Rainer Seuring

Eringus - Hungersnot im Kinzigtal


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seid, diesen Weg zu gehen, lasst uns nun draußen vor dem Haupttor sammeln. Ihr habt alles, was ihr für euch und die Reise braucht, bei euch.“

      An dieser Stelle hält der Großkönig für alle deutlich inne. Jede begonnene Bewegung verharrt. Anscheinend lauscht Anschild ins Leere. Niemand kann die kleine Traumfee erkennen, die ihm etwas zu sagen hat.

      „Wie ich eben erinnert werde, werden Jade, Amethyst und Bernstein uns begleiten. Sie sind der Meinung, sie könnten uns gute Botendienste leisten, wenn wir uns teilen. Dem kann ich nur zustimmen und meinen allerherzlichsten Dank aussprechen. Als dann: Auf zur Sammlung vor dem Tor.“

      Mit einem Wink eröffnet Anschild Kleyberch den Auszug. Urplötzlich ist die Halle mit Gemurmel erfüllt. Es summt und brummt wie in einem Bienenstock. Bereitwillig geben die Zuschauer den Weg frei. In ungewöhnlich geordneter Weise streben die Teilnehmer dem Aufgang zu. Man lässt den Zwergen den Vortritt, die in völliger Disziplin voran marschieren. Sie folgen den Gruppenführern, die den Marsch eröffnen. Danach kommen die Menschen, deutlich ungeordneter, aber bemüht, es den Zwergen nach zu machen. Die Halblinge folgen als Letzte in totaler Unordnung und noch vergnüglich plappernd. Anschild lächelt, als dieser Haufen an ihm vorüber zieht. Bevor die übrigen Anwesenden, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollen, hinterdrein gehen, verlässt er sein Podium und achtet darauf, dass nicht schon jetzt einer verloren geht.

      Auf dem Weg nach oben überprüft jeder noch einmal, was er mit sich führt. Das Nahrungspaket für reichlich zehn Tage, bestehend aus einigen Streifen getrockneten Fleisches und einigen harten Keksen mit Käse oder altbackenes Honig-Früchtebrot, steckt in einem Sack, den alle Zwerge auf dem Rücken tragen. Bei den Menschen gibt es auch die Variante eines schlauchförmigen Sackes, der um den Leib getragen oder, mit nur einer Schnur gehalten, quer über dem Rücken hängt. Darin ist alles, was man zu benötigen meint. Jeder hat da so seine eigene Vorstellung. Allerdings sind die Säcke der Zwerge deutlich voller. Man könnte den Eindruck gewinnen, bei manchen Größen sei ein ganzer Hausstand drin. Der Trinkschlauch ist bei jedem Menschen eingepackt, allerdings leer. Bei dem Dauerfrost, der nicht einmal am Tag aufhören will, gefriert das Wasser und der Schlauch platzt am Ende. Doch für den Rückweg wird man ihn schon brauchen können. Die Zwerge allerdings tragen jeder zusätzlich zwei große und wohl gefüllte Schläuche. Diese sind aber derart verschlossen, dass ein Öffnen sofort auffällt. Es ist bei Strafe verboten, sie aufzumachen. Sie beinhalten leckeren Met mit Kräutern. Damit keiner davon nascht, tragen nur die Zwerge diese Schläuche. Nicht, dass man den Menschen misstrauen würde, doch der Großkönig will seine Befehlsgewalt nicht allzu sehr auf die Menschen ausdehnen. Zudem hält er sein Volk für disziplinierter.

      Weil aber auch Met bei dieser Kälte gefriert, wurde er tags zuvor im Freien in die Schläuche gefüllt, kurz bevor er zu erstarren begann. So haben die Zwerge verhindert, dass die Behältnisse platzen. Zum Auftauen werden die Trinkschläuche später einfach über den Kesseln mit dem langsam wärmer werdenden Wasser aufgehängt und der Met tröpfelt langsam heraus.

      Die Waffen sind in ihren Halterungen. Während bei den Zwergen die Axt bevorzugt wird, tragen die Menschen, soweit überhaupt im Besitz, eher ein Kurzschwert. Die meisten aber haben ihren Jagdbogen dabei. Ein Messer hat jeder, sogar die Halblinge. Wer hat, trägt seinen Schild über dem Rucksack auf dem Rücken.

      Je näher man dem großen jetzt offenen Tor kommt, desto mehr spüren die Teilnehmer die Kälte. Die Mäntel werden so dicht als möglich geschlossen. Sowieso sind manche derart dick eingepackt, dass nicht mehr sehr viel Bewegungsfreiheit besteht. Mit Mühe kommt man zu den Schuhen oder Stiefeln hinab, sie zu schließen. Zu Oberst tragen Menschen und Zwerge Überwürfe aus Leder, der bei Regen und Schnee schützen soll. Sie sind beidseitig mit Schnüren geschlossen, das soll auch den Wind abhalten.

      Am Haupttor oben machen alle ihre Schneeschuhe bereit. Sie haben eine Größe, sind aber durch Lederbänder auf jeden Fuß einstellbar. Die Zwerge machen es vor. Kaum aus dem Tor heraus, werden die Schuhe untergeschnallt und in Reihen zu sechst nehmen sie den Marsch auf. Die Hauptgruppenführer überwachen diesen Vorgang und haben natürlich bei den Menschen mehr Anweisung zu geben als zuvor bei den Zwergen. Aber binnen Kurzem haben alle es begriffen. Jetzt verschwinden auch die Hände in den Fäustlingen.

