Riccardo Rilli

Der Kugelschreiber


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mir geboren und in seiner Freizeit vielbeschäftigt. Er schleppte den großen, schlanken Körper ins Fitnesscenter, zum Radfahren und im Sommer zum Schwimmen. Er ging in Bars, ins Kino und wechselte Freundinnen wie andere Unterwäsche. Koller war attraktiv. Die dunklen Haare hatten einen modernen Schnitt und er war mit Jeans, Hemd und Sportsakko bekleidet. Der rasierte Kiefer war breit und seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Ein typischer Held, der ebenso ungelesene Statistiken erstellte, wie ich. Wenn er nicht telefonierte. Oder das Büro verließ, um soziale Kontakte im Amt zu pflegen. Seine Bezeichnung für die Treffen mit Kolleginnen und Kollegen, bei denen sie das eine oder andere Bier tranken. Abgabetermine kümmerten ihn wenig. Nach Genauigkeit fragte er nicht. Er schrie in den Telefonhörer, lachte laut und viel und beglückte mich mit Geschichten aus seinem Leben, ohne dass ich es wissen wollte. Dauerten die Gespräche am Telefon längere Zeit, begann mein Herz zu rasen. Ich war gezwungen, die Arbeit zu unterbrechen und abzuwarten, bis er ging, was keine fünf Minuten nach dem Auflegen passierte. Der Geruch des penetranten Parfums blieb im Raum. Es erinnerte an seine aufdringliche Anwesenheit, während der er versuchte, seine Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Wenn er nicht sprach, rückte er seine Gestalt mit ständigen Schnaufen durch die verstopfte Nase in den Bereich meiner Achtsamkeit.

      Ich hatte zwei Stunden. Dann stieße er krachend die Tür auf, schaltete das Neonlicht ein, stellte seine Sachen mit einem Poltern auf den Tisch und verschwände zum Frühstück. Zeit genug, um mir einen Überblick über die heutige Arbeit zu verschaffen, einen Kaffee zu kochen und ihn in angenehm einsamer Dunkelheit zu genießen. Ich blätterte durch die neuesten E-Mails. Mir kam ein Gedanke. Die Worte drängten in meinen Geist und ich hielt es für erforderlich, sie aufzuschreiben. Ich wusste, es waren Sätze, die die Welt lesen sollte. Ich verspürte das Verlangen, mich mitzuteilen. Mein Wissen, das mir jäh ins Gehirn schoss, mit der Gesellschaft zu teilen. Von einem Augenblick auf den anderen erschien es mir unaufschiebbar. Ich wollte das Textverarbeitungsprogramm öffnen und tippen. Ich erkannte, dass der Text handgeschrieben werden musste. Er verlöre die Lebendigkeit, die Ausstrahlung, bestünde er aus elektronischen Buchstaben auf einem Monitor ohne Seele. Ich brauchte einen Stift. Die Worte mussten mit einem Schreibstift geschrieben werden. Auf dem Schreibtisch lag kein Kugelschreiber. Ich sah in den silbergrauen Rollcontainer, der zwischen meinen und den Beinen des Tisches stand. Ich öffnete jede der vier Laden. Nirgens ein Stift. In einem modernen, papierlosen Büro, in dem Arbeitsabläufe elektronisch vonstattengingen, verwendete man kein herkömmliches Schreibmaterial. Kollers Pult war nicht papierlos. Er hatte mit Sicherheit einen Kugelschreiber. Ich stand auf und durchpflügte die Stöße auf seinem Tisch. Ich fand einen Radiergummi, eine leere Flasche Mineralwasser, eine schmutzige Kaffeetasse, eine Skateboard fahrende Ente aus einem Überraschungsei, benutzte Taschentücher und keinen Kugelschreiber. Ich wurde zunehmend nervös. Ich musste die Gedanken zu Papier bringen, solange sie mir gegenwärtig waren. Die Sache kam mir zu wichtig vor, um sie an einem Stift scheitern zu lassen. Hektisch öffnete ich die Laden des Rollcontainers meines Kollegen, der nicht versperrt war. Ich fand Schreibblöcke, Autozeitungen, eine Dose mit Eiweißpulver, eine Flasche des penetranten Parfums und keinen Kugelschreiber. Ich durchsuchte den Kasten mit den Schiebetüren, in dem sich bunte Ordner mit alten Tabellen befanden, und den Garderobenschrank. Im ganzen Büro war kein Stift zu finden. Wie sollte ich die Worte aufschreiben, wenn ich kein Schreibwerkzeug hatte? Keinen Kugelschreiber, keinen Bleistift, keinen Filzschreiber, keinen Faserstift, keinen Füllhalter, keinen Leuchtstift? Ich kratze mich am Kinn und dachte nach. Ich brauchte einen Kugelschreiber. Ich musste mir einen besorgen. Ein Mangel. Eine Aufgabe.

      ABSCHNITT 2 – DIE WEIGERUNG

      „Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.“

      Ich stand vor meinem Schreibtisch, der schwarze Sessel hinter mir, und starrte den Monitor an. Um den Kugelschreiber zu besorgen, der von größter Wichtigkeit war, musste ich das sichere Büro verlassen. Der dunkle Raum, das Habitat für vierzig Stunden die Woche, die risikofreie Unterkunft, die mich vom Treiben des Büroalltags fernhielt, war meine schützende Höhle. Von der Heizung erwärmt, bildete er ein angenehmes Gegenstück zu den kalten Gängen vor der weißen Tür. Die Dunkelheit bot Schutz vor der grellen Wirklichkeit des restlichen Hauses. Sollte ich den Text, die Botschaft, mit dem Computer schreiben und ausdrucken? In einer Schriftart, die meiner Handschrift glich? Reichte das, um die Seele des Geschriebenen zu erhalten?

