Achim Hildebrand

Zwielicht 14


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Abgesehen von meinem Haar, das ich – eine Überraschung mehr – seit Neuestem lang und kastanienfarben trug, sah sie mir so ähnlich, dass sie mein Zwilling hätte sein können. Gemeinsam blickten wir auf die in Regen und Dämmerung vorbeieilenden Menschen hinter der Fensterfront und lauschten den gedämpft zu uns hereinklingenden Verkehrsgeräuschen – neben dem Sehsinn war mir die Fähigkeit zu hören erhalten geblieben. Während es auf der Straße nach und nach ruhiger wurde, mühte ich mich ab zu verstehen, was zur Hölle hier vorging.

      Die Innenbeleuchtung erlosch und damit der Spiegeleffekt. Kurz nach zehn, zeigte die Uhr an der Bushaltestelle vor dem Schaufenster. Gegenüber, gerade noch in meinem peripheren Gesichtsfeld, entdeckte ich einen Pizza-Hut. Dort hatte ich schon mal gegessen – es hatte mich also in eins der Werbefenster der C&A-Filiale in der Münzstraße verschlagen … Konnte das Ganze ein Traum sein, während das, was ich zuvor geträumt zu haben glaubte, der Realität entsprach? Keine sehr erfreuliche Alternative. Im Traum nämlich waren die Bremslichter eines vorausfahrenden Lastwagens meiner Windschutzscheibe immer näher gekommen, während ich wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Hecktür des Laderaums starrte, deren eine Seite plötzlich aufschwang. Etwas war zum Vorschein gekommen. Aber was? Ich erinnerte mich lediglich an einen gewaltigen Knall.

      Mit jedem Aufwachen fiel es schwerer, zu leugnen, dass ich im Körper einer weiblichen Schaufensterpuppe steckte – nicht, dass das Geschlecht in dem Fall eine Rolle spielte. Demnach war ich gestorben und durchlebte nun … mein ganz persönliches Fegefeuer? Vermutlich konnte ich mich noch glücklich schätzen, als Modepuppe wieder„geboren“ zu sein und nicht als Crashtest-Dummy. Aber was war das für ein Jenseits, in dem man in einem Schaufenster herumstand, um für die neuesten Produkte der Bekleidungsindustrie zu werben? Es gab keine Verbindung zwischen mir und der Modebranche, Klamottentrends hatten mich nie interessiert. Abgesehen von diesem Desinteresse hatte ich nichts verbrochen, was den Aufenthalt in einem Werbefenster als höllische Strafe rechtfertigte. Giselle – so hatte ich meine stumme Gefährtin genannt – schien mich mitfühlend anzulächeln, wann immer es draußen dunkel und ihr Abbild für mich sichtbar wurde. Wie sie da stand, ihre Hände an die Wespentaille gestemmt, in eleganter und gleichzeitig provokanter Haltung, erweckte sie den Anschein, als könnte sie sich mir jeden Moment zuwenden und ein Gespräch beginnen. Ob Giselle ein Bewusstsein besaß? Lebten noch mehr Menschen in Schaufensterpuppen fort? Gesetzt den Fall, es wäre so – bestand eine Möglichkeit, untereinander zu kommunizieren? Wenn ja, wäre es am ehesten an den Augen zu erkennen; ein winziges Funkeln, das in Giselles blauen Augen hätte aufleuchten müssen zum Zeichen, dass sie mich und ihre Umwelt wahrnahm. Meine Position erlaubte mir keinen direkten Blick in ihr Gesicht, aber ich hatte sie gesehen, im Spiegel der Scheibe, hatte Giselles tote Puppenaugen gesehen. Sie war nicht wie ich.

      Ich konnte schlafen, sogar träumen, was die Monotonie meines Zustands etwas linderte. Mein Schlaf-Wach-Rhythmus folgte keinem erkennbaren Muster. Mitunter war ich mehrere Tage lang weg – anhand der Sonntage, wenn die Straße sich leerer als sonst zeigte, ließ sich das einigermaßen rekonstruieren –, dann wieder nur wenige Stunden. Die Zeiten, in denen die Schauwerbegestalter die kleine Bühne betraten, die ich mir mit Giselle teilte, bedeuteten eine willkommene Abwechslung. Ihre Gespräche gaben mir einen winzigen Einblick in die Welt da draußen. Begierig sog ich Neuigkeiten aus Politik und Gesellschaft auf. Leider drehten sich die meisten Themen lediglich um den jeweils aktuellen Auftrag und um Mode. Lange Hose, Pullover – aha, die Herbstkollektion. Gedeckte, kräftige Töne, kein Pastell, das – wer? – so gemocht hatte. Wie ein Blitz traf mich die Erinnerung. Nina! Rabenschwarzes lockiges Haar, einen Kopf kleiner als mein früheres Ich und mit ausgesprochen weiblicher Figur, das genaue Gegenteil der spindeldürren Giselle. Nina. Wie es ihr wohl ging? Am Unfalltag hatte sie nicht neben mir im Auto gesessen. Ninas Gesichtszüge wirbelten durcheinander. Hin und her drehten mich die Mitarbeiter des Kaufhauses, auf die ich mit einem Mal eine unbändige Wut empfand, weil sie mich daran hinderten, mich auf das zu konzentrieren, was mein wiedererwecktes Gedächtnis hervorbrachte. Lasst mich in Ruhe!, wollte ich schreien. Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos. Mein Zorn fand kein Ventil, keine körperliche Reaktion milderte ihn. Er brachte meinen Kopf schier zum Platzen, ich glaubte, sterben zu müssen. Aber ich starb nicht. Ich kam zu mir wie stets, posierend neben Giselle. Seltsam froh darüber, weiterexistieren zu dürfen, erzählte ich ihr in Gedanken von Nina. Ninas Figur, Ninas Lachen, der Sex mit Nina, selbst ihre Macken wie die Neigung, jeden zweiten meiner Sätze zu beenden, bevor ich ihn aussprechen konnte.

