigen Fransen, die er wahrscheinlich stolz Bart nennt, wären besser abgeschabt.

      „Ich grüße euch untertänigst, Großmächtiger.“ Offensichtlich hat sich der junge Mann unterwegs wieder der guten Sitten erinnert. „Ich soll so viel als möglich von allem für unsere Dörfer besorgen. Er hat mir dafür alles Kupfer und Gold mitgegeben, das er entbehren wollte. Es ist nicht viel und drum muss ich so gut als möglich handeln oder mir etwas anderes einfallen lassen.“

      Die Antwort lässt Anschild aufhorchen und auch die anderen anwesenden Gruppenführer merken auf.

      „Ich will nicht hoffen, dass dies für euch die Aufforderung zum Stehlen ist.“

      „Bei Wodan nein. Ich verstehe dies so, dass ich vielleicht guten Tausch betreiben kann.“, antwortet Walram unschuldig. „Diebstahl kommt für mich nicht in Frage, Großmächtiger.“

      „Dann dürft ihr euch unserem Zug anschließen. Wäret ihr Diebespack, würde ich euch davon jagen. Ihr werdet verstehen, dass ich mich nicht um euch kümmern kann. Eure Leute sind nicht ausgerüstet, dass sie uns in irgendeiner Form von Nutzen sein könnten. Ihr werdet also stets ganz am Ende des Zuges laufen. Solltet ihr einer Rast bedürfen, so könnt ihr diese gerne einlegen. Wir werden nicht auf euch warten. Auch für eure Nahrung müsst ihr selbst sorgen. Wir haben nur so viel bei uns, wie wir zuhause entbehren konnten. Ist diese aufgebraucht, müssen auch wir uns selbst versorgen. Gleiches gilt auch für euch. Ist dies eure erste Reise?“

      „Ja, Großmächtiger.“