Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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meiner Unsicherheit, der Langeweile. Tatsächlich wollten zwei der 3 Kunden an das Wissen herankommen und schlossen Beraterverträge mit mir ab. 8 Jahre sollte es dauern, bis die volle Wirkung zu sehen war. Dann hatte ich der alten Firma zerstört, was ich ihr damals unbelohnt gegeben hatte: 120 Millionen Jahresumsatz, 40 Millionen Ergebnis. Soviel zu meiner Technikkompetenz. Es störte mich auch nicht, dass keiner den Zusammenhang herstellen konnte.

      *

      Es hätte mir schon sehr wehgetan, wenn das Ergebnis in der alten Firma nach meinem Abgang schlagartig sehr viel besser geworden wäre. Es hätte mein Versagen für alle sichtbar endgültig bestätigt, hätte meine Flucht in die Bedeutungslosigkeit der neuen Stelle erklärt. Eine gewisse Verbesserung würde ich ertragen müssen, schließlich wurde die Konjunktur besser, die von mir begonnen Maßnahmen würden nützen und natürlich würde man mein letztes Jahr schlechter, Hinterlaß´ erstes Jahr besser darstellen, das konnte ich mir noch wenigstens selbst argumentieren. Aber hoffentlich nicht dreimal so gut! Denn das war die Zahl, die er mir immer vorgehalten hatte: Nicht 20 Millionen Ergebnis, 60 sollten es sein, zumindest 50. Wenn er sie jetzt sofort erreichen würde, dann hätte ich es dokumentiert: Unfähig.

      *

      Mein erster Urlaub in der neuen Firma: Yucatan ohne Touristen, denn die waren vor Hurrikan Wilma geflüchtet, obwohl nur die Gegend um Cancun betroffen war. Ungewohnt: Zeit für die Urlaubsplanung, nicht im letzten Moment zum Flughafen, kein Vorwurf wegen drei Wochen Abwesenheit, keine tägliche Kontrolle, ob noch keine Hiobsbotschaft in der Firma wartete. Wirklich Urlaub.

      Und noch dazu ein kleines Erfolgserlebnis: Erstmals ein positives Monatsergebnis.

      Wir waren vor der Hitze in den klimatisierten Computerraum des Hotels geflüchtet und so lag Campeche wie hingemalt viele Stockwerke und hinter einer getönten Glaswand unter uns, die vielen Farben der Kolonialgebäude, die Plaza, unter deren Bäumen wir den langsamen Verlauf der Mittagsstunden erahnen konnten, die zwei Kirchtürme auf der einen Seite, die spiegelnde Hitze über dem Asphalt der Küstenstraße vor dem perfekten Türkis der Karibik auf der gegenüberliegenden. So irreal, dass ich am liebsten wie neu geschaffen hinausgelaufen wäre, wären wir nicht gerade von Temperatur und Feuchtigkeit zur Zeitlupe verzögert hereingekommen.

      Nachrichten im Internet also, Österreich, International, Sport, Wirtschaft, schließlich den Namen meiner alten Firma und dann: Nicht 60 Millionen, nicht 50 hatte Hinterlaß gemacht, nicht einmal meine 20. Ganze 10. Und sie hatten ihn hinausgeworfen. „Neue Aufgaben außerhalb der Firma“ wie nur für mich geschrieben.

      Mein Leben hatte neu begonnen. Das Loch in der Biographie war keines mehr, ich musste diese Jahre nicht mehr verstecken.

      *

      Warum können andere mit sich zufrieden sein, oft sogar stolz, obwohl sie doch wissen müssen, dass sie völlig irrelevant sind? Dass der Welt egal ist, was sie denken oder tun? Dass das, worauf sie stolz sind, dass sie gut fußballspielen oder Abteilungsleiter sind, tausende andere wahrscheinlich besser machen? Dass ihre Freunde sie nur anerkennen, weil sie jemanden brauchen, von dem sie umgekehrt auch anerkannt werden? Dass sie einfach nur einer von vielen sind?

      Vor allem jedoch: Warum fällt es mir so schwer das zu ertragen?

      *

      Andreas musste gegen viele Bedrohungen ankämpfen. Da war der Fernseher, der immer eingeschaltet werden wollte und ihm dann die Zeit vernichtete. Der Kühlschrank, der ihn nicht nur mit seinen plötzlichen Schaltgeräuschen aus der mühsam gewonnenen Konzentration riss, sondern ständig daran erinnerte, dass er gefüllt sein und ihn essen lassen sollte. Die Kaffeemaschine, die zu einem Morgenkaffee, zu Munterkeit, zu einem geregelten Tagesablauf drängte. Der Toaster, der einforderte wieder Brot zu kaufen. Viele Packungen Schokolade, die lockten und verführten, wo er aber wusste, dass sie dann seine einzige Nahrung sein würden. Großpackungen von Süßstoff, die ihn erst richtig hungrig machen würden.

