Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


Скачать книгу

vorzumachen versucht, wenn man andere respektieren kann und trotzdem für etwas steht, geht das nämlich.

      Und ich lasse meine Augen vor Enthusiasmus leuchten: Ich werde dafür leben. Sterben. Wenn er sich schon nicht selbst darum kümmern kann – bei niemandem sonst kann er sich so sicher sein, dass es in besten Händen ist. Meine wirklichen Emotionen in künstlichem Tiefschlaf.

      Warum ich überhaupt weg gewollt habe, wurde ich dann erwartungsgemäß gefragt. Kein schlechtes Wort über die alte Firma, es fällt mir schwer, aber auch kein Augenrollen dabei, kein Zwinkern, die Trennung tut mir jetzt schon weh, aber es ist eben nicht meine Vorstellung Europe einfach abzuschreiben, jede Innovation kampflos aufzugeben und nur einfache Produkte billiger zu machen. Ich habe natürlich nach Asien verlagert, mit exzellenten Ergebnissen übrigens, aber immer mit dem Ziel in Europa als Ersatz etwas Neues zu schaffen. Das ist natürlich schwierig und manchmal schmerzvoll, das stellt Ansprüche an Intellekt und Persönlichkeit. Ich möchte einfach die zweite Hälfte meines Berufslebens mit Leuten verbringen, die die Kapazität und das Verantwortungsbewusstsein für diesen Weg haben.

      Nur ja keine Zweifel. Nur ja nicht nachdenken. Wenn er nur einen einzigen einstellt, dann soll ich das sein. Mit Vollgas in ein Tunnel mit der Erwartung des Lichts. Kampfmaschine. Mission. Noch dieses Gespräch, noch dieses Telefonat, noch diese Firma, dann!

      Alles andere begann erst später durch die Erzählungen anderer zu existieren: Der Jahrhundertsommer, was ich sonst gemacht, wen ich getroffen habe. Nichts davon in Erinnerung. Die Demütigungen als lebendige Leiche in der Firma, die Laborrattensituation als Bewerber statt als Entscheider. Alles weg.

      Ich war nicht dabei.

      Zwei Dinge würden letztlich bleiben: Ich kann alles erreichen! Und seit diesem Sommer kann ich in den letzten Winkel eines anderen Gehirns dringen und dem Besitzer genau sagen, was er erst später selbst denken wird.

      Der Rausch endete mit den Angeboten, die ich von fast allen bekam. Ich konnte es mir aussuchen: Konzerne und Privatfirmen, Management oder Technik, Massenware oder Spezialprodukte. Ich hätte stolz sein können, stattdessen hätte ich am liebsten weitergemacht: Noch ein Auftritt, noch eine Firma. Immer weiter. Nicht dass ich glücklich gewesen wäre, tatsächlich war es vor allem Verzweiflung. Aber die Energie dieser Besessenheit katapultierte mich in eine andere Existenz mit anderen Regeln. Mit nichts anderem musste ich mich beschäftigen, nichts sonst existierte.

      Mit dem Zwang zur Entscheidung kehrten die Zweifel zurück: Würde ich die Firma retten können, die seit Jahren auf dem Weg nach unten war? Konnte ich die Hoffnungen auf den Durchbruch erfüllen, der dem Eigentümer schon von so vielen versprochen worden war? Konnte ich dieses Problem lösen, an dem sie alle bisher gescheitert waren? Immer mehr Wahlmöglichkeiten, immer mehr Ängste. Habe ich vielleicht wirklich zu wenig Charisma für tausende Mitarbeiter? War ich nicht durch Glück unverdient in diese Position gekommen und dann erbärmlich gescheitert? Würde ich mich noch in andere Technologien hineindenken können? Oder wäre es nicht besser zu akzeptieren und zu bleiben? War nicht immer wieder eine Chance gekommen? Schätzte ich die Sicherheit nach 17 Jahren in der alten Firma zu gering?

      „Wenn wir das Ding dann verkauft haben, werden Sie in drei Jahren zwei Millionen verdient haben“ lockte der eine Eigentümer. Eine Weltmarke. Aber eben auch seit Jahren im Sturzflug. Würde ich den Verlauf so umdrehen können, dass er dafür so viel bekäme? Und was sollte ich anschließend tun? Wäre so viel Geld am Konto Ersatz für die Nestwärme eines beständigen Arbeitsplatzes?

      „Sie sind der erste, dem ich zutraue aus diesem selbstgefälligen Haufen wieder eine Mannschaft zu machen. Holz ist ein Werkstoff der Zukunft und ganz sicher kommt der nicht aus Asien. Sie können natürlich an dem einen oder anderen Standort wohnen, sie werden ohnehin jede Woche an beiden sein“ So ganz ohne Technologie? Konnte ich wirklich die Parteien zusammenführen? Hatte nicht genau dieser Eigentümer seine Geschäftsführer wie Marionetten ausgetauscht? Und in einem Dorf wohnen?

