Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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die Situation ausnützen. Wahrscheinlich haben sie ohnehin schon sein Büro geräumt, jetzt, wo er sich nicht wehren kann. Mutter hilft ihm ja auch nicht.

      Wie soll er überhaupt trainieren mit diesen blöden Turnschuhen? Wenn Mutter nur ein bisschen geschaut hätte, dann hätte sie hohe genommen, damit der Knöchel gestützt wird, wenn ohnehin die ganze linke Körperhälfte unbalanciert ist und schräg auf dem Bein liegt. Denkt sie überhaupt mit oder muss nur alles schnell erledigt sein? Jetzt, wo die Chemo vorbei ist, könnte sie sich schon langsam wieder einmal etwas mehr merken. Zum Beispiel, dass er keine Äpfel essen kann, seit er die Probleme mit dem Zahnschmelz hat. Birnen hat er gesagt! Sicher mehrmals sogar. Und was soll er außerdem mit diesen schwachen Schlaftabletten, das mag vielleicht genug sein, wenn man im Alter nicht schlafen kann, aber nach Morphium? Das Buch hat er überhaupt weggeworfen, er braucht keine Erfolgsgeschichten von Amputierten, kapiert Mutter denn nicht, wie alle, aber vor allem sie, ihn damit unter Druck setzten? Ihm ständig vorhalten, dass es genau bei ihm nicht geht, wobei er ja ohnehin mehr Übungen als alle anderen macht? Aber am schlimmsten ist sie, weil sie ja immer ihren Freundinnen erzählen muss, wie toll alles ist oder wird, und die Wirklichkeit will sie nicht sehen. Soll sie doch sagen, dass er ein nutzloser Krüppel ist, es wissen ohnehin schon längst alle. Was will sie eigentlich von ihm? Dass er ihre heile Welt mitspielt? Ihr großartiges Getue hilft ihm nämlich nichts. Wenn sie wirklich helfen will gibt es genug Dinge: Sie kann gleich mit dem Motorrad anfangen. Dann die Uni. Die Turnhose. Mineralwasser. Anrufen. Vitamine.

      Die Sätze zerfließen zu einem feinen Gespinst mit Worten wie Früchte darin, dahinter schimmert violettes Licht. Leicht wird alles, sie schwebt und sieht nach oben und dann noch die alte Eiche vor dem Fenster mit dem abgeknickten Ast und einem Astloch, wo im Sommer oft ein Specht nistet.

      Sie selbst hört ihren Aufschlag am Boden natürlich nicht, das Telefon war lauter als ihr Körper, als der Deckel absprang, Batterie und SIM-Karte herausflogen.

      Eine zeitlose, glückliche Ewigkeit, bis sie wieder weiß, was passiert ist. Sie liegt einfach da, am Rücken, und sieht in das Gesicht meines Vaters. Ihr Gesicht entspannt wie schon lange nicht mehr.

      Ich bin mir sicher, dass sie anschließend Andreas zurückrufen wollte. Mein Vater nahm ihr aber das Mobiltelefon weg. Er hatte schon immer gewusst, dass sie keines haben sollte und hatte ihr immer ausgeredet eines zu kaufen. Wir hatten ihr dennoch eines geschenkt, damit sie ihre Freundinnen anrufen konnte. Jetzt hatte er einen Grund: Es regt sie zu sehr auf. Das Telefon, nicht das Gespräch mit Andreas.

      Zwei Wochen später telefonierte sie trotzdem wieder mit ihm. Wenn aber Sylvia oder ich anriefen, hob Vater ab.

      *

      Man darf sich meine Depression nicht spektakulär vorstellen. Sie hat nichts mit Traurigkeit zu tun: Wer mich besser kennenlernt, kommt häufig zum Schluss, dass ich entgegen dem ersten Eindruck sogar humorvoll bin. Ausweglosigkeit, Weltuntergangsstimmung oder gar Selbstmordgedanken, das ist sie alles nicht.

      Auch Trägheit oder Antriebsarmut beschreiben sie nicht: Die vielen Wohnorte, beruflichen Stationen, Reisen und sonstige Ereignisse meines Lebens aufzählend bringe ich fast alle zum Verstummen, was ihr eigenes langweiliges Leben betrifft.

      Woran sie erkennbar wäre?

      Beispielsweise ganz einfach mit der belanglos und nebenbei gestellten Frage, wie es mir denn gehe. Dass ich mich nicht beklagen kann, wäre das Maximum einer ehrlichen Antwort. Nicht beklagen darf, eigentlich, in Anbetracht dessen, dass ich kein einziges Problem habe. Alle, die wir kennen, haben irgendwelche Schwierigkeiten, finanziell, gesundheitlich, in der Ehe, irgendetwas, nur ich nicht. Sollte ich mich also darüber beklagen, dass der Urlaubsflug billiger gewesen wäre, wenn ich zwei Wochen länger gewartet hätte? Das stört mich zwar tatsächlich, darf aber kein Grund sein. Nicht einmal für mich, andere würden es ohnehin nicht verstehen. Dass es mir demnach glänzend ginge, würden wahrscheinlich die meisten erwarten, aber das traf es auch nicht. Was war denn schon passiert, das dieses besondere Befinden rechtfertigen würde? Ich wüsste nicht einmal, was geschehen müsste um es sagen zu können. Zwar hatte ich oft Glück gehabt, aber es gibt schließlich keinen Grund für die Annahme, dass das immer so weitergehen würde. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, wie es mir geht. Ich finde weder Positives noch Negatives in der Leere, die zu sehen ich mir durch ein Uhrwerk von Routinen und Verpflichtungen erschwere. Natürlich habe ich mittlerweile eine Strategie gegen solche Fragen entwickelt und weiche als Geschäftsführer auf die wirtschaftliche, als Intellektueller auf die politische Entwicklung aus, sodass kein Raum für kleingeistige Neugier an meiner Person bleibt. Erstaunlicherweise schafft das trotzdem Vertrauen und man hält mich für kommunikativ und offen.

