Elisabeth Hug

Ein beinahe hoffnungsloser Fall


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hatte sich damals absolut richtig verhalten. «Schließlich war er nicht zum Stören gekommen, sondern hatte ihr seine Hilfe angeboten. Was hatte sie damals nur so Dringendes zu tun gehabt?»

      Egal. Einen Tag später stand sie bei ihm vor der Tür und hatte sich für ihre unfreundliche Begrüßung entschuldigt und ihn für die darauffolgende Woche zum Tee eingeladen. Seither wechselten sie freundliche Worte, spielten gelegentlich Karten oder tranken zusammen einen Sherry oder Tee. Die Kommunikation blieb distanziert. «Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck.» Der Aphorismus schien sich bei Elvira zu bewahrheiten. Sie gehörte nicht zu den Menschen, zu denen Winfried von sich aus Kontakt gesucht hätte, obwohl sie etwa in seinem Alter und, soweit er wusste, ebenfalls alleinstehend war.

      «Doch war die Person am Fenster wirklich Elvira gewesen?» Bommelmütz glich das in seinem Kopf gespeicherte Bild von Elvira mit der gerade gesehenen Silhouette am Fenster ab:

      Elvira war groß und von eher kräftiger Statur. Die blond-grau-melierten schulterlangen Haare trug sie meist offen über dem breitflächigen Gesicht. Ein wenig Makeup wäre vorteilhaft gewesen, aber von solchen Tricks hielt sie scheinbar nichts. Nein, Elvira war gewiss keine Schönheit, und er fand auch in ihrem Wesen nichts, das interessant oder anziehend gewesen wäre. Dass er sich dennoch gelegentlich mit ihr verabredete, lag einzig daran, dass sie seine Nachbarin und er nicht gerne alleine war. So war es nicht verwunderlich, dass seine Gespräche mit Elvira nie über belanglosen Small Talk hinausgingen. Eigentlich wusste er kaum etwas von ihr. Auch hatte er tunlichst darauf geachtet, ihr gegenüber nicht allzu viel von sich selbst preiszugeben.

      Elvira gehörte zu den oberflächlichen Kontakten, wie sie im Leben zu hunderten kamen und gingen. Aus früheren schlechten Erfahrungen hütete sich Winfried Bommelmütz stets davor, Fremden seine verwundbaren Stellen preiszugeben. Zu oft schon hatte er die bittere Erfahrung machen müssen, dass Schwächen irgendwann ausgenutzt wurden. Schon die alten Griechen warnten davor. Achilles wurde nur deshalb besiegt, weil er jemanden in leichtsinniger Gefühlsduselei seinen einzigen Schwachpunkt verraten hatte.

      Und Bommelmütz war sich darüber bewusst, dass er viele Schwachpunkte besaß. Einer davon war gewiss seine Exfrau, Eva-Maria. Ein dunkler Schatten, verursacht von seinem schlechten Gewissen, überkam ihn auch jetzt wieder beim Gedanken an Eva-Maria; Winfried stieß einen beklommenen Seufzer aus. Er zog den Gurt seines Morgenmantels fester, weil er plötzlich fröstelte. Er kriegte doch wohl keine Erkältung? Sicherheitshalber schlug er die Kapuze seines Morgenmantels über den Kopf und hüllte sich tief darin ein.

      Wenn Bommelmütz an Eva-Maria dachte, sah er stets auch ihre beste Freundin Sophie vor sich. Die beiden waren seit frühester Kindheit unzertrennliche Freundinnen gewesen und besuchten im Gymnasium die Klasse unter ihm. Alle seine Klassenkameraden, er eingeschlossen, schwärmten damals für die beiden attraktiven, quirligen Teenager. Dabei blieb es auch. Die beiden waren für jeden Spaß und jede Party zu haben, ließen aber ansonsten alle Annäherungsversuche abblitzen. Wahrscheinlich machte sie eben diese Unnahbarkeit noch begehrenswerter. Auch heute noch ergriff ihn eine tiefe Sehnsucht, immer, wenn er die Fotoalben aus seiner Schulzeit durchblätterte. Gewiss ging es vielen seiner ehemaligen Mitschüler genauso. Obwohl er Eva-Maria später geheiratet hatte, hatte in seinen nächtlichen Teenager-Phantasien stets Sophie die Hauptrolle gespielt. Was wohl aus ihr geworden war?

      Damals hätte dieses Mädchen alles von ihm haben können, wenn sie ihn nur erhört hätte. Fast zwei Jahre waren sie in derselben Clique und verbrachten täglich Zeit zusammen, schmiedeten Zukunftspläne, hörten Musik, diskutierten über Gott und die Welt. «Einen großen Bruder wie dich hatte ich mir immer gewünscht», hatte sie ihm damals anvertraut. Sie suchte nach Unterstützung. Das war ihm klar. Jeder im Ort wusste, dass ihr Vater jähzornig war und sie oft schlug. Das öffentliche Bewusstsein hatte sich seit der Zeit, als sie Teenager waren, stark verändert. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, sich in Familieninterna einzumischen. Heute war das zum Glück anders. Wenn sie auf Partys zu viel getrunken hatte, heulte sich Sophie an seiner Schulter aus und sie schmiedeten Zukunftspläne für die Zeit nach der Schule. Sie konnte es kaum erwarten, endlich von zuhause auszuziehen. Er nahm die Rolle ihres Vertrauten an, so wie sie sich das von ihm wünschte. Doch insgeheim hoffte er, dass sie einmal mehr in ihm sehen würde. Bedrängen wollte er sie nicht, weil er Angst hatte, sie dadurch zu verlieren. Nach dem Abitur ging er dann auf die Polizeischule und sie sahen sich im folgenden Jahr fast nur noch an den Wochenenden. Aber auch dann hatte Sophie oft keine Zeit. Sie gab vor, sich auf ihre Abiturprüfungen vorbereiten zu müssen. Erst später fand er heraus, dass sie jemanden kennengelernt hatte.

