Vanessa Lange

Primel und die Schattenwesen


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bremste sie sich. Der Hüster würde wieder husten und sie würde wie gerade eben ohne etwas zu unternehmen ins Haus zurück gehen.

      Wie schaffte es ihre Mutter nur, gegen das Husten immun zu sein?

      Und wie schaffte es ihre Schwester, diese listigen Geschöpfe zu mögen? Bei dem Gedanken an Lil stutzte Primel.

      Wo blieb eigentlich ihre Schwester? Normalerweise ließ diese keine Gelegenheit aus, mit den Hüstern zu spielen.

      Primel lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Sofort setzte sie sich in Bewegung, um nach ihrer Schwester zu sehen.

      Der pflichtbewusste Teil von ihr machte einen Umweg in die Küche, nahm zwei Orangen aus dem Obstkorb und stieg erst dann die Treppe hinauf. Schließlich durfte sie das Regenbogenspatzenweibchen nicht vergessen.

      Lil lag bäuchlings auf ihrem Bett und malte schon wieder wie verrückt. Sie bemerkte nicht einmal, dass ihre große Schwester eingetreten war.

      „Lil?“, meinte Primel. „Alles in Ordnung?“

      Keine Reaktion.

      Primel trat näher heran und spähte auf die wilden Striche. Mit etwas Fantasie ließ sich wieder eine Fee erahnen.

      „Ich gehe jetzt zum Regenbogenspatzenweibchen“, sagte sie laut und deutlich. Endlich sah Lil auf, nickte kurz und malte weiter. Primel schüttelte den Kopf. Seit ihre Schwester vermeintlich die Lacrima gesehen hatte, war sie wie besessen von ihr.

      In Gedanken versunken machte Primel sich auf den Weg zum Dachboden. Mit einem Knarzen öffnete sie die Brettertür.

      Der Dachboden war ein schöner Ort. Es gab ein paar Fenster und an sonnigen Tagen war er lichtdurchflutet, sodass man den Staub in der Luft sehen konnte. Und dieser Duft …

      Kurz schloss Primel die Augen und roch den Duft nach Holz und Staub.

      Als sie ihre Augen wieder öffnete, konnte sie kaum glauben, was sie sah. Dass ein brütendes Regenbogenspatzenweibchen auf sie wartete, war ihr klar gewesen, doch dass ein weiteres Regenbogenspatzenmännchen neben dem Nest sitzen würde, davon hatte ihre Mutter nichts gesagt.

      Zur Begrüßung piepten beide mit klingelnden Stimmen. Primel lächelte und bewunderte die in allen Farben des Regenbogens schimmernden Federn der Vögel.

      Sie kniete sich hin und hielt jedem der Tiere eine Orange hin. „Wenn ihr noch mehr wollt, hole ich noch welche“, bot sie an.

      Zwar verstanden die Regenbogenspatzen ihre Sprache nicht, aber sie schienen doch zu wissen, was gemeint war, denn beide schüttelten kaum merklich den Kopf. Primel war unsicher, was sie nun machen sollte. Schließlich konnte sie sich nicht mit den Beiden unterhalten.

      Zärtlich liebkoste das Männchen sein Weibchen und weil Primel sich etwas überflüssig vorkam, beschloss sie, wieder zu ihrer Schwester zu gehen und sie nach der Fee zu fragen. „Na, dann gehe ich wohl mal wieder.“

      Die beiden lösten die Schnäbel voneinander und sahen sie aus wunderschönen, leuchtenden, bunten Augen an. Dann drehte das Männchen seinen Kopf und zog mit dem Schnabel an einer seiner prächtigen Schwanzfedern.

      Primel traute ihren Augen kaum, als er zu ihr hüpfte und ihr die farbig schillernde Feder hinstreckte. Zutiefst gerührt bückte sie sich hinab und nahm dem Vogel das Geschenk aus dem Schnabel.

      Primel verstand: Ein Zeichen des Dankes, dass sein Weibchen hier brüten durfte.

      Wenn eine Lacrima weint…

      Mit der schönen Feder in der Hand und einem breiten Grinsen im Gesicht stieg Primel die Treppen zum Zimmer ihrer Schwester hinunter. Die Anspannung fiel langsam von ihr ab, jetzt, da sie alle Tiere versorgt hatte und der Rundgang beendet war.

