Eckhard Lange

Die LEERE und die FÜLLE


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Wortes. Ja, er hatte es genossen, einmal nicht selbst der Verführer zu sein, sondern sich verführen und verwöhnen zu lassen von einer Kundigen, einer ganz Großen in diesem Geschäft. Zwei volle Stunden hatte sie das Liebesspiel gedehnt, hatte ihren Körper Zug um Zug enthüllt und feilgeboten und ihn doch immer wieder entzogen, hatte ihn geil und gierig gemacht und dennoch warten lassen – eine ständige lustvolle Qual. Sie kannte sie alle, diese geheimen Stellen des Mannes, deren Berührung ihn aufstöhnen ließ, und sie wusste, wann sie ablassen musste, damit er weiter leiden und hoffen musste; sie wusste seine Fantasie zu wecken, sie forderte seinen Angriff heraus und konnte sich ihm doch immer wieder entziehen. Sie war eine Hohepriesterin der Liebe. Und genau das war es, was Gilbert Gamesch brauchte. Nein, nicht für sich, obwohl es ihm ebenfalls gut tun würde. Er brauchte ihre Fähigkeiten für einen anderen – um ihn mit Liebe und Lust auszuschalten, wo Lügen und List kläglich versagten.

      Als sie ihren Dienst beendet hatte, als beide zum Ausklang bei einem Glas Champagner – noch unbekleidet, aber doch erschöpft und ohne Erregung – sich in den Sesseln des Salons gegenübersaßen, eröffnete Gilbert seiner Besucherin den eigentlichen Hintergrund seiner Einladung. „Ich habe einen Auftrag für dich, Kata, wenn du ihn dir zutraust. Ich jedenfalls bin überzeugt, dass du ihn perfekt erfüllen wirst. Und es wird sich lohnen für dich. Nicht nur jetzt, sondern auch mit Blick auf spätere Zeiten, wenn du einmal aussteigen willst aus dem Geschäft.“ Sie blickte ihn an, aufmerksam, neugierig, und durchaus auch misstrauisch: „Wenn du so geheimnisvoll beginnst, mein lieber Gilbert, dann steckt eine Teufelei dahinter,“ sagte sie mit gewollt ironischem Unterton. „Wie könnte ein solcher Engel je etwas Teuflisches tun können,“ gab er in gleicher Weise zurück. „Du sollst nur eins: erobern. Du sollst einen Teufel zum Engel machen. Oder doch wenigstens ein wenig zähmen.“ „Du spannst mich auf die Folter. Nun erkläre endlich, was du vorhast. Und nenne dein Preisangebot.“

      Gilbert erhob sich und suchte seine Sachen zusammen, die verstreut im Zimmer lagen, um sie wieder überzustreifen. Dabei warf er ihr auch die ihrigen zu. Dann setzte er sich wieder neben sie. „Du bist eine großartige Frau, Kata, und eine Künstlerin der Liebe. Und eben diese Kunst möchte ich kaufen. Aber für einen anderen. Er ist mein Feind, bislang jedenfalls. Aber du kannst ihn überwinden. Für mich. Du kannst, was ich nicht vermag.“ Ihre Augen suchten die seinen: „Und was genau verlangst du von mir?“

      „Zwei, nein: drei Dinge. Erstens: Du sollst ihm alles schenken, was ihn erfreut, damit er darüber seine Feindschaft vergisst, jedenfalls für eine Weile. Zweitens: Du sollst ihn kennenlernen, damit auch ich ihn kennenlerne, ihn verstehen und daraus lernen kann. Und drittens: Du sollst ihn daran hindern, mir Schwierigkeiten zu machen, soweit das in deiner Macht steht.“ Sie lachte leise: „Ein wenig Lukrezia Borgia, ein wenig Mata Hari, und dann ganz viel Judith. Du verlangst da eine ganze Menge von mir. Und was hätte ich davon, wenn ich dir Holofernes' blutiges Haupt auf silbernem Tablett serviere?“ „Bestimme selbst den Preis.“ Und dann fügte er scherzend hinzu: „Ich will dirs zahlen, bis zur Hälfte meines Königreichs.“

      „Okay, darüber reden wir später. Erst einmal möchte ich endlich wissen, wer dieser geheimnisvolle Kunde ist und wie du dir das vorstellst mit dem Kontakt. Es ist nicht meine Art, Männer auf der Straße anzusprechen.“ „Da würdest du ihn auch wohl kaum antreffen! Es ist – Nicolas Kidou.“ Kata starrte ihn an, verdutzt, vielleicht sogar ein wenig erschrocken: „Dieser Supermarkt-Heini? Wie soll ich denn an den herankommen? Und ist der überhaupt interessiert? Nach allem, was man so hört, oder besser nicht hört, scheint der Kerl eher schwul zu sein. Oder Eunuch.“

      „Ich weiß, es wird nicht leicht sein. Aber ich werde Wege finden, euch zusammenzubringen. Und wenn er wirklich homosexuell sein sollte – du wirst dabei nicht leer ausgehen. Laß es auf einen Versuch ankommen. Ich vertraue auf deine große Begabung, ich habe sie eben mit Freude selbst genossen.“ Und lächelnd fügte er hinzu: „Da wird selbst ein Schwuler schwach. Oder ein Eunuch.“

      „Okay. I'll do my very best.“ Kata stand auf und stellte das Glas auf das Tischchen. Dann nahm sie den Umschlag, der dort lag, ohne hineinzuschauen. Bei ihren Kunden war so etwas nicht angebracht – und auch nicht nötig. „Ich höre von dir, ja?“ Gilbert begleitete sie zur Garderobe und dann zur Tür, und sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange, ehe sie zu ihrem Wagen ging. Gilbert blickte ihr nach. Sie hätte dem Sonnenkönig dienen können, dachte er.

