Anatol Anders

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern


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Mutter nach vier Tagen schon überzeugt hatte, dass er Grippe bekommen hatte und die Reise abbrechen musste, musste ich nur an seine Stirn greifen um den Mythos des Fiebers und damit seine Erkrankung verschwinden zu lassen.

      Am letzten Tag war Mutter so entspannt und fast glücklich, dass sie Sylvia noch unbedingt eine Erinnerung kaufen wollte. Erst als wir spät am Abend in Wien landeten und er noch am Flughafen Mutter dafür beschuldigte, dass ihn jetzt zuhause ein leerer Kühlschrank und damit ein denkbar schlechter Start in die Arbeitswoche erwartete, er aber trotzdem nicht bei ihnen essen und schlafen wollte, war alles wie zuvor.

      *

      Selbst jetzt halte ich es noch für möglich, dass Andreas´ Diplomarbeit wirklich so unglaublich gewesen war. Ich hielt ihn zwar für unfähig ein normales Leben zu führen, aber dass er einen völlig anderen Ansatz für ein mathematisches Thema, radikal und noch nie gedacht, gefunden hatte, von bestechender Logik und mit völlig unerwartetem und revolutionärem Ergebnis, das traute ich ihm zu. Nicht nur seine logischen Gedankenspiele am Nil, auch seine unendlichen Schwierigkeiten im Gymnasium das Offensichtliche als solches zu akzeptieren, die Logik aller als auch für ihn gültig anzunehmen, fielen mir wieder ein. Ich erzählte Sylvia von Hölderlin, der zu Lebzeiten für geisteskrank gehalten worden war und dessen klassisches Werk erst zufällig in seinem Nachlass gefunden wurde.

      Fast gebettelt habe der ungarische Mathematikprofessor darum als Co-Autor der Publikation geführt zu werden, fand sich Mutter endlich bestätigt. Weit mehr als eine Diplomarbeit sei es gewesen, eigentlich eine Dissertation, fast eine Habilitation. Einstein fiel mir ein. Hatte ich Andreas so unterschätzt? Ihn selbst sahen wir nicht, er würde auch keine Sponsionsfeier machen, da es ihm ja nie um das Studium gegangen sei. Er wäre täglich mehrere Stunden beim Professor um die Folgeprojekte festzulegen und wo sie in welcher Reihenfolge das schier Unglaubliche publizieren würden. Natürlich sollte Andreas an sein Institut wechseln, er selbst würde sich beim Rektor oder falls nötig im Ministerium darum kümmern, in Anbetracht der wissenschaftlichen Bedeutung sollte das alles kein Thema sein.

      Ich hätte es ihm zugetraut, es kam aber völlig anders: Nach seinem Treffen mit dem Strömungslehre-Institutsleiter meldete sich der Mathematikprofessor nicht mehr. Andreas rief ihn unzählige Male an, aber nie war er für ihn zu sprechen. Wenn er hinkam, hieß es er sei in einer Konferenz oder verreist und würde zurückrufen. Seine Mails blieben unbeantwortet.

      Nicht einmal, als er sich auf eines der vom Institut ausgeschriebenen Dissertationsthemen bewarb, bekam er eine Antwort.

      *

      Der weltweite Konjunktureinbruch als Energieschub: Endlich bin ich mit ganzer Kraft gefordert, Kostensenkungsprogramm, ein paar Entlassungen, aber vor allem Umorganisation und Entscheidungen. Endlich was zu tun! Ich erkläre, analysiere, diskutiere, verhandle, finde neue Lösungen, die Wochen gehen dahin ohne mich zu quälen. Je turbulenter es rundherum wird, umso mehr Änderungen machen Sinn. Natürlich verschlechtert sich auch unser Ergebnis, aber wir bleiben deutlich in der Gewinnzone, sogar der zweithöchste Gewinn seit Firmengründung. Lob bekomme ich keines dafür, schon gar keine Prämie, zu sehr sind alle, auch der Eigentümer, mit der Krise beschäftigt. Spielt alles keine Rolle: Diesmal war es ich, sicher ich, der den Unterschied gemacht hat.

      *

      Andreas konnte die Mathematik nicht mehr ertragen. Er hasste die Bücher und die Rituale um Publikationen. Er konnte nicht besser werden, welchen Sinn machte es also noch? Wofür Intelligenz?

      Vor allem aber würde er es nicht noch einmal ertragen von der Meinung anderer abhängig zu sein. Warum sollte er seine Leistungen und damit sich selbst beurteilen lassen? Warum sollte er etwas machen, wo er bewertet und verglichen wurde?

      Also sicher nicht noch einmal Arbeit. Und keinen Sport, bei dem er etwas beweisen muss. Und sicher nichts, was andere auch leicht machen können.

      Anders wollte er sein, individuell, unabhängig. Ein Mann. Außerhalb aller Wertungen. Nicht wie bisher, nicht wie seine Arbeitskollegen, und schon gar nicht wie ich. Also zum dritten Mal Motorrad und diesmal kein Spielzeug, sondern Harley. Kein Gedanke mehr an die Ängste vom letzten Mal, an die Gleichgewichtsstörungen.