      Primel hatte so viele neue Eindrücke gesammelt, dass ihr Kopf schwirrte. Doch sie war durch und durch glücklich. Wenn auch etwas müde, aber glücklich. Gleich würde sie sich mit einem Eis aus der Tiefkühltruhe im Garten in die Sonne setzen und den Nachmittag genießen.

      Ob ihre Eltern bereits das verschwundene Knolljunge gefunden hatten?

      Primel hoffte es sehr, denn der Gedanke an die traurige Knöllin schmerzte.

      Seelig lächelnd hob Primel die Faust, um an die Tür ihrer Schwester zu klopfen, als sie Stimmen im Zimmer hörte. Lauschend hielt sie mitten in der Bewegung inne.

      „Ok, du heißt also Rossane“, tönte Lils Stimme durch die Tür.

      Primel presste ihr Ohr an das Holz, um die zweite, weitaus leisere Stimme zu verstehen.

      „…Roxane…“, meinte Primel herauszuhören.

      „Sag ich ja, Rossane.“

      Primel grinste noch breiter, obwohl sie sich wunderte, mit wem ihre Schwester da sprach. Sie atmete tief ein und öffnete ohne Vorwarnung die Tür. Ein erschrockenes Quieken war zu hören. Primel meinte einen Lufthauch zu spüren, dann war alles wie vorher.

      Lil stemmte ihre Ärmchen in die Hüften und bäumte sich erbost vor ihrer Schwester auf. Obwohl Primel größer und stärker war als Lil, wirkte die Kleinere sehr wütend und durchaus nicht schwach.

      Verwirrt wich Primel zurück. Die bunte Feder hatte sie noch immer in der Hand, aber das Grinsen war verloschen.

      „Lil, was ist los?“, fragte sie entsetzt. Lil schnaufte laut.

      „Du hast Rossane verscheucht!!!“, tönte sie vorwurfsvoll. Einen Moment lang funkelte sie ihre Schwester an, dann sackten ihre kleinen Schultern nach vorne und Lil begann zu weinen.

      Primel war etwas überfordert mit der Situation, doch der Instinkt einer großen Schwester setzte sich durch und sie schloss ihre kleine Schwester in eine Umarmung. Zärtlich wischte sie Lil die Tränen von der Wange und murmelte beruhigende Worte in ihr Ohr, auch wenn sie gar nicht wusste, wer Rossane überhaupt war.

      Nach einer Weile beruhigte Lil sich wieder, machte sich von Primel los, blickte sie erneut wütend an und rannte zum Fenster.

      Sie lehnte sich hinaus und schrie laut in den Garten: „Rossane, Priml tut dir nichts. Die ist ganz lieb. Bitte, komm zurück! Rossane!“ Dann setzte sie sich auf ihr Bett und schmollte.

      „Lil, wer ist Rossane?“, fragte Primel.

      „Mein Name ist Roxane, aber das habe ich schon oft genug klargestellt“, hörte sie hinter sich eine nicht minder verärgerte Stimme.

      Primel fuhr herum und traute ihren Augen nicht. Sie schwankte kurz und musste sich an der Wand abstützen, so überrascht war sie.

      Vor ihr auf dem Fensterbrett saß eine waschechte, funkelnde, glitzernde und ebenfalls schmollende Tränenfee.

      Sie trug ein grün und blau glitzerndes Kleid, hat schimmernde Flügel und war so zart, dass Primel meinte, sie würde gleich zerbrechen.

      Das war also eine Lacrima.

      Eine Tränenfee, wie Primel sie schon immer einmal sehen wollte. Sie war wunderschön.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit erwachte Primel aus ihrer Trance und fasste sich. Sie atmete tief ein und meinte: „Entschuldigung, Roxane, ich bin Primel.“

      Roxane flog grazil und elegant vom Fensterbrett hinunter, nahm Primels Entschuldigung mit einem Kopfnicken zur Kenntnis und setzte sich auf Lils Teppich.

      Also stimmte es, dass Tränenfeen sehr eitel und stolz waren. Fast hätte Primel aufgelacht. Diese Fee verkörperte alle Klischees, die sie über die Lacrime gehört hatte. Aber nur fast hätte sie gelacht. Primel wollte ja nicht, dass Roxane sofort wieder beleidigt wegflog.

      Lil strahlte über das ganze Gesicht. „Rossane, du bist so schön!“, rief sie aus. Vielleicht war es das Kompliment, das die Fee über ihren falsch ausgesprochenen Namen hinwegsehen ließ, aber auf jeden Fall regte sie sich nicht.

      Weder Primel, noch Lil sagten etwas. Beide