      Außerdem kenne ich keinen Menschen, für den ich schwerer ein Geschenk finden würde, als für mich selbst. Womit macht man Freude, wenn alles Notwendige vorhanden ist, fast alles nicht unbedingt Notwendige eben nicht notwendig ist und Dinge, die einfach nur Spaß machen sollen, für mich meist ihr Geld nicht wert sind? Wenn jemand nach meinen unerfüllten Wünschen sucht, dann muss er mich besser kennenlernen, als ich es selbst tue. Ein Wunsch hieße, dass etwas besser sein könnte: Ich bin hingegen schon zufrieden, wenn alles so bleibt, wie es ist.

      Ereignisse fressen: Wenn das endlich erledigt ist. In drei Wochen um die Zeit. Noch 5 Dinge zu überstehen, ich zähle rückwärts, 2 Dienstreisen, zwei Audits und die Planpräsentation. Ereignisse kommen auf mich zu und ich muss sie auslöschen, weil es erst danach besser sein kann. So füllt sich die leere Zeit. Manchmal zähle ich sogar Dinge dazu, auf die man sich durchaus freuen könnte, eine Feier, ein Besuch. Abgehakt und noch abzuhaken. Ich komme nie an. Als ob ich mein Leben nur erledigen will.

      Und schließlich die nicht zu besiegende Unsicherheit: Die Firma liefert ein Rekordergebnis ab, aber nach jedem Gipfel geht es unausweichlich auch bergab, irgendwann wird eine Konjunkturabschwächung kommen. Wenn das Beste also schon vorbei ist, wie soll ich mich da unbeschwert freuen? Eigentlich läuft alles in die richtige Richtung, die Mitarbeiter sind motiviert, die Zukunftsthemen lassen sich gut an, rundum werde ich gelobt, aber ich weiß: Wenn mir das damals nicht zufällig eingefallen wäre, wenn ich dort nicht ein Riesenglück gehabt hätte, wenn ich mich da nicht durchgesetzt hätte - das alles muss sich nicht wiederholen. Und hätte das nicht auch jeder andere in meiner Situation gekonnt? Wann merken das die anderen?

      Absolut nicht spektakulär also. Und doch die Bühne für meinen Dämon, der ständig damit lockt, diese Leere zu füllen. Er kann mich alles zuvor Erzählte vergessen lassen, er kann mich leben lassen, erst mit ihm bin ich vollständig.

      Er wächst aus meiner Energie und leuchtet, bis von mir nichts mehr übrig bleibt.

      *

      Ein Beispiel von vielen:

      Sylvia hatte gerade Entkalkungsmittel auf den Wasserhahn in der Toilette gegeben, als das Telefon läutete, und bis sie zurückkam war eine Stelle schwarz geworden.

      Freitagabend, noch nicht so spät, also fange ich an: Scheuermilch und der Haushaltsschwamm mit ein bisschen Glasfaser reichen nicht, aber nach sanftem Polieren mit 2400-Schleifpapier bleibt nur eine leichte Trübung. “Super“ ist es für sie auch schon erledigt „fast nicht mehr zu sehen!“. Aber es ist das „fast“, das ein Ende unmöglich macht. Natürlich habe ich den Schleier gesehen, aber dass schon ein kurzer Blick genügt? „Was machst Du noch?“ ruft sie nach ein paar Minuten aus dem Wohnzimmer „das passt ja schon“, aber jetzt kann es nicht mehr so bleiben. Ich poliere und poliere ohne dass es besser wird. Also 1200 Schleifpapier, nachpolieren mit 2400 und tatsächlich verschwindet auch die Trübung. „So hat es schon lange nicht mehr geglänzt“ schenkt sie mir dafür eine stolze Stunde.

      Da hatten wir nämlich noch nicht bemerkt, dass der Schriftzug des Herstellers, davor auch nur leicht und bei gewissem Licht zu sehen, jetzt fast verschwunden ist. „Stört Dich das?“ will ich vor allem von mir selbst wissen. Schließlich hätte ich mehr Geduld haben und beim feinen Papier bleiben müssen. Nein, denn so eine Marke wie damals sei der Hersteller mittlerweile nicht mehr, schließlich würde er jetzt sogar in Baumärkten verkauft. Ich erkenne natürlich ihre Lüge: Sie hätte nicht damit argumentiert, wenn ihr das Verschwinden nicht aufgefallen wäre. Natürlich stört es sie. Kann