Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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wenn es nicht für mich war, selbst wenn es falsch war. Irgendwann dann doch, weil sie ja nicht nachlässt und meine Zustimmung immer wieder einfordert „In einer Firma ginge es nicht so“ und damit war jetzt auch ich Feind.

      „Dafür verdient er ja auch viel weniger, obwohl er das viel schwerere Studium gehabt hat“ und dann noch schmerzhafter, weil sie jetzt genau wusste, wo es weh tun würde „Dass Du nicht als Führungskraft geeignet warst, hast Du ja gesehen“ Für mein Schicksal war ich ganz alleine verantwortlich, während es bei Andreas immer die anderen waren. Sylvia steht auf und will gehen, während ich noch auf dem Sofa festklebe. Hat sie das Recht, nur weil sie überlebt hat? Andererseits: Darf ich genau das zerstören, was sie ins Leben zurückgeholt hat?

      *

      Andreas kam nie zu den Eltern, wenn auch nur die Chance bestand, dass Sylvia und ich kommen würden. Er wusste genau, was ich über diesen Kleinkrieg gegen den Professor und mittlerweile auch schon Rektor bezüglich der Freiheit der Forschung, sagen würde.

      Beim einzigen Zusammentreffen behandelte er Mutter schlecht: Schrie sie an, wenn sie zu langsam war, ließ sich von ihr die Sachen bringen und schließlich lachte er über ihre neue Vergesslichkeit, schließlich wusste auch er, wo er verletzen konnte „Aber sei froh, dass von Dir ohnehin keiner mehr etwas erwartet, sonst wäre es schlimmer“ wenn sie darunter litt und hoffte, dass es nur die Medikamente seien.

      „Da fehlt Dir so ziemlich alles, damit Du das überhaupt verstehst“ wenn er nur den Hauch eines Zweifels an seinen Behauptungen vermutete.

      Sie reagierte mit dem einzigen Mittel, das ihr geblieben war: Noch mehr Hingabe.

      *

      „Ist dort nicht Bürgerkrieg?“ „Ist das nicht sehr anstrengend?“ „Ich würde mich das nie trauen!“ war sicher auch ein Grund im Urlaub ausgerechnet nach Mosambik zu reisen. Das Staunen und die Bewunderung bestätigten mir, dass ich nicht wie die anderen war. Dass ich noch immer mehr Mut und Energie als die anderen hatte. Dass ich nicht Durchschnitt war. Das konnte ich mir nicht anmerken lassen und erzählte deshalb von Simbabwe, fünfzehn Jahre davor, und von Venezuela, wo ich auch kaum Touristen und schon gar keine alleinreisenden getroffen hatte und wusste doch gleichzeitig, dass ich diese Momente der Überlegenheit nach der Rückkehr noch viel mehr als jetzt genießen würde.

      Meine Anspannung versuchte ich zu verstecken, auch vor Sylvia und vor allem vor mir selbst. Musste ich mir das wirklich antun? Drei Wochen vor der Abreise erinnerte mich eine Dienstreise in die USA daran, wie angenehm hier der Urlaub im Vorjahr gewesen war: Unkompliziert, ungefährlich, planbar, sauber. Wie war ich nur auf diese Idee gekommen?

      Schon im Flugzeug hatte ich die ganze Zeit die ersten Meilensteine vor Augen: Einreise, Gepäck, Leihwagenanmietung, Geldwechsel, Großraum Johannesburg verlassen. Nicht schwierig, aber besser es ist vorbei. Anschließend eine ruhige Phase: Autofahren und eine saubere Übernachtung noch in Südafrika. Malaria Tabletten kaufen. Aber dann: Grenze, hinein nach Maputo, Hotel suchen.

      Würde die Grenze so chaotisch und gefährlich sein wie damals die zwischen Simbabwe und Südafrika? Oder sogar noch schlimmer, weil es vom reichsten direkt in das ärmste Land der Region geht? In jedem Moment aufpassen, was passiert. Ich spüre den Blutdruck durch den Kopf sausen, registriere jede Bewegung, ständig der Blick, wer sich nähert. Ob jemand zu unserem Auto geht. Das Ausreisformular muss ich zweimal ausfüllen, weil ich die Zeile verwechsle. Die Hand stütze ich ab um weniger zu zittern.

      Draußen steht unser Auto allein friedlich in der Sonne. Nur schnell raus aus dem Container, in dem die gelangweilten Südafrikaner kaum kontrollierend die ausgefüllten Blätter einsammeln. Es ist Sonntag, zum Glück also nicht allzu viel Betrieb, vielleicht zehn Autos in der Schlange, keine Lastwagen und vor allem keine Fußgänger, die den Überblick sonst am schwierigsten machen. „In vier Stunden“ stelle ich mir vor, wie ich im Hotelzimmer sitze und diese Etappe überstanden habe. Und zucke zusammen, als plötzlich ein Schwarzer ganz knapp hinter mir steht, den ich davor nicht gesehen hatte. Er streckt mir den Kugelschreiber entgegen, den ich im Container liegengelassen habe. Lachen würden wir darüber erst am Abend.

