Gitte Loew

Es geschah am Main


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Decke. Ihre rechte Gesichtshälfte war dunkelblau verfärbt und geschwollen, an ihrem Mund klebte Blut und war vom Kinn am Hals heruntergelaufen. Auf den braunen Fußbodenfliesen hatte sich eine Blutlache gebildet. Die Tote hielt die Arme vor die Brust, so als ob sie sich schützen wolle. Ihre helle Bluse war voller Blut.

      Marlies spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, und sie griff nach der Stuhllehne, um sich festzuhalten. Plötzlich glaubte sie, ein Geräusch zu hören, und drehte sich erschrocken um. War der Täter womöglich noch in der Wohnung? Voller Angst rannte sie zur Flurtür zurück und stürmte aus der Wohnung. Sie hetzte die Treppe hinunter, als ob jemand hinter ihr her wäre und stieß die Haustür auf. Außer Atem blieb sie auf der Straße Atem stehen. Ihr war schlecht vom Anblick der Toten. Das war nicht mehr die nette Nachbarin, die immer ein Lächeln auf den Lippen hatte. Ein wachsbleiches Gespenst lag da oben in der Wohnung. Marlies musste sich am Laternenpfahl festhalten und keuchte nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis sie die 110 wählen konnte. Eine Männerstimme drang an ihr Ohr:

      „Hier spricht die Polizei, was ist passiert?“

      Frau Steinacker schluckte und gab stotternd die Adresse bekannt und berichtete, wie sie Frau Möller gefunden hatte.

      „Bleiben Sie bitte in der Wohnung. Wir schicken eine Streife zu Ihnen und den Notarztwagen.“

      „Ich stehe vor dem Haus. Mir ist ganz schlecht.“

      „Die Kollegen sind sofort bei Ihnen.“

      Vermutlich dauerte es nicht lange, aber es fühlte sich für Marlies wie eine Ewigkeit an. Als das Auto endlich um die Ecke gefahren kam und die Beamten ausstiegen, zeigte sie mit dem Finger auf das Klingelschild:

      „Ruth Möller, erster Stock, rechts. Ich kann nicht noch einmal in die Wohnung gehen. Ich bleibe hier und warte.“

      Die Männer nickten, ohne ein Wort zu sagen, wandten sich ab und stiegen die Treppe hinauf. Kaum das die Beamten im Haus verschwunden waren, klingelte ihr Handy. Es war der Sohn von Ruth Möller:

      „Marlies, was ist los? Warum meldest du dich nicht?“

      „Uli, deine Mutter ist in der Küche umgefallen. Ich glaube, sie lebt nicht mehr. Ich habe die Polizei gerufen.“

      Es war einen Augenblick mucksmäuschen still.

      „Hatte sie einen Schlaganfall?“

      „Du, das weiß ich nicht. Du musst nach Frankfurt kommen. Ich kann hier nichts mehr tun und bin völlig fertig.“

      „Sag der Polizei, dass wir unseren Urlaub abbrechen und nach Frankfurt fahren. Und schreib dir auf, mit welchem Arzt du gesprochen hast, damit wir wissen, an wenn wir uns wenden müssen.“

      „Bis dann Uli“, schluchzte sie und legte schnell auf. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ruth Möller brauchte keinen Arzt mehr. Marlies spürte plötzlich die Kälte. Sie trug nur ein dünnes Sweatshirt und stand noch immer auf der Straße. Schlotternd vor Kälte ging sie in ihre Wohnung zurück.

      Kapitel 4

      Es war der 31. Dezember und diesmal hatte sie der Dienstplan erwischt. Hanna Wolf, Kommissarin vom K13 der Frankfurter Kripo, musste zusammen mit ihrem Kollegen Torsten Schwarz Dienst schieben. Silvester war bei den Kollegen nicht sehr beliebt. An diesem Tag stolperten mehr Betrunkene als sonst durch Frankfurt. Die Krankenhäuser hatten jede Menge Unfälle mit Feuerwerkskörpern zu versorgen und die Männer der Feuerwehr saßen buchstäblich auf heißen Kohlen. Dass die Kriminalpolizei an Silvester zu einem Mord gerufen wurde, kam allerdings nicht so häufig vor. Doch in diesem Jahr sollte alles anders sein.

      Eine Frau aus dem Stadtteil Fechenheim hatte sich über den Notruf gemeldet und berichtet, eine tote Frau gefunden zu haben. Die Kollegen des K13 machten sich auf den Weg zum Tatort. Kommissar Torsten Schwarz saß am Steuer. Einen Tag vor Neujahr quälte sich eine noch größere Blechlawine als sonst Richtung Hanauer Landstraße und es ging einfach nicht voran. Hanna griff zur Leuchte und klemmte das Signal auf das Dach des Wagens. Langsam wichen die Fahrzeuge zur Seite und bildeten eine Gasse. Doch die Kripo konnte trotzdem nur im Schritttempo weiterfahren. Besonders die LKWs, die Richtung Offenbach oder stadtauswärts nach Hanau fahren wollten, blockierten die Straße. Torsten fluchte leise vor sich hin.