      *

      „Eine Sonderanfertigung, nur drei Stück davon gibt es in Europa, weil sie extrem schwer zu fahren ist.“ verdrängte auch Mutter die Mathematik, den Streit mit dem Institutsleiter, den geplatzten Traum. „Ich bin so froh, dass er endlich etwas für sich selbst gefunden hat“.

      Würde sich das Bild ändern, wenn seine Mathematikarbeit irgendwann entdeckt würde und sie tatsächlich so genial wäre wie der Professor zuerst gesagt hatte? Wenn wir damit konfrontiert wären, dass er eines der Genies wäre, die sich im Leben nicht zurechtgefunden hatten und die immer missverstanden wurden? Dessen Intellekt außerhalb jeder Norm etwas geschaffen hätte, dass wir uns in unserer Beschränktheit nicht einmal erfassen können. Würde es ihn befreien? Könnte er noch ein Leben finden? Oder war es sogar damals schon zu spät?

      *

      Zuallererst spüre ich die angenehme Wärme, die in meinen Rücken kriecht. Dann merke ich, dass ich nackt auf dem Fußboden der Diele liege und nur schlafen möchte. Eine Stimme voll schrillem Entsetzen lässt mich nicht „Mein Mann ist bewusstlos“ und mir wird klar, dass ich das bin. Ich sehe die offene Toilettentür, das Licht dort und die Deckenlampe über mir. „Wie lange“ als hätte es noch nichts mit mir zu tun. Ich habe im Klo nicht gespült, kehrt die Erinnerung zurück. Ich sehe wieder die Klomuschel beim Pinkeln vor mir, spüre nochmals, wie mir schwindlig wurde und ich mich festhalten wollte. Ein ganz gewöhnlicher Kreislaufkollaps, weiß ich jetzt schon, Erinnerung und Wirklichkeit kommen bereits zurück, während sich die Wolke aus tiefem Frieden noch um mich hüllt. Ich weiß wieder, dass das Jahr fast um ist, gestern Abend war in der Firma die Weihnachtsfeier. Es war das erste Jahr, in dem ich wieder richtig hinlangen musste, Kampf von Anfang bis Ende, aber dafür alles viel besser ausgegangen als jeder erwartet hätte, sogar richtig gut und ich habe es getan, ich war es, Ergebnis meiner harten Arbeit. Auch außerhalb der Arbeit ist alles gut gegangen. Sogar die Aktienverluste vom Vorjahr haben wir zurückgewonnen, ich hatte meinen Fehler ausgeglichen, indem ich meinen ganzen Mut gebraucht hatte um in der Krise noch nachzukaufen und danach jeden Tag voller Angst und ohne ein Wort an Sylvia zuerst die weiteren Verluste und schließlich endlich die Wende verfolgt hatte. Alles geschafft, Zeit sich zurückzulehnen. Und sie liebt mich! genieße ich in jedem ihrer verzweifelten hektischen Worte und fühle die Tränen auf ihren Wangen, auch wenn ich sie nicht sehe. Ihre Liebe, die Wärme und einmal kein Drang etwas zu tun, nicht einmal eine Möglichkeit dazu. Wenn es einmal vorbei sein sollte, dann hoffentlich so. Nur einfach liegen, alles geschafft haben, ihre Liebe. Aber ich stehe auf, weil Sylvia nicht leiden soll, will die Rettung wieder abbestellen, aber das lässt sie nicht zu. Am liebsten würde ich mit ihr jetzt schlafen, ihr die Liebe wenigstens körperlich zurückgeben, aber danach ist ihr jetzt nicht der Sinn.

      Als die Rettung endlich kommt, ist mein Backenknochen schon blau vom Aufschlag, aber es war tatsächlich nur ein Kreislaufkollaps gewesen. Etwas ruhiger angehen, mir mehr Entspannung gönnen, vielleicht jetzt zu Weihnachten, meinen die Sanitäter und weg sind sie zu den wirklichen Problemfällen der letzten Freitagnacht vor Weihnachten.

      Wieder im Bett merke ich, wie sie immer wieder nachsieht, ob ich noch lebe, weckt mich dabei auf, aber ich genieße es. Sie liebt mich tatsächlich, auch wenn ich nicht stark bin, wenn ich nichts für sie tue, sogar wenn ich völlig nutzlos bin.

      2

      Andreas wollte das Buch nicht einmal in die Hand nehmen. Ob ich denn wirklich glaube, dass er das lesen wollte, wo er doch genug Probleme mit sich selbst habe?

      Dabei war es nicht einfach gewesen es zu bekommen, da es vergriffen war und die gebrauchten Exemplare über Amazon nur nach Deutschland geliefert wurden. Ich hatte es deshalb zu einem Bekannten in einer deutschen Schwesterfirma schicken lassen, der es wieder einem anderen mitgegeben hatte. Mir hatte die unzerstörbar positive Einstellung von Alex Zanardi imponiert: Er hatte bei einem Rennunfall beide Beine verloren und schon in seinem