      Dann noch die andere Seite: Einer der Zöllner verlangt unsere Pässe und Geld für das Visum und verschwindet. Würde ich ihn wiedererkennen, wenn er nicht zurückkäme? Es gibt keine Reihen, vor jedem Zöllner stehen sie dicht gedrängt, alle schwarz, hektisch durcheinanderredend, die Arme ausgestreckt um zu geben oder zu nehmen. Unser Auto ist von hier nicht zu sehen, nur wenn ich die Tür aufmache, sehe ich wenigstens den Kotflügel, zumindest der ist noch da. Ich würde am liebsten immerfort im Kreis gehen, zur Beruhigung, aber das macht Sylvia nervös, also tue ich so, als lese ich die ausgehängten Schriften, während ich schon froh sein muss, wenn ich denen einen oder anderen Satz verstehe. Ich spüre Schweiß auf Brust und Rücken, obwohl die Klimaanlage läuft. Was will ich eigentlich beweisen? „In 3 ¾ Stunden“ und belüge mich selbst, weil es gemessen am Beginn der Zählung eigentlich nur mehr 3 ½ wären, ich aber nicht Null vor dem Ziel erreichen will. „Boa viagem“ habe ich plötzlich die Pässe in der Hand und bekomme ein Lächeln – über meine Nervosität? Den Zöllner hätte ich nicht mehr erkannt.

      Dann noch die Straßengebühr und nach einer Stunde wieder im Auto, das natürlich nicht aufgebrochen wurde, eine leere Schnellstraße ohne Verkehr, der afrikanische Busch, keine Menschen, deshalb also auch keine Fußgänger an der Grenze. „Wieso regst Du Dich immer so auf“ streichelt mir Sylvia die Hand. Und ich denke dabei schon an Maputo und wie wir wohl zum Hotel finden werden. Zwei Stunden! und stelle mir vor schon im Zimmer zu sein.

      Jedesmal, wenn ich aufwachte, meinte ich die Schritte des Wächters auf der Terrasse vor unserem Zimmer zu hören, manchmal auch seinen Schatten zu sehen. Als ich jetzt aber die Tür öffne, ist niemand da, nur die Lagune im strahlenden Morgenlicht, so glatt, dass die Bewegung des Wassers gerade noch an den Lichtreflexen zu erkennen ist, eine Stille als wäre alles gerade erst erschaffen worden, keine Spur mehr vom kräftigen Wind des Nachmittags und Abends. Sonne streichelt meine Haut, am Strand geht ein Schwarzer mit einer Angel und winkt, als er mich bemerkt. Die Halbinsel auf der anderen Seite der Lagune ist ein schmaler Keil zwischen dem kräftigen Blau des Himmels und dem kitschigen Karibikgrün des Wassers, davor die Sonnenschirme aus Schilf. Anscheinend waren nur wir im Hotel, die riesige Terrasse, an der alle Zimmer liegen, ist leer, die Vorhänge sind nur bei uns zugezogen. Ein paar Stufen darunter der Sand, zwar doch mit ein paar Abfällen, aber sonst schneeweiß, dann ein flaches, durchsichtiges Wasser und immer wieder fliegt ein Schwarm aus winzigen Fischen für ein paar Sekunden über der Oberfläche. Alles neu und alles nur für mich.

      Ich wollte von Maputo so schnell wie möglich nach Norden, Gorongosa, ein legendärer Nationalpark fast genau in der Mitte des Landes war das Ziel, dann konnte ich den Anspruch erheben, das Land auch bereist und nicht nur kurz angerissen zu haben. Sylvia aber hatte Bilene im Führer entdeckt und ich hatte zugestimmt, weil es kein großer Umweg war und ohnehin unklar war, in welchem Ort es überhaupt eine einigermaßen akzeptable Unterkunft geben würde. Es hatte einige Zeit gedauert, bis wir uns auf das Hotel geeinigt hatten, es war teurer als in Südafrika, aber die anderen lagen nicht am Strand, waren sehr primitiv oder sahen noch teurer aus. Die weiße Besitzerin hatte Verhandlungsversuche unwirsch abgeblockt. Schließlich hatte ich nachgegeben, das Zimmer war einfach, die Dusche eine Ecke mit Vorhang, das Waschbecken schief, immerhin aber sauber, wenn auch nicht USA oder Südafrika. Ok, ein halber Nachmittag und irgendwo musste man ja schließlich übernachten, auf der anderen Straßenseite ein portugiesischer Brunnen ohne Wasser, ein altes Gebäude, offenbar die Schule, Kinder ohne Zahl, die uns aus der Ferne beobachteten, aber nicht näher kamen. Vielleicht ein Restaurant, aber völlig leer, insofern Hemmungen hineinzugehen, also Essen im Hotel. Der Preis des Fischs wird durch die Zubereitung bestimmt, was gerade gefangen wird, macht keinen Unterschied. Nachlassen der Spannung als Belohnung für das Erreichte.

      „Wir sollten noch eine zweite Nacht bleiben“ kommt Sylvia auf die Terrasse und denkt nicht daran, dass ich heute bis XaiXai und dann nach Inhassoro will, dass ich überlege, wie wir zu Benzin und Essen kommen werden. Wo wohl die schlechten Straßen beginnen würden, ob wir es ohne Reifenschaden schaffen würden und ohne von einem korrupten Polizisten aufgehalten zu werden. Noch drei Tage und wir wären