      „Kein Stress. Die Tote läuft uns nicht weg“, meinte Hanna ruhig.

      „Wahrscheinlich pennen die Autofahrer noch“, grummelte Torsten.

      Die Kommissarin erwiderte nichts, sondern blickte noch einmal auf das Display ihres Handys. Der Kollege hatte ihr im Telegrammstil eine Mitteilung geschickt. Weibliche Leiche. Tatort Baumertstraße. Vielleicht war es ein Familiendrama. Der Jahreswechsel ruft nicht bei jedem Begeisterung hervor. Hanna sah sich den Punkt im Navi genauer an. Sie würden bald dort sein.

      Links und rechts der Hanauer Landstraße kann man die Ödnis von Fechenheim bewundern. Baumärkte, Tankstellen, der alte Neckermann-Bau und viele Autohäuser. Keine besonders einladende Gegend. Kurz vor der Mainkur bog Torsten rechts in die Straße Alt-Fechenheim ein. Der Stadtteil war früher ein Fischerdorf am Main, von dem nichts mehr übrig geblieben war, außer einer Straße, die Ankergasse heißt. Torsten fuhr bis zur genannten Hausnummer und parkte neben einem anderen Polizeiauto auf dem Trottoir. Die Kripobeamten stiegen aus und sahen sich nach einem Kollegen um.

      „Wo ist die Tote?“, fragte Torsten einen Uniformierten, der sich wegen der Kälte ins Polizeiauto geflüchtet hatte. Der Mann deutete mit der Hand auf das hinter ihnen stehende Gebäude:

      „Erster Stock rechts.“

      Im Treppenhaus waren Stufen aus schwarzweißem Terrazzo und ein verspieltes Treppengeländer mit dunklem Handlauf führte nach oben. Die Abschürfungen an den Wänden zeugten von zahlreichen Umzügen. Vor den Wohnungstüren standen die schmutzigen Schuhe der Mieter, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht.

      Nachdem Hanna im ersten Stock angekommen war, hielt sie einen Augenblick vor der Wohnungstür inne. Auf dem Messingschild stand Familie Möller. Sie drückte die Türklinke herunter und ein bekannter Geruch schlug ihr entgegen. In geheizten Räumen verbreitet sich der typische Leichen- und Verwesungsgeruch relativ rasch. Kollegen von der Schutzpolizei und der Spurensicherung standen in der Küche um das Opfer herum, das auf dem Fußboden lag. Sie diskutierten über den möglichen Tathergang.

      „Guten Morgen, natürlicher Tod?“, fragte Hanna in die Runde, als sie ins Zimmer trat.

      Ein Mann im weißen Schutzanzug schüttelte den Kopf:

      „Nein, mit Sicherheit nicht. Der Täter scheint seinem Opfer den Brustkorb eingetreten zu haben. Ich vermute, sie ist an ihren inneren Verletzungen gestorben.“

      „Was sagt euch diese Art von Angriff?“

      Der Mann verzog den Mund, sah auf die Tote und meinte lakonisch:

      „Die Vorgehensweise ist eher ungewöhnlich. Die alte Frau hätte sich gegen den Täter sowieso nicht wehren können. Warum dann diese Brutalität?“

      Hanna Wolf erwiderte nichts. Sie hatte beim Anblick des Opfers das gleiche gedacht. Warum diese Gewalt? Sie wandte sich an die anwesenden Schutzpolizisten:

      „Was wisst ihr bis jetzt über das Opfer?“

      „Witwe, allein lebend. Ihr Sohn wurde benachrichtigt. Er hat seinen Urlaub in Willingen abgebrochen und ist auf dem Weg nach Frankfurt. Die Tote wurde von einer Nachbarin gefunden. Die Frau hat einen Wohnungsschlüssel und heißt Marlies Steinacker. Sie wohnt im Haus nebenan. Der Sohn hat sie heute Morgen gebeten, nach seiner Mutter zu sehen, da sie schon gestern Abend nicht ans Telefon gegangen ist.“

      „Demnach ist sie seit gestern tot?“

      „Ja, nach ersten Erkenntnissen ist davon auszugehen. Wir haben den Gerichtsmediziner angerufen. Er müsste bald eintreffen und kann euch dann mehr sagen“, stellte Mike, einer der Spurensicherer in aller Ruhe fest.

      Hanna sah sich in der Küche um. Alles war blitzblank sauber. Nirgendwo sah man Spuren