      „Sie sollten wissen, dass wir normalerweise keine Quereinsteiger in solche Positionen wollen. Aber ihre Kompetenz auf diesem Gebiet und Ihre Erfahrung sind für uns der Wert und Ihre Persönlichkeit paßt zu unseren Wertvorstellungen. Vielleicht ist das Gehalt niedriger als das anderer Angebote, aber zu uns kommt niemand wegen des Gehalts, zu uns kommt man, weil man ein Leben lang bleibt“ Hatte ich wirklich den Wert? War ich technisch so kompetent, wie sie glaubten? Was, wenn sie merkten, dass ich bestenfalls zusammengefasst und verkauft hatte, was meine Mannschaft auch ohne mich getan hätte?

      „Sie werden sehen, es wird eine tolle Sache“ erkannte mein späterer Chef seine Chance. Aber gerade ein Hundertstel vom früheren Umsatz, nur 65 Mitarbeiter. Abteilungsleiter, nicht einmal Bereichsleiter, schon gar nicht Geschäftsführer. War ich damit zufrieden oder war ich nur feig? War es nur, weil wir nicht den Wohnort wechseln mussten? Und dazu trotzdem: Technik, die ich nicht kannte und verstand. Experten, die niemanden akzeptierten.

      Ich unterschrieb. Und sagte mir selbst, dass ich ja mein Leben hatte ändern wollen um es noch einige Zeit zu erleben. Dass es mir auf mehr Geld ja nicht ankam. Dass ich mir aus Macht und Wichtigkeit ohnehin nie etwas gemacht hatte. Dass ich die innere Freiheit hatte damit umgehen zu können.

      *

      „Wir haben vor drei Jahren schon einmal ein Konzept für Ihren Bereich gemacht“ gab mir mein neuer Chef am ersten Tag eine Broschüre, „Ich möchte mit Ihnen möglichst bald darüber reden“

      Ich las sie mindestens dreimal aus Angst irgendetwas zu übersehen und gleich bei der ersten Aufgabe einen Fehler zu machen. Nach einer Stunde rief ich seine Sekretärin an. Nein, heute hat er keine Zeit mehr. Aber er wollte doch möglichst rasch? Nein, auch nicht in dieser Woche. Nächste Woche ist auch schlecht. Könnte sie ihn fragen?

      Schließlich bekam ich einen Termin nach Weihnachten, mehr als ein Monat später. Aber selbst der würde nicht zustande kommen.

      *

      Worüber ich mir nie Gedanken gemacht hatte: Wie setzt man einen Computer auf? Wie nimmt man ein Handy in Betrieb? Wenn ich etwas gebraucht hatte, lag es spätestens am nächsten Morgen auf meinem Tisch bereit. Jetzt hatte ich zwei Schachteln im Büro und konnte mich nicht mit so einer dummen Frage blamieren. Zurück im normalen Leben.

      *

      Eine Überraschung am letzten Tag vor Weihnachten: Der Eigentümer hat beschlossen, dass meine Abteilung als eigene Firma ausgegliedert wird. Damit bin ich doch wieder Geschäftsführer. Klingt gut, aber wie soll diese Puppenküche ohne finanzielle Hilfe überleben? Mehr Skepsis als Freude.

      *

      Ich besuchte Andreas an seinem Institut, ungeplant und nicht angekündigt, einfach weil ich am Nachbarinstitut zu tun gehabt hatte, seit der Auseinandersetzung bei den Eltern hatten wir uns nicht gesehen. Er schien sich sogar zu freuen. Hätte er doch gerne mehr Kontakt? Oder spielten wir eine Normalität, die es gar nicht gab? Immerhin keine Spannung. Das Gebäude ist gespenstisch leer, wer arbeitet schon nach 18 Uhr auf einer Uni, noch dazu im Sommer, das schmutzige Fenster flimmerte in der schon sinkenden Sonne. Zwei Schränke voll mit Büchern zu linearer Algebra. „Wieso so viele?“ Er brauche alle, sogar aus USA habe er bestellt, zum Teil antiquarisch, weil vergriffen, unglaubliche 35000 Euro insgesamt, für ihn fast ein Jahresgehalt, sogar sein BMW-Motorrad habe er dafür verkauft. Es könne doch nicht in allen etwas anderes zum selben Thema sein? Nein, aber er wolle sicher sein, dass er nichts übersehen würde ohne es auch wirklich vollständig verstanden zu haben. Mir fiel ein, wie er schon zu Schulzeiten Stunden und Tage in irgendwelchen Fragen gebohrt hatte um zuletzt erleichtert das tun zu können, was jeder andere ohne nachzudenken auch so getan hatte. Auf wie vielen Ebenen und aus wie vielen Perspektiven er etwas verstehen musste um es auch akzeptieren und verinnerlichen zu können. „Du in Deiner Oberflächlichkeit“ hatte er damals gesagt, wenn mir es auch ohne weiteres Nachdenken einfach klar war. Hatte er endlich seine Freiheit gefunden? Oder sein Gefängnis in diesem Büro mit dem Geruch nach überreifen Bananen, dem vielen Papier mit Berechnungen, dem abgewetzten Stuhl, dem Blick in den schon wieder leeren Hof?

      „Wie viele Semester willst Du eigentlich noch Mathematik machen?“ ließ