Werner Karl

Aevum


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Yildirim zu. »Möchten Sie die Aufnahme der Kabinen-Aufzeichnung noch einmal sehen, Euer Ehren?«

      Yildirim hob seine linke Hand  eher die Pranke eines Schwerstarbeiters als die eines Richters  und wedelte mit dem mächtigen Zeigefinger. »Nein, das ist wirklich nicht nötig. Wir haben den Clip mindestens ein Dutzend Mal gesehen … und auch seine Echtheit und Unversehrtheit ausreichend belegt bekommen.« Dann wandte er sich an Ferguson. »Wenn Sie sich also an die Fakten halten würden, Herr Staatsanwalt. Konzentrieren Sie sich eher auf das Motiv …«

      Ferguson sah wie ein Hai aus, dem man einen blutigen Brocken hingeworfen hatte. »Aber mit Vergnügen, Euer Ehren. Miss Savoy …«

      »Ich meinte nicht Agentin Savoy«, unterbrach ihn Yildirim. »Mich – uns – interessiert alle das Motiv des Agenten White! Warum wollte er seine Kollegin – und wie wir nun auch alle wissen: seine ehemalige Kommilitonin und Geliebte – töten? Sie hat den Auftrag, der ihr erteilt wurde …«

      »Unwissentlich!«, warf Colbert ein.

      »… zunächst unwissentlich erteilt wurde«, fuhr Yildirim fort, »erfolgreich ausgeführt … mehr oder weniger.«

      Ferguson warf einen übertrieben bedeutungsschweren Blick ins Publikum. Vielleicht eine Geste, die er sich für Verhandlungen vor Zivil- und Strafgerichten angewöhnt hatte, die hier aber fruchtlos blieb, da alle Anwesenden entweder dem Militär, dem Geheimdienst oder der Regierung der Terranischen Föderation angehörten. Die Öffentlichkeit war selbstverständlich ausgeschlossen worden. Richter Yildirim sah den Blick natürlich ebenfalls und machte sich eine Notiz. Amélie Colbert hatte den Eindruck, dass Fergusons Minuskonto gerade um einen Punkt gewachsen war. Auch er schien nun zu bemerken, dass er auf dünnem Eis ging.

      »Na schön, dann eben ohne weitere Hintergrundermittlung«, murmelte er. Dann hob er seinen Kopf und versuchte es mit Zustimmung. »Ja, Agent White hatte eine Waffe bei sich, als er die Kabine der Angeklagten betrat. Und das völlig legitim, wie ich betonen darf. Agent White musste sich vergewissern, ob Miss Savoy noch vertrauenswürdig war oder nicht. Der Auftrag wurde ausgeführt …«

      »Erfolgreich ausgeführt«, warf Amélie Colbert ein und erntete dafür einen strafenden Blick Yildirims. Mit einem charmanten Lächeln nickte sie ihm entschuldigend zu.

      Ferguson fuhr ungerührt fort: »… doch eben nicht in der Weise, wie es ihre Anweisungen verlangten.«

      »Einspruch, Euer Ehren. Agentin Savoy war vollgepumpt mit Stimulanzien, Codewörtern und Implantaten. Die Liste dieser Eingriffe haben wir schon gründlich durchdiskutiert. Sie ist übrigens auch jetzt noch nicht wieder alleinige Herrin über ihren Körper und Geist.«

      »Einspruch gew…«, begann Richter Yildirim, wurde aber von Ferguson unterbrochen.

      »Sie wollen uns doch wohl jetzt nicht mit eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit kommen, Frau Verteidigerin?« Ferguson hatte eine lauernde Miene aufgesetzt.

      »Nein, ganz sicher nicht. Im Moment des Schusses war meine Mandantin klar bei Sinnen und verfügte über die ihr in vielen Monaten von Militär und Geheimdienst antrainierten Reflexe. Allein diese retteten ihr das Leben. Agent White galt auch unter Kollegen als blitzschneller und treffsicherer Schütze.«

      »Er hatte aber sein Urteil über Miss Savoy noch nicht gefällt, liebe Frau Verteidigerin«, sprudelte es aus Ferguson heraus. Im gleichen Moment, als er den Satz beendet hatte, erkannte er seinen Fehler und schob hastig nach: »Wir alle wissen, dass es manchen Mitgliedern des Terranischen Geheimdienstes gestattet ist, in außergewöhnlichen Fällen ein eigenes Urteil und die entsprechenden Maßnahmen …«

      »Mord!«, donnerte Amélie Colbert dazwischen und hatte in dieser Sekunde nichts an sich, was sonst die Männer sich nach ihr umdrehen ließ.

      Fergusons von einem Augenblick zum anderen erstarrtes Gesicht ließ es nicht zu, dass er seinen Satz beenden konnte. Dagegen kam Amélie Colbert jetzt erst richtig in Schwung.