      Sophie war immer die forschere von beiden gewesen, Eva-Maria etwas vorsichtiger und zurückhaltender. Zu dritt hatten sie oft darüber gesprochen, nach dem Abitur zusammen zu studieren. Doch für Sophie war das reine Phantasterei: «Mein Vater würde mir niemals ein Studium finanzieren. Er verlangt, dass ich endlich arbeite und selbst Geld verdiene. Schon, dass ich auf das Gymnasium gehen durfte, habe ich nur meiner Grundschullehrerin zu verdanken, die sich damals gegen den Alten durchgesetzt hatte.»

      Der Mann, den Sophie kennengelernt hatte, war einiges älter und nicht aus dem Ort. Vermutlich ihr Ticket, um von zuhause wegzukommen. Sie schlug alle Warnungen von ihm und ihren Freunden in den Wind und ging, ohne zu zögern mit ihm in eine ungewisse Zukunft; irgendwohin. Dieses kompromisslose Handeln hatte sie in seinen Augen noch begehrenswerter werden lassen. Durch ihr plötzliches Wegsein hatte sie sich umso mehr eine Aura geschaffen. Während er den Klassenkameraden oder Eva-Maria von Zeit zu Zeit begegnete, blieb Sophie in der Erinnerung und seinen Träumen stets neunzehn Jahre alt und honigsüß. Traf er auf Menschenansammlungen, ertappte er sich zuweilen dabei, dass er nach ihrem Gesicht Ausschau hielt. Er wünschte sich so sehr, dass sie sich zufällig einmal begegnen würden. Vielleicht, wenn sie ihm heute als eine vom Leben gezeichnete, nicht mehr ganz so attraktive Enddreißigerin begegnen würde, könnte er endlich diesen Traum loslassen. Aber wollte er das wirklich? Das Leben hatte ihm so viele Enttäuschungen gebracht, dass er froh war, an seiner Phantasie festhalten zu können.

      Nachdem Sophie plötzlich weg war, blieb Eva-Maria verlassen zurück. Sie ahnte nicht, dass Sophie sie beide im Stich gelassen hatte. Ob das der Grund war, dass Eva-Maria ihn geheiratet hatte? Sie hatten nie darüber gesprochen. Eva-Maria erhielt regelmäßig Briefe von Sophie, aber sie versteckte sie vor ihm. Ob sie wohl ahnte, dass er all die Jahre heimlich in Sophie verliebt gewesen war?

      Jedenfalls hatte seine Ehe mit Eva-Maria nur kurze Zeit gehalten und war kinderlos geblieben. Eva-Maria hatte schon sehr bald nach ihrer Scheidung von Winni ein zweites Mal geheiratet und gleich darauf mit ihrem neuen Mann zwei stramme Söhne in die Welt gestellt. Mit Eva-Maria pflegte Bommelmütz auch nach der Scheidung bis heute ein freundschaftliches Verhältnis. Er sah sie jedoch selten und war froh darüber. Die Treffen mit Eva-Maria schmerzten immer noch und erinnerten ihn daran, wie allein er jetzt doch war und wie sehr er im privaten Leben versagt hatte. Wenn Bommelmütz genau darüber nachdachte, musste er zugeben, dass er alle Zeit auf seinen Beruf und kaum Zeit auf sein Privatleben verwendet hatte. Dabei, das wusste er nur zu gut, hatte Eva-Maria stets versucht, ihm eine gute Partnerin zu sein. Sie hatte die eheliche Wohnung komfortabel eingerichtet, engagierte sich gemeinnützig und pflegte die gemeinsamen Sozialkontakte, indem sie Abendessen oder Feste mit Familie und Freunden organisierte. Bommelmütz arbeitete oft nächtelang und auch über die Wochenenden. Anfangs hatte ihn Eva-Maria noch mit Vorwürfen bombardiert, wenn er sie wieder einmal wegen eines schwierigen Falls versetzt hatte. Nach etwa zwei Jahren resignierte sie.

      Bommelmütz wunderte sich zuerst darüber, dass sie kaum mehr zu Hause war. Er nahm sich aber nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Vielmehr war er froh, dass sie ihm keine Vorwürfe mehr machte. Als Eva-Maria bald darauf aus der ehelichen Wohnung auszog, war er überrascht. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie unglücklich seine Frau neben ihm gewesen war. Drei Jahre nach der Hochzeit ließ sich Eva-Maria von ihm scheiden. Bommelmütz schämte sich heute noch für seine Ignoranz.

      Es war wirklich seltsam, dass Bommelmütz ausgerechnet an diesem strahlend blauen Frühlingsmorgen diese düstere Erinnerung einholte.

      Er und sein damaliger Vorgesetzter, Edgar Vidal, hatten in dieser schwierigen Zeit wie besessen an dem grausamsten und mysteriösesten Mordfall gearbeitet, der ihm in seiner Laufbahn untergekommen