Nick Finkler

Konserviere meine Erinnerungen, Schatz


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landläufige Meinungen es uns vorgaukeln, ist Autismus weder eine Erkrankung noch eine Behinderung, zumindest nach meinem persönlichen jetzigen Kenntnisstand. Das ist noch nicht in alle Köpfe vorgedrungen, aber es entwickelt sich. Viele benutzen auch jetzt noch die bisher gültigen Einstufungen wie frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus oder Asperger-Syndrom, aber grundsätzlich beginnt man zu erkennen, dass die Stufen teilweise zu uneindeutig zu erkennen sind, weshalb die Klassifizierung als ASS mehr an Gewicht gewinnt.

      Homosexualität wurde auch lange Zeit als Fehlentwicklung betrachtet, bis modernere Denkweisen hervor brachten, dass es eine ebensolche natürliche sexuelle Neigung ist wie die Heterosexualität. Dass Männer Männer lieben und Frauen Frauen, muss nicht geheilt werden, es muss anerkannt und toleriert, akzeptiert und verstanden werden. Mit Wesensarten bzw. Entwicklungsstörungen wie Autismus verhält es sich genau so. Wir müssen uns nicht in alten Denkmustern einschließen lassen, bloß weil diese einfacher zu denken sind. Die Welt entwickelt sich weiter, Wissenschaft und Forschung entdecken mehr, die Aufklärung sorgt für erweitertes Wissen. Ein Autist muss kein unnahbares Wesen bleiben, das angeblich der Heilung bedarf (im Übrigen kann Autismus nicht geheilt werden, da es eben - auch nach der Auffassung vieler Fachleute - keine Erkrankung ist). Wir müssen nur verstanden und akzeptiert werden.

      Das IT-Unternehmen Auticon, das ausschließlich Autisten als IT-Consultants beschäftigt, formuliert es, wie ich finde, sehr schön:

      ''Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.''

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       Ich liebe Winter sogar dann

      Es wird viele überraschen, die dieses Buch lesen, aber tatsächlich bin ich verlobt. Als Autist, noch dazu mit meinen individuellen Eigenarten und Bedürfnissen, ist es mir dennoch möglich, soziale Interaktionen zu unternehmen. Ich nehme alles intensiver wahr, mit allen Sinnen. Berührungen sind für mich ein Muss. Das ist gut und erfreulich für meine Partnerin, teilweise aber auch anstrengend, wie so vieles an mir anstrengend sein kann. Geht man nach der Einstufung Asperger, die auf mich zutreffen würde, dann ist dieser Mix aus Komplikationen und "normalem" Leben nicht ungewöhnlich, da ein Asperger sich in manchen Dingen signifikant von anderen Autismusformen unterscheiden kann. Aber wie bereits erwähnt, gibt es eben nicht DEN Menschen, DEN Autisten oder DEN Asperger, sondern die Grenzen sind fließend und so neblig, dass die allgemeine Klassifizierung ASS deutlich besser passt.

      Bevor ich aber zu meinem jetzigen Alltag und meinen ersten Schritten als diagnostizierter Autist komme, gehe ich auf Fragen ein, die manchem Leser durch den Kopf gehen dürften: Wie haben denn die Eltern des Autors auf die Diagnose reagiert? Haben sie gesagt, dass sie es immer gewusst haben? Oder waren sie etwa geschockt?

      Nun, um ehrlich zu sein, sie wissen nichts davon. Sie erfahren es frühestens mit der Lektüre dieses Buches. Denn für mein Verständnis habe ich keine Eltern. Ich habe einen Erzeuger und eine Erzeugerin. Aber den Begriff Eltern kann ich leider nicht im wahrheitsgemäßen Kontext nutzen.

      Aufgezogen hat mich nur sie, und auch wenn ich anhand meiner Diagnose glauben will, dass es für sie nicht immer einfach mit mir war, so war ihr Umgang mit mir alles andere als kindgerecht oder pädagogisch zu bezeichnen.

      Sie hat gerne Puzzles zusammengesetzt. Das ist eines der harmloseren Details im Leben mit meiner Erzeugerin, an das ich mich wertfrei erinnere.

      Ich nenne sie meine Erzeugerin, weil nach meinen faktischen Weltvorstellungen nur Frauen die Bezeichnung Mutter verdient haben, die sich ausreichend und angemessen um ihr Kind kümmern, sogar dann, wenn sie es nicht selbst zur Welt gebracht haben. (Oder, wenn sie merken, dass sie sich nicht angemessen kümmern können, sollten sie es lieber zur Adoption frei geben.) Gemessen an dem, was mich das Leben gelehrt hat, hat meine Erzeugerin das definitiv nicht ansatzweise geschafft. Darum bin ich zwar begrifflich nicht ohne Mutter aufgewachsen, aber als Erwachsener muss ich reflektieren und sagen, dass die Momente, in denen sie so etwas wie meine Mutter war, nicht ausreichen, um ihr diesen Namen in vollem Umfang zu gewähren. Als meine Mutter bezeichne ich sie nur im Small Talk, meist mit unbekannten Menschen, und auch nur dann, wenn ich gerade ein sozusagen vereinfachtes Gespräch führen möchte. Wie Sie noch erfahren werden, gibt es mit mir kein einfaches Gespräch.