      Wenn ich das Büro verließe, müsste ich mit anderen Kollegen in Kontakt treten. Mich mit Mitarbeitern auseinandersetzen, die nicht auf mein Wohlergehen achteten. Die mit Wünschen und dem Willen Smalltalk zu machen heranträten. Heranstürmten. Sie erschienen mir wie Monster, wie Vampire, die nicht Blut, sondern Energie aussaugten. Sie wollten mich mit ihren belanglosen Geschichten ablenken, um währenddessen meine emotionale Kraft abzuzapfen. Mit ihren mitleidserregenden Erlebnissen Mitgefühl aufgrund uninteressanter Dinge provozieren. Nicht zuletzt wollten sie Arbeit auf mich abschieben, um mehr Zeit zum Pflegen sozialer Kontakte zu haben. Sie kämen mir entgegen und grüßten freundlich. Bewürfen mich mit Erzählungen über ekelige Krankheiten. Über ihre lieben und verzogenen Kinder. Über neue Anschaffungen, bei deren Anwendung sie Hilfe benötigten, weil sie im Vorfeld zu wenig Informationen eingeholt hatten. Über die letzten Urlaube und wie schlecht oder schön diese waren. Über herausragenden Leistungen, die hauptsächlich darin bestanden, sich bei ihrem Chef einzuschleimen und fünf Minuten Arbeit als eine vorzeitig erledigte Lebensaufgabe zu verkaufen. Sie erzählten Geschichten über nette Kollegen und fänden unweigerlich Punkte, die sie an ihnen kritisieren konnten. Sie verurteilten Mitarbeiter für Verhaltensweisen, die sie in gleicher Weise an den Tag legten. Mir wurde schwindlig, als ich an die Scheinheiligkeit und das Gutmenschentum dachte, dass mir beim Verlassen meiner Höhle entgegenschlüge. An den Narzissmus und die Suche nach dem eigenen Vorteil. An die Belegschaft mit besonderen Bedürfnissen, wie es politisch korrekt hieß, die gleichbehandelt werden wollten. Sie wussten, alle Hebel in Bewegung zu setzten, wenn eine Kleinigkeit nicht nach ihren Vorstellungen erledigt wurde und ihnen die gewünschte Aufmerksamkeit verwehrt blieb. Wenn sich die Mehrheit nicht nach den Wünschen einzelner richtete. Was waren diese Begehren, geboren aus Selbstsucht und Eigennutz, gegen mein einfaches Bedürfnis nach einem Kugelschreiber? Was müsste ich durchmachen, welche Qualen durchleben, bevor ich zu dem Schreibwerkzeug käme? Der Gedanke wurde mir unerträglich. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich setzte mich. Im Büro war ich geschützt vor den rücksichtslosen Angriffen der Monster, getarnt als zuvorkommende, einfühlsame Kollegen. Die jeden sofort unterbrachen, wenn von Gefühlen, Wünschen und Erlebnissen berichtet wurde, um die eigenen Geschichten zu erzählen. Die meinen Worten lauschten, um einen Punkt zu finden, an dem sie einhaken konnten, um ihren verbalen Erguss zum Besten zu geben. Ich hatte probiert, Kontakt herzustellen. Ich scheiterte. Gab auf. Wussten sie nicht, wie anstrengend sie waren? Wie sie mir den Verstand raubten, indem sie wertvolle Gedanken mit ihrem Sprachmüll verdrängten? Warum taten sie das? Aus Einsamkeit? Hatten sie das Bedürfnis, sich jedermann mitzuteilen? Mit jeder Geringfügigkeit?

      Ich war nicht einsam. Ich war mir genug. Die Auseinandersetzung mit den Problemen der anderen widerte mich an. Zumal meine problemlosen Zeiten rar gesät waren und ich sie genoss. Die Sicherheit meiner Höhle aufgeben? Nein. Ich brauchte den Kugelschreiber. Der Text, den ich damit zu Papier bringen wollte, veränderte das Denken der Menschen. Offenbarte ihnen eine differenzierte Sichtweise. Zu welchem Preis? Mein Magen spielte bei dem Gedanken vor die Tür zu treten verrückt. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, überhäufte mich jemand mit Belanglosigkeiten. Ich sollte gehen. Die Hände wurden kalt und zitterten. Ich zögerte, nicht bereit, mein sicheres Büro aufzugeben.

      ABSCHNITT 3 – DER AUFBRUCH

      „Der Held überwindet sein Zögern und begibt sich auf die Reise.“

      Ich starrte die Tür zum Gang, zur Außenwelt an. Der Monitor hatte sich in den Energiesparmodus versetzt und zeigte mattes Schwarz. Die letzte Lichtquelle war erloschen. Die Dunkelheit umhüllte mich. Durch den Spalt an der Unterseite der alten, verzogenen Bürotür gelangte ein Streifen weißen Lichtes in das Zimmer. Das grelle, sterile Blenden der Umwelt, das die Umrisse der Einrichtung unheimlich erscheinen ließ. Die beiden Computer ragten wie mystische Monolithe