      Kata, die Hohepriesterin der Liebe, wie Gilbert sie genannt hatte, war wohl rund zehn Jahre älter als Nicolas Kidou. Aber sie war schlank, elegant, von gepflegter Schönheit und ausgestattet mit jenem erotischen Flair, das sie gleichsam alterslos machte. Mehrfach schon hätte sie einen ihrer durchweg einflussreichen und vermögenden Kunden heiraten können, und das wahrscheinlich ohne einen gesellschaftlichen Skandal auszulösen. Angebote jedenfalls gab es, und die repräsentative Rolle an der Seite eines solchen Mannes hätte sie ebenso perfekt gespielt wie die Verführerin. Doch sie zog ihre Arbeit als Kurtisane den Zwängen einer bürgerlichen Ehe, dem Einerlei eines geregelten Daseins vor – hier war sie frei, behielt alles Recht, männlichen Hochmut und männliche Gewalt jederzeit abzuweisen. Sie hatte es längst nicht mehr nötig, jeden Auftrag zu jeder Zeit anzunehmen; sie konnte auswählen, sich Auszeiten nehmen, ihre Kundschaft auf einen gewissen Kreis beschränken.

      Privat lebte sie eher bescheiden, sieht man von einer beruflich bedingten umfangreichen und auch teuren Garderobe ab. Ihren beträchtlichen Verdienst hatte sie gut, vorsichtig gestreut und damit weitgehend sicher angelegt, um auch in späteren Jahren selbstbestimmt und selbstbewusst leben zu können. Doch der Auftrag Gilbert Gameschs hatte sie gereizt, nicht nur wegen der hohen Summe, die sie dafür fordern konnte. Es war etwas anderes, und auch etwas erregend neues, einen Unwissenden, vielleicht sogar Unwilligen in ihren Bann zu ziehen, als auf dringendes Bitten und sexuelles Verlangen hin einem Kunden ihre Dienste zu erweisen.

      So wartete sie mit einiger Spannung darauf, dass Gilbert sich bei ihr melden würde. Einen vorgefaßten Plan für dieses Abenteuer hatte sie nicht, er wäre wohl auch wenig hilfreich gewesen. Sie verließ sich da ganz auf ihre Intuition, auf ihre Fähigkeit, den Augenblick zu nutzen, die geheimen Wünschen ihres Gegenübers zielsicher zu erahnen und auf ihre besondere Weise zu erfüllen. Allerdings, sollte dieser Nicolas Kidou tatsächlich homosexuell sein, würde sie den Auftrag zurückgeben. Die meisten Männer jedoch waren vielleicht insgeheim anfällig für homoerotische Abenteuer, doch zugleich auch offen für lustvolle Stunden, die ihnen eine Frau bereiten konnte. Sie hatte solche bisexuellen Kunden erlebt, und sie wusste, was dann zu tun war. Aber einen wirklich schwulen Mann verführen, das war gegen ihre Überzeugung, das wäre eine seelische Vergewaltigung in ihren Augen. Doch das herauszufinden, wäre es nötig, diesem Nicolas Kidou Auge in Auge und Körper gegen Körper gegenüberzutreten. Diese Gelegenheit musste Gilbert Gamesch allein schaffen. Das war nicht ihre Aufgabe – nicht nur, weil es schwierig wäre, sondern weil es ihre Würde verletzt hätte. Und im Gegensatz zu den vielen gewöhnlichen Prostituierten, die um des Überlebens willen ihre Würde mit ihrem Körper verkaufen mussten - Kata hatte stets ihre Würde bewahrt.

      KAPITEL 3

      Nicolas Kidou war schon ein merkwürdiger Mensch. Seinen aus hugenottischer Familie stammenden Vater hat er nie kennengelernt, er ließ sich kurz nach der Geburt des Sohnes scheiden und starb bald darauf unter nie ganz geklärten Umständen. Seine Mutter war eine erfolgreiche Anwältin in Kiel, doch für den Sohn hatte sie keine Zeit. So wuchs er bei den Großeltern auf, die verschlossen und wortkarg einen Hof in einem nordfriesischen Koog bewirtschafteten, einsam gelegen in der Weite dieser neuzeitlichen Grassteppe namens Marsch. Dort trieb er sich auf den grabendurchzogenen Weiden herum, und da er keine Spielgefährten fand, waren die Schafe auf dem Deich seine einzigen Freunde. So kam es, dass der Hauptschulabschluß das einzige Zeugnis war, das er vorweisen konnte, und das reichte nicht für eine Lehrstelle, wie er sie sich vorstellen konnte. Ihm blieben nur wechselnde Jobs, saisonbedingt und ohne Ansprüche an irgendwelche Fähigkeiten, dazwischen Arbeitslosigkeit und die Einsamkeit in einem möblierten Zimmer, mal hier, mal dort. Weder Freund noch Freundin ließen sich so finden, doch er vermisste weder den einen noch die andere, er war es gewöhnt, allein, für sich selbst zu sein und in den Tag hinein zu leben.

      Dann zwang ihn die Mutter,