      Ich bin davon überzeugt, dass sie sich ehrlich bemüht hat. Ihre Motivation mag nicht konform mit meinen heutigen Weltvorstellungen sein, aber sie hat auf ihre Weise versucht, mir eine Mutter zu sein. Nur, dass sie es nie geschafft hat. Das lag rückblickend betrachtet nicht allein an ihr, denn ein autistisches Kind zu haben, ohne zu wissen, dass es autistisch ist, ist unglaublich anstrengend. In meinem Diagnosegespräch wurde festgestellt, dass man zwar nicht sicher sagen kann, ob ich frühkindlichen Autismus hatte, aber dass die Vermutung sehr nahe läge, basierend darauf, mit welchen auffälligen Problemen ich bereits als Kind zu kämpfen hatte.

      Wie lässt sich Autismus überhaupt diagnostizieren? Zu oft wurde und wird bei einem auffälligen Kind die Diagnose ADHS gestellt, also Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität. Diese Kinder erhalten dann jedoch eine völlig andere Behandlung, die ihrem Wesen als Autist möglicherweise widerspricht und alles nur schlimmer machen könnte. Das liegt unter anderem auch daran, dass sich diverse Symptome von ADHS oder auch ADS mit denen einer ASS vergleichen lassen. Aber es gibt heutzutage ein paar Möglichkeiten, Autismus feststellen zu lassen.

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       Sonnenschein und Musik und überhaupt

      Diese Möglichkeiten ergeben sich danach, aus welchem Grund man sich eine Diagnose wünscht.

      Benötigt man finanzielle Unterstützung, fachliche Betreuung oder hat generell extreme Probleme damit, alltägliche und berufliche Situationen selbstständig zu meistern, dann wird eine ärztliche Diagnose empfohlen, die schriftlich festgehalten und bei diversen Behörden und sogar Arbeitgebern vorgelegt werden kann, um Hilfe und eventuelle Leistungen zu erhalten.

      Ist man aber in der Lage, grundsätzliche Aufgaben im Alltags-, Haushalts- und Berufsleben alleine zu bewältigen, und man möchte einfach nur Gewissheit haben, für sich und für Angehörige, um anhand der gängigen Methoden einfacher leben zu können und mehr Verständnis für das eigene Handeln aufzubauen, dann kann es ausreichen, ein Gespräch mit einem auf Autismus spezialisierten Therapeuten und/oder Psychologen zu führen. In diesem Gespräch werden dann Fragen über die eigene Vergangenheit näher erörtert, über das Alltagsleben und wie man es empfindet, über die Wahrnehmung des Umfeldes und welche Probleme man mit sich und dem Rest der Welt hat. Entweder ergibt sich durch das Gespräch, dass man keinen Autismus hat, sondern wird zu einem anderen Fachmann geschickt, oder man kommt zu dem Schluss, dass es sich halbwegs oder sogar relativ eindeutig um Autismus handelt, und erhält dann erste Tipps für das weitere Umgehen mit der Diagnose.

      Was ist mein aktueller Stand? Ich befinde mich nicht in Therapie. Damit ich diese Leistung erhalte, wäre die ärztliche Diagnose nötig und nicht nur, wie bei mir, die psychologische. Stattdessen leben meine Verlobte und ich unser Leben weitestgehend selbstständig, was mal besser und mal schlechter klappt. Ich fühle mich wohl in der Routine. Jede Abweichung innerhalb meiner Routine oder meiner Pläne kann mich schwer beeinflussen. Änderungen in letzter Sekunde können für mich manchmal die härteste Herausforderung sein.

      Sollten Sie das Bild erhalten haben, dass die Diagnose unser Leben sehr erleichtert hat, dann irren Sie sich. Insgesamt und in Einzelfällen auf jeden Fall, wenn man die nackten Fakten betrachtet. Aber in einer Einzelsituation ist es manchmal umso schwerer, solange sie besteht, da zwar ich für meinen Teil mehr von mir zu verstehen beginne, aber das trotzdem nur selten an meine Partnerin so weiterleiten kann, dass es für sie ebenso verständlich ist wie für mich. Man könnte also beinahe sagen, mein Wesen entgleitet ihr immer ein Stück mehr. Aber gleichzeitig stimmt das nicht, da sie sich mit der Zeit auch immer mal etwas mehr an einen Teil von meinem Wesen gewöhnt. Nie so ganz, aber eben doch so, dass es zur Gesamtharmonie etwas beiträgt. Für die einzelne Situation trübt es den Frieden zwischen uns, wenn es zum Beispiel