Eckhard Lange

Die LEERE und die FÜLLE


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Darauf ging er nach München, möglichst weit fort von Nordfriesland, von Einflussnahme und Aufsicht durch jene Menschen, die für ihn verantwortlich waren und die er dennoch nicht verstand. Eine wenig geliebte Lehrstelle im Einzelhandel war das nötige Zugeständnis an seine Geldgeberin, und er blieb auch in jenem kleinen Lebensmittelmarkt irgendwo in einer Münchener Vorstadt, als er die Ausbildung beendet hatte, immer noch seiner Einsamkeit ergeben, lustlos und ziellos – bis zu jenem Tag, da er erfuhr, daß sein Arbeitgeber aufgeben musste, weil er mit der Konkurrenz, den Großen und Mächtigen, nicht mehr mithalten konnte.

      Da ereigneten sich, nahezu zeitgleich und ihn selber am meisten überraschend, zwei ganz unterschiedliche Dinge, die sein bisheriges Leben vollständig und grundlegend veränderten: Das eine war ein anwaltliches Schreiben, das ihm mitteilte, der Bruder seiner Mutter, vor Jahren kurz nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten ausgewandert und dort zu Vermögen gekommen, sei ohne leibliche Nachkommen verstorben und habe ihn zu seinem Erben bestimmt – ihn, den unbekannten, nie gesehenen Neffen, den Mittellosen, den scheinbar hoffnungslosen Fall. Und man kann vermuten, dass er es nur deshalb tat, weil er seine stets verhaßte Schwester und die ebenso ungeliebten Eltern um den Genuß seines Vermögens bringen wollte. So sah sich Nicolas plötzlich im Besitz eines beachtlichen Kapitals.

      Das zweite Ereignis nur wenige Wochen später war ebenso unerwartet, ebenso zufällig: Bei einem notwendigen Besuch im amerikanischen Konsulat begegnete er im Wartezimmer einem recht eigenwilligen, aber dennoch geschäftstüchtigen Amerikaner, der sich als Firmenaufkäufer im Auftrag eines großen Investmentfonds entpuppte. Sie kamen ins Gespräch, der Fremde lud ihn zu einem Drink in die Hotelbar ein und erfuhr rasch von Nicolas Kidous plötzlichem, offensichtlich noch ungenutzem Reichtum. Und er schlug ihm einen Deal vor: Nicolas möge sein Kapital einbringen in eine offene Handelsgesellschaft, in die der Fond als Kommanditist die notwendige restliche Summe zuschießt. So könne er mit seinem Arbeitsplatz zugleich die gesamte Handelskette aufkaufen zu einem Preis, den er praktisch diktieren könnte angesichts der sonst drohenden Insolvenz.

      Was niemand vorher erkannte, erkennen konnte, der Amerikaner hat es sofort gespürt: Dieser Nicolas, der bislang vor sich hin lebte wie jene Schafe auf dem Nordseedeich, er hatte ein Energiepotential in sich brachliegen, das nur geweckt werden musste, um mit gewaltiger Wucht zu explodieren, um mit ungeahnter Macht zu expandieren. Und sein Instinkt trog ihn nicht: Von einem Tag auf den anderen wurde aus diesem trägen Schaf ein Wolf, ein Steppenwolf mit einem untrüglichen Gespür für Beute, ein Jäger, der erbarmungslos sein Opfer zu Tode hetzen konnte. Nicolas, der Verbummelte, Antriebslose, Ziellose nahm die Herausforderung an, häutete sich gleichsam, entdeckte eine Aufgabe, einen Sinn in seinem solange sinnlosen Dasein, und der hieß fortan: besser, cleverer, härter, ja auch brutaler zu sein als alle anderen, um das einmal gewonnene Kapital zu mehren, so rasch es gehen konnte. Und es konnte rasch gehen, wie die Konkurrenz, wie vor allem Gilbert Gamesch staunend, irritiert, beunruhigt bemerkte. In diesem Nicolas Kidou war ein Gegner entstanden, der zur Bedrohung wurde, der zum Kampf bis aufs Herzblut herausforderte, grausam, erbarmungslos, ohne sich irgendwelchen Spielregeln zu unterwerfen – bereit, zu vernichten statt zu teilen; ein Gegner, der mit den herkömmlichen Maßstäben in diesem auch sonst hart umkämpften Markt nicht zu messen, nicht zu greifen, nicht zu verstehen war. Die Kartellbehörden mochten zufrieden sein: Mit diesem Mann würde es keine Absprachen geben, keine geheime Aufteilung der Reviere. Er schien nur ein Ziel zu kennen – den Sieg, den persönlichen Triumph.

      Dabei blieb er nahezu unsichtbar – keine öffentlichen Auftritte, kein persönliches Erscheinen etwa bei Eröffnung neuer Märkte oder der Übernahme eines weiteren Konkurrenten. Da sprachen irgendwelche Geschäftführer oder seine Anwälte für ihn. Und ein Privatleben fand nicht statt, er hatte keine Adresse außer der Firmenzentrale, er blieb der Nobody, der Geheimnisvolle. Es dauerte seine Zeit, bis Gilbert Gamesch so viele Informationen zusammengetragen hatte, dass sie Kata einen Zugang zu diesem Mann ermöglichen konnten. Und es hat ihn einiges gekostet, von der Rechtmäßigkeit seiner Nachforschungen ganz zu schweigen.

