Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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nur Strand, wir wollen ja nach Gorongosa und es ist nicht so selbstverständlich, dass es klappen wird. Eigentlich wäre ich ja selbst gerne geblieben, aber noch hatte ich es nicht verdient, noch war die Tour erst am Anfang, noch waren wir nicht in Gorongosa. „Beim Zurückfahren“ als Gegenvorschlag, denn erst dann würde ich es genießen. „Die Gegenwart wird auch in der Zukunft nicht besser sein“ zertrümmerte sie meine Ordnung um es mir mit Morgensex zu demonstrieren, noch vor dem Frühstück, das es im Hotel ohnehin nicht gab. An der Tankstelle kauften wir anschließend zwei Früchtejoghurts, die einzigen im Ort, wie wir am nächsten Morgen feststellen sollten, dazu ein paar kleine Brote vom Bäcker, wir saßen auf Betonbänken an der Tankstelle, denn sonst gab es nichts, das Leben machte einen Tag Pause und mit ihm all meine Dämonen. Ein Tag als Loch in der Zeit. Ein Tag Glück auf zerbröckelnden Gehwegen, im weißen Sand, zwischen den fliegenden Fischen im warmen Wasser, im Schatten der Palmen, auf das Mädchen an der Tankstelle wartend, wenn sie in Zeitlupe die Cola-Flasche an der Zapfsäulenkante für uns öffnete und uns neugierig dabei ansah. Ein Tag mit trockenem Brot zu Mittag und frischen, aber in zu viel Öl schwimmendem Fisch am Abend, den Kindern, die uns genau, aber immer von weit weg beobachteten, ein Tag ohne Fernsehen, ohne Musik, ohne Bücher, ein Tag mit der langsam über den Himmel wandernden Sonne, die gerne hätte einfach stehenbleiben können. Warum ist das sonst so schwer? Ein Tag wie ein Leben. Ein Tag als Geschenk, für das ich mich nie bedankt habe.

      Gorongosa erreichten wir trotzdem.

      *

      Es hätte genug Grund für Mutter gegeben stolz zu sein: Auch diesmal würde sie den Krebs besiegen, das wurde mit jeder Nachuntersuchung sicherer. Zumindest ein Teil ihrer Kraft kehrte zurück, die Haltung, die Mimik. Obwohl ihr die Ärzte es für ausgeschlossen gehalten hatten und auch wenn ihr die Schmerzen anzusehen waren, wenn sie kämpfte: Sie hatte keinen künstlichen Darmausgang gebraucht. Trotzdem hatte das alles für sie nicht die Priorität.

      „Du solltest seinen Brief an das Ministerium lesen“ war ihre Antwort, wie es ihr gehe. „Du würdest ihm nie zutrauen, wie souverän er formuliert.“ Und hatte schon vier Blätter in der Hand, die ich mir trotzdem nicht aufdrängen ließ. „Worum geht es?“ verweigerte ich demonstrativ die geforderte Identifikation, auch wenn es selbst dadurch kein Ausweichen gab und das Thema für diesen Besuch schon feststand.

      „Dass der Professor seine Anwesenheit kontrolliert und ihn der Rektor abgemahnt hat.“ Dass die Freiheit der Forschung, die ureigenste Aufgabe des Universitätswesen nicht mehr gegeben sei, wenn der Professor von ihm verlangte die Übungsbeispiele vorzubereiten, obwohl Andreas die Mathematik - Vorlesungen besuchte. Dass er ihm gezielt und durch Überschreitung seiner Befugnisse die Möglichkeit nahm seine wissenschaftliche Arbeit fortzuführen, obwohl sich gerade am Beispiel der Strömungslehre zeige, dass das Beharren auf den alten Weg in eine Sackgasse und damit in den Stillstand geführt hat. Seit Jahren sei genau deshalb nichts mehr publiziert worden. Dass nur ein neuer Geist verhindert würde, dass man glaube sich von internationalen Maßstäben abkoppeln zu können. „Er wollte natürlich nicht, dass Andreas jetzt ausschließlich Mathematik macht“ kann ich nicht zustimmen, obgleich ich damit wieder auf einen Streit zusteuere. „Wer wollte denn, dass er Mathematik lernt?“ und wenigstens beginne ich nicht auch noch mit den zwei vereinbarten Semestern, an die ich mich erinnern kann, die für sie mittlerweile aber ausgelöscht waren. Meine Erinnerung war in solchen Situationen immer falsch, so war es sicher nicht gewesen.

      „Um seine Sachen rechnen zu können muss er aber nicht gleich ein ganzes Studium machen“ stattdessen, aber das reicht natürlich auch nicht. „Natürlich, was verstehst Du schon davon?“ und so geht es weiter und weiter. Der Institutsleiter hat kein Recht ihm etwas zu befehlen, nicht Andreas.

      „Ich würde es nicht auf einen solchen Kampf ankommen lassen“ versuche ich wenigstens diese Sinnlosigkeit zu beenden, glaubte er wirklich, er würde sich gegen den Uni-Apparat durchsetzen?, nur um „Du brauchst gar nicht reden, was war bei Dir in Malaga?“ vorgeworfen zu bekommen.

