Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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kriegen die auch noch hin!“ hatte er seinen Teil erfüllt.

      Es sollte die letzte Erfolgsmeldung gewesen sein. Die noch vorhandene Haut am Unterschenkel reichte nicht, ein Titanteil bohrte sich heraus. In der nächsten Operation nahm man deshalb Haut vom anderen Bein - also zusätzliche Schmerzen und eine neue riesige Narbe - aber die wurde abgestoßen.

      Sie holten Haut vom Oberarm, noch eine Narbe, und wieder kein Erfolg. Sie steigerten die Proteindosis um endlich die Abmagerung zu beenden und mehr Substanz zu schaffen, was wir nur daran erkannten, dass Mutter noch mehr Flaschen nach Hause brachte. Ob nicht das fehlende Protein ein Problem sein könnte, fragte ich sie, aber Andreas hatte ihr schon erklärt, dass die Haut ja kein Muskel sei, im Gegenteil also, je kleiner die Muskeln umso weniger Haut brauche man auch zum Abdecken. Er hatte sich ganz genau informiert.

      Warum konnten sie nicht endlich amputieren?

      Einen Ausweg gäbe es noch, verstanden die Ärzte nicht, warum er das Bein opfern wolle, das gerade bilderbuchhaft gerettet worden sei: Man könne einen Strang des Bauchmuskels für das Sprunggelenk verwenden. Die Bauchmuskulatur sei nämlich nicht im gleichen Ausmaß nötig.

      Nein, seinen Bauchmuskel opfert er bestimmt nicht. Gerade auf ihn war er immer so stolz gewesen! Wer konnte schon 1000 Sit-ups ohne Unterbrechung machen? Nie wieder würde er aus dem Liegen ohne Hilfe der Arme aufstehen können! Und er liebte es seine Hand von seinen Rippen ausgehend über den festen Bauchmuskel gleiten zu lassen und die Festigkeit und Straffheit zu spüren. Dieser Muskel war der einzige, der ihm die ganze Zeit geblieben war, den würde er nicht hergeben. Noch dazu für ein Bein, das ohnehin längst verloren war.

      Zuerst hatten sie die Knochensplitter zusammengebastelt ohne daran zu denken, dass sie danach Haut brauchen würden. Jetzt wollten sie ihm den Bauch nehmen ohne daran zu denken, was danach käme. Nein, nicht den Bauchmuskel. Nur endlich amputieren.

      Ahnten die Ärzte endlich, welche Macht da ihre Bemühungen behinderte, als sie den Leiter des Rehabilitationszentrums holten, damit er Andreas erzählte, wie das tägliche Leben von Prothesenträgern aussah? Sie verschoben die nächste Operation um kostbare drei Tage und was immer er ihm erzählt hatte, zumindest redete Andreas zum ersten Mal nicht mehr von der Amputation. Zwar wollte er weiterhin nicht auf seinen Bauchmuskel verzichten, aber wenigstens auf Haut aus dem anderen Oberarm.

      War es also reiner Zufall, dass genau an dem Tag, als in Google News von einer Studie berichtet wurde, nach der männliche Hormone die Heilung von schweren Verletzungen deutlich erschweren, er begann seine testosteronhaltigen Hormonpräparate wieder zu nehmen, was ihm die Ärzte verboten hatten und was er ihnen jetzt auch verschwieg? „Damit er endlich wieder Zuversicht und Kraft hat“ hatte sie ihm Mutter heimlich ins Spital gebracht.

      Sicher ist, dass er Google News damals täglich las. Sicher ist auch, dass er genau damals wieder mit der Einnahme begann. Ungewiss ist, was er damit erreichen wollte. Ob er selbst oder sein Unterbewusstsein gerade das Kommando hatte.

      Zwei Tage später dann die entscheidende Hauttransplantation und kurz darauf das tote Bein. Und dann – schon auf dem Operationstisch - das einzige Mal ein Eingeständnis, was er wirklich wollte.

      Rückblende: Phase 5

      Von diesem Tag sind mir viele Details wie eingebrannt in Erinnerung geblieben, obwohl sie sich in nichts von denen vieler anderer Tage unterschieden, die ähnlich angefangen hatten. Und das lag nicht daran, wie sehr dieser Tag mein Leben verändern würde, denn das würde mir erst viel später klar werden.