      Die Eltern halfen ihm: Sie kauften ihm die Geräte ab, zwar hatten sie bereits in jedem Zimmer einen Fernseher und natürlich auch Kühlschrank, Toaster und Kaffeemaschine, aber schließlich war alles fast ungebraucht und sollte er zu seinen ganzen Schwierigkeiten auch noch einen finanziellen Schaden haben?

      *

      „Nur Vitamine“ verteidigte ihn Mutter, als ich zufällig erfuhr, dass Andreas jetzt wieder Präparate im Gewichthebeverein kaufte. Sie würden diese Vitamintabletten inzwischen ebenfalls nehmen, denn er hatte ihnen einen Artikel gezeigt, in dem die allgemeine positive Wirkung und der Schutz bei vielen Krankheiten genau erklärt wurde. Da half es auch nichts Ihnen zu sagen, dass die Tabletten im besten Fall wirkungslos wären. Andreas hatte sich damit ausführlich beschäftigt! Ich hätte auf mein studiertes Wissen hinweisen können, aber das hätte nichts geändert. Nicht einmal, als ich ihnen später zeigen sollte, dass der Händler bereits verurteilt worden war, hörten sie damit auf. Andreas versteht von diesen Dingen einfach mehr.

      *

      Das erste Jahr in der neuen Firma ist zu Ende und zum ersten Mal überhaupt ist das Geschäftsergebnis positiv. Habe ich überhaupt etwas dazu beigetragen?

      Tatsächlich bin ich zwar ständig durch die Fertigung und die Büros gegangen, habe jeden angesprochen, wie es bei ihm so laufe, habe ein paar Worte zur Situation gesagt und dabei darauf geachtet mir meine Ahnungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. Das Ergebnis habe ich erklärt und worauf es ankommt. Einmal die Woche habe ich ein Jour Fix abgehalten und versucht ein Gespräch über die Themen in Gang zu bringen, die mir kritisch vorgekommen sind, die ich aber selbst nicht einmal richtig verstanden habe, Gespräche also, denen ich selbst meist nicht wirklich folgen konnte.

      Für die Fertigungsorganisation war nichts von dem, was ich konnte oder wusste, auch nur annähernd verwendbar. Mein einziger Beitrag für die Entwicklung war, dass der Zieltermin wichtiger als die Aufzeichnung und Kontierung der Ingenieursstunden ist.

      Unsere bisherigen Kunden zu besuchen, hatte ich vermieden: Sie hätten sofort gemerkt, dass ich weder vom Einsatz der Sensoren noch von den Resultaten irgendetwas verstand, nicht einmal Grundkenntnisse im Maschinenbau hatte - ich hätte unsere Firma nur blamiert.

      Ernüchternd auch die Besuche bei potentiellen anderen Kunden: Interesse ja, aber nie mehr als 20 Stück, jeder braucht etwas anderes. Die Entwicklungsabteilung brauchte immer das gleiche: 100 Mannwochen. So wird das nie funktionieren.

      Wenigstens eines, was wirklich ich war: Der Besitzer einer kleinen Messtechnikfirma ist bereit seine selbst gebauten Sensoren durch unsere zu ersetzen, 500 Stück pro Jahr, dafür aber furchtbarer Preis, halb so teuer wie unsere anderen Sensoren. Wenigstens nicht viel Entwicklungsaufwand, weil ich ihn überreden konnte mir seine Konstruktionszeichnungen zu geben. Aber auch das zählt heuer noch nicht, vielleicht -hoffentlich - im nächsten Jahr.

      Hat niemand bemerkt, wie wenig ich zur Verbesserung beizutragen habe? Wie lange dauert es, bis der Eigentümer merkt, dass die größte Einsparmöglichkeit mein Gehalt ist?

      *

      „Ich bitte Sie, retten Sie mir die Brust“ wollte Mutter den Chirurgen mit dem Rest Mädchenhaftigkeit, den sie noch aktivieren konnte, in eine Verpflichtung treiben.

      „Ich versuche Ihr Leben zu retten, nicht die Brust“ erstickte er aber ihre gegen den Abgrund kämpfende Leichtigkeit.

      Wieder einmal Krebs. Zum dritten Mal, einfach unglaublich. Schilddrüse mit 38, Gebärmutter mit 43 und jetzt Brust mit 67. Obwohl sie sich bewusster als alle anderen ernährte, auf Vitamine und Spurenelemente achtete, obwohl sie regelmäßig Sport machte, zum Arzt ging, nicht rauchte. Die ersten beiden Male hatte sie mit schlichter Ignoranz gesiegt: Es durfte nicht sein, es konnte nicht sein, es war letztlich auch nicht. Es gab zwar Schnitte und Narben, die eine unter Halstuch oder Kette versteckbar, die andere im Bikini, es hatte finstere Monate mit Angst und Zweifeln gegeben, aber – und darauf war sie stolz - kein Wort der Klage, kein Zeichen der Schwäche, keine Unterbrechung ihrer Aufgaben. Keiner sollte etwas davon merken, keiner brauchte zu wissen, dass es Krebs war. Sie trug der Nachbarin sogar den Einkauf nach Hause, weil sie ihr