      „Genau deshalb, ich kenne die Konsequenzen“, während ihre Reflexe schon einen noch wunderen Punkt gefunden hatten. „Und was hat Dir Dein Nachgeben genützt? Dass Du dich so hast demütigen lassen?“ Wenigstens sagte sie nicht, dass ich mich aufgegeben hatte, dass ich mich unter meinen Möglichkeiten arrangiert hatte, nur weil ich den Kampf nicht gekämpft hatte, der gekämpft werden muss, den sie sicher gewonnen hätte. Wenigstens das sagte sie nicht.

      Hätte ich antworten sollen, dass ich wenigstens nicht allen anderen vorgejammert habe? Dass ich ja nicht auf einer unkündbaren Beamtenstelle gesessen bin? Dass ich nicht in Anspruch genommen hätte, dass mich andere versorgen würden?

      Und so war meine fehlende Antwort ihr Sieg. Ja, er musste Mathematik studieren. Nein, er durfte nicht nachgeben. Sich nichts anschaffen lassen. Nicht von seinem Ziel abweichen. Andreas, nur er in dieser Familie hatte ihr Rückgrat geerbt. Nur er war ein richtiger Mann. Nur er wusste, was für die Strömungslehre richtig war. Ihr Geschöpf, ihre Schöpfung, sie selbst.

      *

      Andreas und Mutter behielten Recht: Es wurde kein Exempel für die Missachtung der selbstverständlichen Erwartungen gezogen und um seine Stelle musste er sich weiterhin keine Sorgen machen. Die Freiheit der Forschung sei das größte und unverzichtbarste Gut, bestätigte das Ministerium und seine Bemühungen dafür würden ausdrücklich anerkannt. Die Universität sei im Rahmen ihrer Autonomie dazu angehalten das in entsprechender Weise umzusetzen.

      Mutter hatte es immer gewusst.

      Der Fall wurde an den Rektor und den Personalvertreter zurückgewiesen. Dort reagierte man mit den Schikanen einer Bürokratie, Entzug der Zulage für Vorlesungen und Übungen, von ihm diesmal erfolglos, weil durch seinen Zeitbedarf gut begründbar, beeinsprucht, Gesprächsverweigerung, weiterhin keine Erneuerung des Computers. Andreas verlegte seine Anwesenheit in die Wochenenden und in die Nacht, vordergründig, weil er weniger gestört würde. „Er arbeitet sogar an seinen Urlaubstagen“ rechtfertigte Mutter, dass er schließlich niemanden treffen musste, um mehr als die vorgeschriebenen Arbeitsstunden zu leisten.

      *

      Seit Jahren hatte ich keine Anzeichen erkannt, dass Mutter noch irgendeinen Bezug dazu behalten hätte, was mir gefiel, was ich mir wünschte oder dachte. Sie fragte nicht und wenn ich etwas preisgab, dann nur in Bruchstücken oder in Nebensätzen. Es musste also mehr als eine normale Einladung zu ihrer goldenen Hochzeit sein, als sie plötzlich ganz genau wusste, dass die für mich einzige überhaupt denkbare Gruppenreise eine Nilkreuzfahrt wäre. Ich hatte es tatsächlich gesagt, aber nicht in einem Gedankengang, sondern in Teilen: Dass man mit Kreuzfahrten auf dem Meer ein Land nicht kennen lernen kann, weil die Hafenstädte meist anders als das Landesinnere sind. Dass es wenige Flüsse gibt, an denen genügend Geschichte und Kultur zu finden ist, die die Dauer einer Kreuzfahrt rechtfertigen. Dass geführte Reisen für mich allenfalls in Gebieten in Frage kämen, wo Sprache, Schrift und die Aufdringlichkeit der Bevölkerung sogar die erzwungene Geselligkeit des Gruppendrucks erträglich machen würde. Dass eine Kreuzfahrt die bessere Wahl sein könnte, wenn die Hygiene auf dem Schiff besser als in den Hotels am Land wäre. Dass es nur wenige Orte auf der Erde gäbe, wo die Geburt einer Hochkultur aus dem Nichts greifbar ist. Das alles hatte sie aus ihrer Erinnerung saugen und richtig zusammensetzen müssen.

      So wichtig konnte ich ihr nicht sein.

      Tatsächlich wollte sie Andreas und mich wieder zusammenbringen, das wurde immer deutlicher, je weniger Raum sie Sylvia und mir ließ eine Ausrede für eine Absage zu finden. So sehr vereinnahmte sie dieses Ziel, dass sie vergaß die richtigen Schuhe auf die Reise mitzunehmen und auf Pantoffeln durch die Ausgrabungen stakste, dass sie auch nach Tagen unser Schiff an der Anlegestelle nicht erkannte, unseren Tisch im Speisesaal nicht alleine fand, dass sie in Esna fast die Leiter hinuntergestürzt wäre.

      Das noch vor Sonnenaufgang beginnende Programm und die unwirkliche Hitze auf dem Deck an den freien, aber auch nicht verwendbaren Nachmittagen machte es leichter als erwartet Normalität zu heucheln. Unsere Wortgefechte, dass er ausschließlich Fleisch, davon aber meist fünf Portionen aß, erinnerten mehr an die Neckereien der Schulzeit als an die Diskussionen der letzten Jahre. Dazwischen bewies er mit Schlussfolgerungen