      Die Halblinge mit ihren großen Füßen brauchen keine Schneeschuhe. Sie laufen sowieso bevorzugt ohne Schuhe. Man muss allerdings gestehen, dass diese enorme Kälte auch ihnen etwas zusetzt. Die zierlichen, nur wenig über drei Fuß kleinen, Wesen sehen Menschen zwar sehr ähnlich, sind aber eine eigenständige Rasse. Sie erinnern stark an Kinder und sie sind auch gerne genauso verspielt, aber man darf sie niemals unterschätzen. Mit ihrem geringen Körpergewicht sinken sie eigentlich nur in Pulverschnee tief ein. Dadurch sind sie nicht dafür geeignet, den Schnee zu pressen.

      Unten am Fuß der Festung warten bereits die zehn Wagen mit jeweils zwei Ochsen davor. Die Tiere sind mit dicken Decken zum Schutz vor der Kälte abgedeckt. Diese werden später beim Marsch entfernt, wenn die Ochsen sich durch die Bewegung erwärmen. Da die Zwerge des Öfteren auch im Winter mit ihren Kutschen aus dem Berg müssen, sind diese sämtlich bereits mit zusätzlichen Kufen bestückt. Sie reichen nicht ganz bis auf den Boden, doch wenn das Rad den Untergrund im tiefen Schnee verliert, tragen diese breiten Kufen den Wagen auch mit Ladung immer noch.

      Es sind sehr große zweiachsige Fuhrwerke, die in den letzten Tagen in Eile auf die bevorstehende Beladung umgebaut wurden. An fünf Wagen wurden die Seitenwände dreimal so hoch gezogen als üblich. Sie sind für das Getreide und das Saatgut gedacht, das sackweise gekauft werden soll. Zur Sicherheit sind bereits einige leere Säcke darauf, falls nicht alles verpackt erhältlich ist. Es sind aber auch gefüllte Säcke geladen. Sie beinhalten Getreide, trockene Früchte und Gemüse. Daraus wird morgens ein Brei gekocht, damit alle mit warm gefülltem Bauch den Tagesmarsch bewältigen können. Den Met gibt es dann abends heiß, um der nächtlichen Kälte trotzen zu können. Leider wird er eins zu vier mit Wasser verdünnt. Niemand darf trunken werden. Mehr gaben die mageren restlichen Vorräte nicht her. Auch die Daheimgebliebenen müssen schließlich weiter versorgt werden. Anschild rechnet damit, dass sie mit den Nahrungsmitteln etwa zehn Tage auskommen werden.

      Drei Wagen haben eine nur doppelte Erhöhung der Wände erfahren. Auf ihnen sollen die Ferkel und Schweine gefahren werden. Diese Tiere zu treiben würde den Zug nur unnötig aufhalten.

      Die beiden letzten Wagen schließlich haben keine Seitenwände mehr. Dafür wurden große Käfige darauf errichtet, die das Federvieh beherbergen werden. Die Behältnisse haben drei Böden, sodass möglichst viele Tiere darauf Platz finden. Mit darüber gespannten Seilen werden die Käfige auf den Wagen gehalten. Trotz der Eile des Umbaus sind diese Aufbauten sehr stabil und es steht nicht zu erwarten, dass die Konstruktion zusammenbricht. Zumindest hat sie schon einmal die Last darauf herum krabbelnder Zwerge getragen.

      Auf den Wagen, die keine Käfigaufbauten haben, und sogar außen an allen Seitenwänden, findet sich alles, was man für die erwarteten Ereignisse zu benötigen glaubt. Breite dicke Bretter, mit denen die Fuhrwerke schmale, aber tiefe Geländeeinschnitte überbrücken können, sind mit massiven Haltebügeln an den hohen Seitenwänden eingehakt. Sie ragen weit über die Ladefläche nach hinten hinaus. Große Lederplanen, um vor allem das Saatgut vor Regen zu schützen, befinden sich in breiten Kästen hinten, unterhalb der Ladefläche. Viele lange Seile und Ketten vervollständigen die Ausstattung ebenso, wie diverses Handwerkszeug, um Reparaturen vornehmen zu können. Selbst einen Achs- oder Radbruch wird man beheben können. Als wichtigste Ladung allerdings ist das Futter für die Ochsen zu erachten. Damit sollte der Tross gut 20 Tage hinkommen. Letztlich klappern auf einem Fuhrwerk dann noch 55 breite und tiefe Schalen und ebenso viele Kessel. In ihnen wird man während einer Rast die ebenfalls mitgeführte Kula verbrennen, damit sich jeder ein wenig erwärmen und den Brei und Met zubereiten kann. Was damit allerdings zu Beginn der Rückreise geschehen soll, ist noch völlig unklar. Es wird auf jeden Fall im Weg sein.

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      Während sich die Beteiligten zum Zug aufstellen und sich die Reihen zusammen finden, bilden die Daheimbleibenden ein Spalier. Nicht