Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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war er bald wieder gefahren.

      Ich wollte mit dem Buch Andreas mehr Optimismus geben, als ich ihn selbst aufbringen konnte. Ich konnte nämlich nicht einmal seinen Anblick ertragen, wie sein Stumpf vom Bett fast senkrecht in die Höhe stand, das kurze Knie abgewinkelt. Wenn ich aus dem Fenster über den hügeligen Ort zur Kirche sah, dann wusste ich: Ich kann dort hingehen, er nicht. Nie mehr so wie früher. An seiner Stelle würde mir alles zeigen, dass mein Leben nicht mehr vollständig wäre. Ich nicht mehr komplett wäre.

      „Ich will keine Lügen und Märchen. Schreiben kann man so etwas immer leicht!“ Konnte Zanardi den strahlenden Blick im Interview spielen?

      „Alle wollen eine Erfolgsgeschichte hören, aber die Wahrheit will keiner sehen“

      Denn bei Erfolgsgeschichten müsse man nicht bedauern und kein Mitleid aufbringen. Da könne man sich denken, dass es einem nicht einmal selbst so gut ginge. Die Wahrheit anzuschauen sei viel härter und er winkte mit dem Stumpf wie mit einem riesigen Finger. Da sieh her! Sylvias Augen flüchteten durch den Raum, auf den Boden, auf die Decke, an die Wand, ihr fiel der Anblick noch schwerer als mir. Aber auch ich sah so vorbei, aber so knapp, dass er es nicht bemerken musste. Spannte meine Zehen an als Beweis, dass meine Beine noch da waren. Erinnerte mich, wie ich ihn als kleines Kind an beiden Beinen herumgezogen hatte. Sah vor mir, wie er im Gitterbett mit seinen beiden Beinchen gestrampelt hatte. Wie ich als erster gesehen hatte, wie er mit unkontrolliert zitternden Knien und an die Sprossen des Gitterbetts geklammert, erstmals gestanden war.

      Wer wolle schon sehen, dass er jetzt ein Krüppel sei, hört er nicht auf. Wer wollte darüber nachdenken, dass er nicht mehr duschen konnte, weil er auf einem Bein in der Tasse ausrutscht? Wer wollte hören, dass er nur mit Schmerzen sitzen konnte, weil das ganze Gewicht auf dem Oberschenkel liegt und das Blut abschneidet? Da kommt dann nämlich das schlechte Gewissen, wie gut es mir geht und das ist natürlich unangenehm. Wie kann ich ihn, der alles verloren hat, unter Druck setzen optimistisch und fröhlich sein zu müssen? Nur damit ich danach ruhig nach Hause gehen und mich gemütlich vor den Fernseher setzen kann, ein anderes Programm wählen kann, nicht an ihn denken muss, weil ich mir ja sagen kann ohnehin genug getan zu haben? Wie rücksichtslos muss ich dafür eigentlich sein?

      Draußen war es finster geworden, die weihnachtlichen Lichterketten zogen die Umrisse der Häuser nach, weißer Rauch aus einigen Kaminen. Es stimmte natürlich, lieber würde ich zurück in die Stadt fahren, nach Hause, fernsehen, Musik hören, lesen, alles außer hier stehen, auf den Stumpf schauen, ihn aufzuheitern versuchen, wo es nichts aufzuheitern gab. Nicht jedes Wochenende und bei jedem Telefonat mit meiner Mutter daran erinnert werden, dass Andreas jetzt ein Krüppel war. Nur an Weihnachten denken.

      Hatte ich wirklich geglaubt, er könnte so optimistisch sein, dass ich die Prothese nicht wahrnehmen müsste?

      Eigentlich schon.

      Aber war es überhaupt meine Pflicht mit ihm leiden? Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich es nicht will? Hatte er mich gefragt, ob er Motorrad fahren sollte?

      Mehr Flucht als Verabschiedung, nicht einmal eine halbe Stunde, wir gehen durch die langen Gänge der an Wochenenden weitgehend leeren Reha-Klinik. Desinfektionsgeruch.

      Die kalte Luft auf dem Parkplatz wie Sekt auf der Haut.

      Nicht mehr daran denken, über anderes reden.

      *

      So oft war Mutter die letzten Meter vor dem Unfall mit Andreas - als Andreas - gefahren, so oft hatte sie die Details der letzten Augenblicke durch seine Augen - mit ihren eigenen Augen - gesehen, dass es für sie nur eine Wirklichkeit geben konnte, in der er nicht schuld am Unfall gewesen war.

      Der Fahrer des weißen Sportwagens war wie ein Verrückter über die Bergstraße gerast, in der scharfen Kurve ins Schleudern gekommen und weit auf die andere Straßenseite gedriftet. Wäre Andreas mit einem Auto gefahren, sie wären beide chancenlos gewesen. Darum sollte auch niemand sein Schicksal damit abtun, dass Motorradfahren ein gefährliches Vergnügen wäre, denn nur weil er mit der Maschine und nicht mit einem Auto gefahren war, lebte er überhaupt noch. So wenig Platz hatte ihm der Autofahrer gelassen, dass er es allein Andreas´ Geistesgegenwart und seiner fast akrobatischen Maschinenbeherrschung zu verdanken hatte, dass er statt ebenfalls schwer verletzt zu werden undankbar flüchten konnte, während Andreas selbst keine Chance hatte die schleudernde Harley vor dem knapp dahinter kommenden Auto noch einmal unter Kontrolle zu bekommen.