      Eine Saison später gelang es mir, aus den Puzzleteilen, die mir peu à peu aufgedeckt wurden – teils im Wachzustand, teils im Traum –, ein Bild der Vergangenheit zusammenzusetzen. Auf dem Weg zur Arbeit hatte ich einen Umweg genommen, weil ich ein Geburtstagsgeschenk für Nina kaufen wollte. Deswegen wählte ich die Autobahn und deswegen geriet ich beim Einscheren hinter diesen Lastwagen. Dann der Schock, als die linke Seite der zweiflügeligen Hecktür plötzlich aufklappte und den Blick auf eine Frauengestalt freigab, deren nackter Körper sich hell gegen das Wageninnere abhob. Für einen Moment schien sie mich direkt anzusehen, im nächsten flog sie auf mich zu, die Arme ausgebreitet, als wollte sie mich umarmen. War ich sie? Dann hatte die Puppe den Unfall unbeschadet überstanden, während ich starb und mein Bewusstsein in dem Puppenkörper landete, um später in einem Lagerraum für ebenjene Kunstgeschöpfe zu erwachen … Wie so etwas möglich sein konnte und weshalb, darüber zermarterte ich mir von nun an fast unentwegt das Hirn. Das Paradoxon, dass ich ein solches streng genommen nicht besaß, machte es nicht einfacher.

      Saison folgte auf Saison. Die aktuelle Frühlingsmode, neue Bademodentrends, Herbstkollektionen und schicke Winter- und Festtagsoutfits wechselten in regelmäßigen Abständen. Ich prägte mir jeden Stil ein, sowohl aus Langeweile als auch um zu ermessen, wie lange mein Aufenthalt – Strafe? – Exil? – schon währte. Ich wurde zum Modeprofi. Giselle und ich unterhielten uns über kalte und warme Farbtöne, Stile und Schnitte; vielmehr plapperte Giselle endlos über diese Dinge, das einzige Thema, das sie interessierte. Soeben ließ sie sich über Kniffe aus, mittels Kleidung figürliche Schwachpunkte zu überdecken. Als ob sie mit solchen zu kämpfen hätte. Höchstens mit einem Mangel an Denk- und Empfindungsvermögen, aber so was dürfte erheblich schwieriger zu kaschieren sein als ein paar Kilos zu viel.

      Ich wollte sterben. Mein Zustand machte mich fertig, und Giselles Gleichgültigkeit widerte mich an. Mein Sehvermögen begann nachzulassen, als legte sich ein Schleier über meine Augen, der vielleicht nur auf einer Staubschicht beruhte, vielleicht aber das Symptom von etwas Gravierenderem darstellte. Möglicherweise verlor ich allmählich den Verstand. Es begann damit, dass ich vergaß, wie oft die Weihnachtsdekoration wiedergekehrt war – Holzschlitten, Kunstschnee, Plastik-Tannenzweige, Glitzerkugeln –, die unser intimitätsloses Heim Winter für Winter festlich schmückte. Sechs-, siebenmal? Häufiger? Die Jahreszeiten und Kollektionen zogen vorbei; ich registrierte den Wechsel teilnahmslos, wie mich auch das Kommen und Gehen der Menschen vor dem Fenster unberührt ließ. Mehr und mehr wurde ich zu dem, was ich nach außen hin verkörperte, der Imitation eines menschlichen Wesens. Eine Zeit lang versuchte ich noch, mir die früheren Modetrends ins Gedächtnis zu rufen, zusehends vergeblich, alles zerfloss und verschmolz miteinander. Aus vielen verschiedenen Kollektionen wurde eine einzige, absurd bunt und überladen. Viel mehr Puppen schienen das kleine Fenster zu bevölkern, und sie trugen Bikinis und Wollmützen.

      Eines Abends machte ich eine überraschende Beobachtung, die mich aus meiner Lethargie riss und meinen trübe ins Nichts mäandernden Blick schärfte. In dem ungefähren Dreieck, gebildet aus Giselles angewinkeltem Arm und ihrem Körper, hatte eine Spinne im Lauf des Tages ihr schimmerndes Radnetz gewoben. Die Spinne selbst hatte sich irgendwo verkrochen und lauerte wahrscheinlich auf Beute. Als das Licht im Schaufenster ausging, lösten sich die feinen Fäden des Netzes wie alles andere im gewohnten Anblick der nächtlichen Straße auf. An einem der darauffolgenden Abende hing Beute im Netz. Sie musste hineingegangen sein, während ich schlief. Ein längliches Ding vom ungefähren Format meines kleinen Fingers – meines jetzigen kleinen Fingers wohlgemerkt. Um was für ein Insekt es sich auch handelte, die Spinne hatte es sorgfältig eingewickelt. Sie schien nicht hungrig zu sein, denn auch in der Folgezeit bekam ich sie kein einziges Mal zu Gesicht. Bald schon machte das anfangs so gleichmäßige Netz einen vernachlässigten Eindruck, Staub sammelte sich auf den schlaffen und losen Fäden.

      Ich