      Eine typische Eintagsreise zum Headquarter nach München, Abflug um 6 Uhr, also Aufstehen um 4 Uhr dreißig. Der Wecker war nicht einmal abgegangen, da ich wieder einmal schon vorher hellwach gewesen war und den vorangegangen Tag nicht loswerden konnte: Technische Schwierigkeiten, von denen der Vorstand wieder gesagt hätte, dass sie aus meiner Position mit Durchsetzungskraft und nicht mit technischer Detailliebe zu lösen seien, wo ich aber wusste, dass man die rettende Idee nicht anschaffen konnte, ich also dabei sein musste. Übrigens Risse im Inneren eines Kondensators, ich weiß sogar noch welcher. Ärger mit dem Vertrieb in Deutschland, der zwar vorher nie Planzahlen abgab, dann aber Rekordlieferzeiten brauchte und seine Polemik über unsere Unfähigkeit natürlich gleich beim Vorstand platzierte, er war ja nur zwei Stockwerke entfernt. Diesmal wieder einmal Temperaturfühler für Bosch, einer der größten Kunden des Gesamtkonzerns, das würde also heute nicht als Thema fehlen. Das Nachfolgeproblem für die Qualitätsabteilung, wo der Leiter gekündigt hatte. Die längste Zeit hatte ich ihn gegen den Vorstand verteidigen müssen, weil der keine externe Besetzung gewollt hatte, aber jetzt war es plötzlich ein Riesenverlust, den man natürlich mir anlastete, auch wenn er mir gesagt hatte, was die wirklichen Gründe für seinen Weggang gewesen waren. Zuwenig Aufträge, wie schon die letzten zwei Jahre, wie für alle anderen Bereiche, alle Konkurrenten, sogar Kunden, aber schließlich war genau mein Bereich der, von dem man in der Vergangenheit am meisten Wachstum erwarten konnte und sofort war wieder von meiner Präsenz bei Kunden die Rede gewesen. Dazu eine stockende Vertragsverhandlung, Preise und Haftungsbedingungen, der Vorstand wollte endlich eine Pressmitteilung darüber, man brauchte positive Schlagzeilen, das Damoklesschwert sah er nicht oder es war ihm auch nicht wichtig. Dazu die Vorbereitung auf die heutige Strategiebesprechung für Kondensatoren, ich war bis 10 im Büro, auf der Heimfahrt noch mit Sylvia telefoniert, wenigstens diese halbe Stunde sollte unsere sein, aber auch hier nichts Positives, ihr Vater erholt sich nur wenig von seinem Schlaganfall. Schnelles Essen und tatsächlich bin ich sofort eingeschlafen, aber schon nach drei Stunden war ich wieder wach und die Gedanken bei Rissen und Lieferung und Vertrag, bis an Schlaf nicht mehr zu denken war und ich den Wecker nicht mehr brauchte.

      Es war die letzte Woche vor dem Schulferienbeginn, nach der Sicherheitskontrolle wurden kleine Flaschen mit Sonnenmilch verschenkt, ich nahm ein paar mit, als ob ich viel an die Sonne kommen würde, tatsächlich erinnerten sie mich noch Jahre danach beim Einpacken für den Urlaub an diesen Morgen. Im Flugzeug konnte ich wenigstens die Zeitung lesen, dann schon Landung und S-Bahn, zu Fuß durch einen kleinen Park, der Sommer hatte begonnen, die greifbare Unbeschwertheit des Schulendes, wenn die Noten feststehen. Verkäuferinnen auf dem Weg zur Arbeit, bunter und unbeschwerter als noch letzte Woche. Jede Woche der gleiche Ablauf, die Jahreszeiten nur als Kulisse für das Voranschreiten des Geschäftsjahres. Der Himmel blau, das vorerst unbesiegbare Grün der Sträucher vor der ersten Hitze. In mir hingegen der Vertrag und die Lieferschwierigkeiten. Ich rufe den Entwickler wegen der Risse an, die neuen Testergebnisse zumindest nicht so schlecht.

      Ein kurzer Termin in der Personalabteilung, dann das erste Treffen mit den drei Vorständen und dem eigentlichen Chef, theoretisch nur mehr Aufsichtsrat, und meinem Marketingleiter zur Strategie bei Kondensatoren. Der Alte ist irritiert, warum der Marketingleiter dabei ist, ich hatte ohnehin erwartet, dass er eigentlich etwas anderes in der Sitzung wollte, wie er schon seit Wochen in jedem Gespräch etwas anderes zu wollen scheint, es aber nicht nennen kann. Das ganze Gespräch seltsam lustlos. Ich wusste natürlich, welche Aussagen dem Alten die Gewissheit geben, dass sein Wille mich erreicht hatte, und wie alle anderen musste auch ich ein paar solche in meine Erklärungen einbauen, wenn das Gespräch überhaupt zu Ende geführt werden sollte, doch diesmal schienen sie ihn mehr zu stören als Aussagen, von denen ich wusste, dass er sie nicht hören wollte. Trotzdem kaum Widerspruch. Soviel hätte sich Hinterlaß, der für meinen Bereich zuständige Vorstand, bei seinem Besuch am letzten Freitag auch abholen können.

      Eine Stunde in der Rechtsabteilung, natürlich ist die Haftung gefährlich und auch so hoch, dass sie den Konzern gefährden würde. Also mit dem Juristen wieder hinauf in die Vorstandsetage. Noch beim Hereinkommen schickt der Alte den Juristen weg. Diesmal sind zwei Vorstände dabei, auf jeder Seite sitzt einer, hinter ihm das Fenster, weil immer sein Gegenüber Gegenlicht haben sollte, wie er bei Geselligkeiten jovial bekennt, draußen auch hier saftiges Grün von Baumwipfeln und etwas weiter weg eine große orange Kugel, Werbesymbol einer anderen Firma, die ich immer am Weg durch den Park gesehen hatte, deren Details ich aber erst in den nächsten Minuten aufnehmen würde, während das eigentlich längst Erwartete jetzt doch unerwartet eintrat. Es waren zwei Halbschalen mit Zacken, die aufeinander gesetzt waren, es war auch nicht ein einheitliches orange, sondern ein helleres oben, ein dunkleres