      So erzählte es Andreas und so war Mutter sein einziger Zeuge.

      Der Fahrer des zweiten Wagens wusste nämlich nur mehr, dass er selbst nicht besonders schnell und sicher auf seiner Seite gefahren wäre. Es könne sein, dass der Motorradfahrer von einem anderen Fahrzeug irritiert worden sei, er könne aber weder Typ noch Farbe sagen, schon gar kein Kennzeichen. Wie es möglich war, dass ein soviel schnelleres Fahrzeug knapp vor ihm sein konnte, ohne dass es ihn unmittelbar davor, und das in der engen und übersichtlichen Kurvenfolge, überholt hatte, hätten mich Mutter und Andreas nicht fragen lassen, schließlich war ich nicht dabei gewesen.

      Andreas fuhr nämlich immer extrem diszipliniert, ganz rechts und nie schneller, als es der Situation angemessen war.

      Drei Wochen nach seinem Unfall bekam er einen Strafzettel wegen einer Geschwindigkeitsübertretung an diesem Tag zugestellt, den Mutter trotz detaillierter Schilderung seiner ganzen Tragik nicht rückgängig und damit ungeschehen machen konnte. Sie konnte ihn nur selbst bezahlen um ihn wenigstens verschwinden zu lassen.

      Derart unverrückbar war ihre Wirklichkeit, dass Andreas trotz fehlender Zeugen vom Versicherungsverband als Opfer einer Fahrerflucht anerkannt wurde, wodurch sie zumindest alle finanziellen Konsequenzen des Unfalls von ihm abwenden konnte.

      *

      Andreas gewährte keinen Augenblick um Luft zu holen.

      Der Motorradhändler betrügt ihn, weil er sich hier in der Klinik ja nicht wehren kann. Er will seine Maschine nicht reparieren, sondern ihm lieber eine andere verkaufen, weil ja ohnehin seine Versicherung das meiste bezahlt. Aber dann verkauft er sie repariert nach Serbien und macht noch ein Geschäft aus seinem Schaden, weil er genau weiß, dass er nicht hinkommen kann.

      Und keiner hilft ihm! Dabei kann er sich vor Schmerzen gar nicht konzentrieren, das Morphium hätte bei ihm nicht so ohne weiteres abgesetzt werden dürfen, überall kann man lesen, dass man ein Ersatzpräparat braucht, aber genau ihm wird es verweigert. Ohne irgendeinen Grund. Wenn er mit dem Arzt reden will, hat der nie für ihn Zeit und weiß genau, dass er ihm nicht nachlaufen kann mit seinen Krücken, kaum sieht er ihn am Ende des Gangs, da biegt er schon ab. Prothese hat er auch die älteste bekommen, unappetitlich und schmierig, wahrscheinlich ist der, der sie vorher gehabt hat, ohnehin gestorben, denn sonst wäre sie nicht da. Und die Krankenschwester sagt nur, das ist normal und außerdem versteht sie ihn nicht, kann ja kaum Deutsch. Wenn er nach dem Prothetiker rufen lässt, kommt der Psychologe. Wozu braucht er einen Psychologen? Die ganze Zeit hat er seine Tabletten weggeworfen, er lässt sich doch nicht niederpulvern. Ein besseres Bett sollten sie ihm geben, dann könnte er wenigstens schlafen. Und nicht den Studenten als Zimmergenossen, der die ganze Nacht fernsieht, weil er tagsüber schläft statt zu den Therapien zu gehen. Der ihm außerdem in einem Fort vorjammert, dass seine Freundin ihn verlassen wird, wenn das erste Mitleid vorbei ist. Wieso redet Mutter nicht mit ihm, dass er endlich aufhört? Und Nadja will auch immer zu ihm kommen, nur weil er im Fitnessklub ein paarmal mit ihr geredet hat, wahrscheinlich ist sie ohnehin nicht gesund im Kopf, weil sie immer erzählt, wie sie ihren Vater gepflegt hat. Er ist einfach zu benommen um ihr zu sagen, dass er sie nicht sehen will. Überhaupt geht das mobile Internet, dass die Eltern ihm besorgt haben auch nicht, wie soll er ihr da schreiben? Und außerdem weiß jeder, dass dieses Netz auf dem Apple nicht geht, aber Vater hat sich das wieder einmal einreden lassen, er glaubt den Tests immer alles, statt dass er selbst ins Internet schaut. Nicht einmal Einspruch gegen die Gehaltskürzung kann er jetzt erheben ohne Mailzugang, die haben einfach sein Gehalt gekürzt, weil er ein Jahr im Krankenstand ist, dabei muss das doch die Versicherung decken, schließlich ist er nicht einmal schuld gewesen. Er wird einfach abgewickelt wie irgendein Standardfall.

      Dann