Gitte Loew

Es geschah am Main


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Straße blieben sie kurz stehen und atmeten erst einmal tief durch. Die frische Luft tat gut. Dann machten sie sich auf den Weg ins Nebenhaus, vorbei an einer größeren Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude versammelt hatte. Es waren Schaulustige, die an Silvester nicht zur Arbeit gehen mussten. Sie nahmen die einmalige Gelegenheit wahr, ein Verbrechen aus nächster Nähe beobachten zu können. Die Wirklichkeit ist interessanter als jeder Tatort im Fernsehen.

      Torsten klingelte an der Wohnungstür. Eine etwa vierzigjährige Frau öffnete. Sie hatte ein Taschentuch in der Hand und fuhr sich über die Nase.

      „Wolf, wir sind von der Kripo. Können wir Sie kurz wegen Frau Möller sprechen.“

      „Ja, selbstverständlich. Kommen Sie herein.“

      Die Frau ging voran ins Wohnzimmer und deutete mit der Hand zu einer Sitzgruppe. Während die Drei ihre Plätze einnahmen, sah sich die Kommissarin im Zimmer um. Die Wohnungsbesitzerin hatte sich mit weißen Ikea-Möbeln eingerichtet. Der Raum wirkte dadurch hell und freundlich. Hanna wartete einen Augenblick, bis sich die verstört wirkende Frau etwas beruhigt hatte.

      „Frau Steinacker, Sie haben Frau Möller heute Morgen gefunden?“

      Sie nickte: „Ja. Ihr Sohn rief an und bat mich, nach ihr zu sehen. Er war beunruhigt, da seine Mutter schon gestern Abend nicht ans Telefon gegangen ist. Ich klingelte an ihrer Tür, aber es hat sich nichts gerührt. Da habe ich aufgeschlossen und nachgesehen. Als ich die alte Frau in ihrem Blut auf dem Boden liegen sah, bin ich furchtbar erschrocken. Ich habe am ganzen Leib gezittert, und bevor ich mich noch von dem Schreck erholen konnte, hörte ich plötzlich ein Geräusch. Daraufhin bin ich wie in Panik aus der Wohnung gestürmt.“

      „Wo sind Sie hingegangen? Haben Sie jemanden aus dem Haus kommen sehen?“

      „Ich bin vors Haus gerannt und musste erst einmal Luft holen. Der Anblick der Toten hat mich ganz durcheinandergebracht. Aus dem Haus ist niemand gekommen, während ich mit der Polizei telefonierte.“

      „Wann haben Sie die Verstorbene das letzte Mal lebend gesehen?“

      Frau Steinacker zögerte, musste nachdenken. Sie war sich nicht ganz sicher.

      „Frau Möller ging nur noch selten nach draußen. Ihre Familie hat sich um alles gekümmert. Ich glaube gestern Morgen, als sie am Briefkasten stand. Ich weiß nicht, ob es gestern oder einen Tag zuvor war. Sie blieb immer eine Weile draußen stehen und begrüßte Bekannte, die am Haus vorbeiliefen.“

      Die Beamten hörten interessiert zu, aber die Nachbarin wusste nicht viel über das Mordopfer zu berichten. Das war nicht weiter verwunderlich. Die Frau war wesentlich jünger als die Getötete. Sie hatte den Wohnungsschlüssel vermutlich aus reiner Gefälligkeit an sich genommen. Hanna blickte zu Torsten. Er schien genauso ratlos zu sein wie sie selbst und zuckte nur mit den Schultern. Zu Frau Steinacker gewandt meinte sie:

      „Vielen Dank für Ihre Auskunft. Könnten Sie mir noch schnell die Handynummer des Sohns aufschreiben? Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich bitte bei uns.“

      Hanna legte ihr Kärtchen auf den Tisch. Die Nachbarin schrieb die Nummer des Sohns auf einen kleinen Zettel und reichte ihn der Kommissarin. Anschließend begleitete sie die Kriminalbeamten zur Tür.

      Als sie wieder auf der Straße standen, telefonierte die Kommissarin mit dem Sohn und vereinbarte ein Treffen für den gleichen Tag. Danach kehrten sie in die Wohnung des Opfers zurück.

      Hanna hielt Ausschau nach Jürgen Feuerstein, dem Chef der Spurensicherung, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

      „Hat Jürgen Urlaub?“

      „Ja, Familienväter haben über Weihnachten bessere Karten als wir Singles. Noch eine Woche“, antwortete Mike.

      Er hantierte mit Klebebändern am Küchentisch herum.