      »Und wieder ist Ihre Ignoranz nicht zu überbieten, Herr Staatsanwalt. Agent White hätte seine Bewertung Savoys – nicht sein Urteil  einem ordentlich bestellten Gremium vortragen können. Agent White hätte dazu alle Zeit der Welt gehabt.« Die hübsche Französin beugte sich ein wenig nach vorn und drosch ihre flache Hand auf den Tisch, dass es krachte. »Aber nein, er zog es vor, selbst Richter und Henker in Doppelfunktion zu spielen. Die Aufnahmen zeigen glasklar, dass er nach seiner Waffe griff. Agentin Savoy hatte weder eine Wahl noch eine einzige Sekunde Zeit. Sie handelte in Notwehr. Agent White hingegen handelte ohne Zwang oder Not!«

      Ferguson schnappte für eine Entgegnung nach Luft, aber die Verhandlung war nun an dem Punkt angekommen, auf den Amélie Colbert die ganze Zeit gewartet hatte.

      »Ich darf hier noch einmal auf die Nacht des 21. Januar 2317 zurückkommen: Zwei gedungene Mörder aus dem Männertrakt des New-Alcatraz-Gefängnisses auf Terra – samt einem Werwolf – hatten versucht, meine Mandantin zu ermorden. Beide Versuche sind für mich glasklarer Beweis dafür, dass jemand, wahrscheinlicher aber eine Gruppe, meine Mandantin tot sehen will. Selbst diese Verschwörer sind somit der Ansicht, dass Bérénice Savoy in Notwehr gehandelt hat, also unschuldig ist und somit als freie Bürgerin Terras aus der Haft entlassen werden muss. Wäre sie schuldig, könnten die Verschwörer sich bequem zurücklehnen und die Hinrichtung Savoys abwarten.« Colbert richtete sich auf und blickte jedes einzelne Mitglied der Geschworenengruppe so intensiv an, dass dieses das Gefühl bekommen musste, nur es sei angesprochen. »Die Frage ist nur: Welche brisanten Informationen sind in den Tiefen des Gehirns meiner Mandantin verschüttet, dass man immer wieder versucht, sie zu töten?«

      Sie machte eine Pause, doch weder Ferguson, noch der Richter erwiderten etwas darauf. Amélie Colbert glaubte für einen Moment, Richter Hassan Yildirim zustimmend nicken zu sehen. Aber die Bewegung war so minimal, dass sie offensichtlich niemand anderer gesehen hatte.

      »Ich darf ebenfalls in Erinnerung rufen, dass meine Abteilung und ich Agentin Savoy seit dieser Nacht bis zum heutigen Tag in einer Einrichtung des Geheimdienstes in Schutzhaft genommen haben, um weitere Mordversuche zu verhindern.« Sie straffte sich und blickte zunächst Yildirim und danach jeden seiner Beisitzer in die Augen. »Ich beantrage also hiermit die sofortige Rehabilitation und Freilassung meiner Mandantin.«

      Der Rest der Verhandlung verlief ohne weitere Aufregung. Nur kurz versuchte Ferguson in seinem Plädoyer, White als Opfer darzustellen, schien aber selbst zu merken, dass es nur ein Rückzugsgefecht war. Nach einer Beratung, die keine halbe Stunde gedauert hatte, betrat Richter Hassan Yildirim mit seinen sechs Beisitzern, zwei vom Militär, zwei vom Geheimdienst und zwei nicht stimmberechtigten Vertretern der Regierung, wieder den Sitzungssaal. Automatisch erhoben sich alle Anwesenden. Nachdem Yildirim und seine Beisitzer Platz genommen hatten, setzten sich auch die Vertreter der Anklage und das zahlreiche Publikum. Nur Bérénice Savoy und Amélie Colbert blieben stehen. Als wenige Augenblicke später Ruhe herrschte, blickte Yildirim die Angeklagte direkt an, die ihm dunkel und gefasst entgegensah.

      »Ich erspare uns die Auflistung aller Zeugen, Techniker, Ausbilder und Vorgesetzten der Angeklagten. Es gibt keinen einzigen darunter, der die technische oder telepathische Überprüfung nicht bestanden hätte. Ich darf diesem Personenkreis für die Aufklärung des Falles ausdrücklich Dank aussprechen.«

      Er blickte auf seine Notizen und machte ein Gesicht, das auf Verteidigerin Amélie Colbert wie eine Mischung aus Respekt und Erleichterung wirkte. Erleichterung in dem Sinne, dass er nicht zu den Feinden der Angeklagten zählte.

      »Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass die beiden männlichen Gefangenen, welche Agentin Savoy angegriffen haben, überleben werden. Die Mediziner versichern, dass die Wunden, welche die Angeklagte ihren Gegnern zugefügt hat, einzig und allein darauf abzielten, diese kampfunfähig zu machen.« Wieder blickte er auf seine Aufzeichnungen. »Sie werden allerdings erst in einigen Monaten die Gefängnisklinik verlassen und den Rest ihrer Strafe nur mit Hilfe von … äh … mehreren Prothesen absitzen können.«

      Er nahm einen Schluck Wasser, erhob sich und wandte sich dann wieder an die beiden immer noch