      KAPITEL 4

      Nicolas Kidou hatte noch lange seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines schäbigen Mietshauses in einem ebenso heruntergekommenen Stadtviertel behalten. Schließlich hatte er ja alles, was er brauchte: die nötigen Möbel, auch wenn sie seinerzeit in einem Gebraucht-Waren-Geschäft billig erworben worden waren, eine Kochstelle, um die Fertignahrung zu erwärmen, von der er sich ausschließlich ernährte, eine Duschkabine, die der Vermieter von dem winzigen Flur abgetrennt hatte. Erst als sein Name auf dem Klingelschild allgemein bekannt wurde und die Mitbewohner im Haus diese Adresse herumerzählten, neidisch auf den jungen Mann dort oben unter dem Dach und voller Unverständnis, warum dieser seinen Reichtum nicht zu nutzen schien, sah er sich nach einer neuen Bleibe um. Sie sollte vor allem eines sein: ebenso unscheinbar und ebenso unauffällig.

      Auf dem neuen Klingelschild stand allerdings ein anderer Name: Er hatte den Geburtsnamen der Mutter gewählt, einen dieser im Norden landläufigen Familiennamen, und auch seinem Vornamen gab er eine schlichte Form. So wurde aus Nicolas Kidou ein unauffälliger Klaus Petersen, und er hatte mit Geld und guten Worten sogar eine bayrische Behörde davon überzeugt, dass er das Recht auf ein amtlichen Pseudonym habe, um gegen mögliche Attacken oder eine Entführung besser geschützt zu sein. Sein neues Domizil war schon etwas großzügiger, gehörten doch nun drei Zimmer zur Wohnung und ein gesondertes Bad ebenso wie eine eigene kleine Küche. Allerdings war das Haus in einer meist schmutzigen Seitenstraße ebenso ungepflegt und reparaturanfällig, mit ausgetretenen Treppenstufen, einem seit Jahren nicht mehr gestrichenen Hausflur und Fensterrahmen, die ebenfalls schon lange keine frische Farbe gesehen hatten. Kurz, es war ein ideales Versteck, um gleichsam under cover zu wohnen, und solange sein Konterfei nicht in der Presse erschien, würde auch kein anderer im Hause oder auf der Straße ihn identifizieren.

      Was auch sonst schwierig wäre, denn er hatte ein höchst unauffälliges Allerweltsgesicht: eine glatte mittelbraune Frisur, kurz gehalten und schlicht gescheitelt, ähnlichfarbene Augen in einem ovalen, glattrasierten Antlitz mit schmaler, gerader Nase und leicht zurückweichendem Kinn. Polizeizeichner hätten es sicher schwer, ein unterscheidbares Phantombild von ihm anzufertigen. Selbst wenn er die Zentrale seiner Unternehmungsgruppe aufsuchte, fuhr er nicht etwa im Wagen vor, sondern nutzte öffentliche Verkehrsmittel und betrat das Gebäude durch einen Nebeneingang, zu dem er allein Zugang hatte, und wenn er für weitere Strecken einen firmeneigenen Pkw nutzte, steuerte er ihn durchweg selbst, um nicht unter den Fahrern bekanntzuwerden. Weil er dort lebte und so lebte, wie niemand unter den professionellen Investigatoren von einem Herrn über eine machtvolle Unternehmensgruppe auch nur vermutete, konnte er sich ungestraft frei bewegen. Sie dagegen suchten hinter jeder dieser hohen, kamerabewachten Mauern, die eine versteckt gelegene Villa inmitten dichter Hecken ihren Blicken entzogen. Aber sie suchten ihn dort vergebens.

      Einziger Luxus in seinem neuen Zuhause war der elektronische Kontakt zum Rechner in der Firmenzentrale, um aus dem Versteck heraus jederzeit mit allen notwendigen Partnern zu kommunizieren. Auch er hatte übrigens eine Angewohnheit, die ihn mit Gilbert Gamesch, dem Konkurrenten, verband: Er inspizierte unauffällig und unerkannt seine Märkte, erschien unangemeldet in den Verwaltungen der Regionalgesellschaften und überprüfte so Warenangebot, Personalstärke und Ladenausstattung, ebenso Auslieferungsläger und Logistik. Auch gegenüber den Angestellten der verschiedenen Untergesellschaften musste er sich oft erst durch Vermittlung der Geschäftsführer zu erkennen geben, in den Geschäften dagegen blieb er selbst gegenüber den Marktleitern durchweg inkognito – Rügen, aber auch Verbesserungsvorschläge ließ er ihnen über die Vorgesetzten zukommen. So konnte er aus dem Hintergrund heraus, jedoch höchst wirksam agieren, und gerade diese nie erkennbaren Kontrollen machten ihn zu einem gefürchteten Chef, schon weil es dabei sehr selten Lob, aber regelmäßig Tadel bis hin zu Abmahnungen und Entlassungen gab.

      Nicolas Kidou hatte also seine apathische Ziellosigkeit gegen brutale geschäftliche Hektik getauscht, aber seine Einsamkeit, seine Selbstisolierung hatte er dabei stets beibehalten, und da er seit seiner Jugend diesen Zustand gewöhnt war, vermisste er auch nichts. Im Gegenteil: Dies schien ihm eine angemessene und angenehme Lebensform zu sein, weil er damit allen anstrengenden Kontakten aus dem Wege gehen konnte: keine lästige Kleidung, keine ebenso lästige Konversation mit uninteressanten Gesprächspartnern, kein Zwang zur Teilnahme an irgendwelchen gesellschaftlichen,