      Hanna drehte sich um, durchstreifte die Wohnung und suchte nach einem möglichen Hinweis. Der Täter hatte Türen und Schubladen im Schlafzimmer aufgerissen und wohl nach Geld im Wäschefach gesucht. Auf dem Fußboden lagen verstreut Nachthemden und Unterhosen. Hanna zog noch weitere Schubladen auf, in der Hoffnung etwas zu finden. Doch außer der Leiche in der Küche, gab es nichts Auffälliges zu entdecken. Die Frau war einem Raubmörder zum Opfer gefallen, der sie gnadenlos aus dem Weg geräumt hatte. Sie ging zu Mike zurück und meinte laut, damit es alle Anwesenden hören konnten:

      „Ich habe vor einigen Minuten mit dem Sohn des Opfers telefoniert. Er ist auf dem Weg nach Frankfurt. Wenn er hier eintrifft, erinnert ihn bitte daran, dass er ins Präsidium zum K13 kommen muss. Ich möchte heute noch mit ihm sprechen. Davor sollte er sich aber einen genauen Eindruck verschaffen, was in der Wohnung seiner Mutter gestohlen wurde. Vermutlich steht er unter Schock und wird einiges durcheinanderbringen.“

      „Geht in Ordnung Hanna, wir sagen ihm das noch einmal.“

      Die Kommissare verließen den Tatort und fuhren zurück ins Polizeipräsidium.

      Kapitel 5

      Im Präsidium waren in der Zwischenzeit Nachforschungen über Ruth Möller in Gang gesetzt worden. Wie zu erwarten, hatte der Kollege des Innendienstes, Manfred Lutz, nichts Auffälliges über die Familie herausfinden können. Es schien auf den ersten Blick so, als ob einer der üblichen Raubüberfälle zu bearbeiten sei. Deshalb schickte Hanna ihren Kollegen nach Hause, natürlich mit der Auflage, sich einsatzbereit zu halten. Es reichte, wenn einer sich den Silvesterabend mit Arbeit verdarb. Sie begann nach ungeklärten Fällen im Wohnumfeld des Opfers zu suchen, um die Zeit bis zum Eintreffen des Sohnes sinnvoll nutzen zu können.

      Außer einer Akte über einen Vermissten, den man vor seinem Verschwinden zuletzt in Fechenheim gesehen hatte, gab es keine weiteren Hinweise. Die Sache lag über ein halbes Jahr zurück. Es bestand keine Verbindung zu dem Mord an Frau Möller.

      Hanna blickte missmutig über ihren Schreibtisch, stand auf und trat ans Fenster. Die ersten Knaller gingen in die Luft und Rauch stieg auf. Vermutlich handelte es sich bei dem Mordfall um die Tat eines Einbrechers, der die Nerven verloren und zugeschlagen hatte.

      Sie verließ ihr Büro und schlenderte in die Kantine. Heute war es hier gähnend leer. Nur einige Kollegen, die Hanna nicht kannte, saßen an einem Tisch und tranken Kaffee. Sie kaufte sich ein Sandwich und ging zurück ins Büro. Um 14 Uhr meldete sich endlich der Sohn des Opfers.

      „Guten Tag Frau Wolf. Mein Name ist Uli Möller. Ich bin seit circa einer halben Stunde in der Wohnung meiner Mutter und habe mir alles angesehen. Ich schätze, dass ich in einer halben Stunde bei Ihnen im Polizeipräsidium sein kann.“

      „Gut, Herr Möller. Konnten Sie feststellen, ob etwas gestohlen wurde?“

      „Ja, das habe ich Ihren Kollegen schon gesagt. Außer dem Geld aus dem Portemonnaie fehlen noch einige Figuren, die meine Mutter gesammelt hat.“

      „Welche Figuren“, wollte Hanna überrascht wissen.

      „Meine Mutter hat ihr Leben lang Porzellanfiguren aus der Hummel-Serie gesammelt. Ich weiß auf Anhieb nicht genau, wie viele sie insgesamt besaß, aber einige scheinen zu fehlen.“

      Hanna dachte einen Moment nach. Das war ihr gar nicht aufgefallen. Doch wer interessierte sich heutzutage schon für diese Kitschfiguren aus Porzellan? Die waren doch völlig aus der Mode. Warum in aller Welt hatte der Dieb die Sachen mitgenommen? Um diese Frage klären zu können, würde es sinnvoller sein, sich die Sammlung Vorort anzusehen.

      „Ach, wissen Sie Herr Möller. Ich bin schneller in Fechenheim, als Sie hier in der Miquelallee. Ich möchte mir Ihre Beobachtungen am Tatort zeigen und erklären lassen. Es ist besser, wenn ich zu Ihnen nach Fechenheim komme.“

      „Wie Sie wollen, Frau Wolf. Ich sehe mich in der Zwischenzeit nochmals genauer um. Vielleicht fällt mir noch etwas auf. Bis später.“

      Als die Kommissarin ein weiteres Mal an diesem Tag in der Baumertstraße auftauchte, war die Menge der Schaulustigen von der Straße verschwunden. Ihre Neugierde