Elisabeth Hug

Ein beinahe hoffnungsloser Fall


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könne. Die Eltern des getöteten Mädchens und der ganze Ort sollten endlich Ruhe finden.

      Der Schreiber deutete an, dass viele Eltern seither Angst hatten, ihre Töchter alleine auf die Straße zu lassen. Solange er nicht gefasst war, musste man jederzeit damit rechnen, dass der unheimliche Mörder eines Tages erneut zuschlagen könnte.

      Als er geendet hatte, schob Bommelmütz die Zeitung nachdenklich zur Seite. Die Gedanken summten wie ein riesiger Bienenschwarm in seinem Kopf herum. Der Schreibstil, klar und kompromisslos, dabei abwechslungsreich und wortgewandt, kam ihm sehr bekannt vor. Aber nein, das konnte nicht sein!

      «tm» war einmal das Kürzel seiner Freundin Sophie gewesen, als sie damals für die Schulzeitung seines Gymnasiums geschrieben und auch ab und an Artikel in der örtlichen Zeitung publiziert hatte. Aber Sophie Theresia Meyer, wie sie mit vollem Namen hieß, arbeitete nicht mehr als Journalistin für die hiesige Zeitung. Sie war vor vielen Jahren weggezogen. Sie hatte sich nie mehr bei ihm gemeldet, und sicher hatte sie einen Mann und Kinder und überhaupt keinen Grund, in die verschlafene Kleinstadt zurückzukommen, in der sie zusammen aufgewachsen waren. Leute, die diesem Provinznest einmal den Rücken gekehrt hatten, blieben für gewöhnlich fern. Er selber war die einzige Ausnahme. Aber er war schließlich auch ein hoffnungsloser Fall. Er hing am Althergebrachten. Er mochte keine Veränderungen und umgab sich gern mit gewohnten Dingen. Er lebte im ehemaligen Haus seiner Großeltern und hatte dort sogar einen Großteil der alten Einrichtung belassen. Auch sonst hatte er keine großen Erwartungen an das Leben und war sich meist selbst genug. Wenn er so über sich nachdachte, war er völlig anspruchslos. Einzig bei seiner Küche, seinem Weinkeller und seinem Badezimmer machte er Ausnahmen.

      Kochen und Genießen waren seine Leidenschaft. In diesen Bereichen scheute er weder Kosten noch Mühe. Auf diesem Feld strebte er immer nach Perfektion, er probierte gern Neues und gab sich nur mit dem Besten zufrieden. Dabei kam es ihm keineswegs auf den Preis an. Die hohe Qualität und Frische der einzelnen saisonalen Zutaten sowie Kreativität bei der Kombination führten oft auch mit einfachen Zutaten zu ganz außergewöhnlichen Ergebnissen. Er mochte den hochgestochenen Begriff «Gourmet» nicht, sah sich auch nicht als solcher.

      Und das Kochen war dem Ermitteln in einem Mordfall insofern sehr ähnlich, dass ein wirklich guter Koch nicht am Gewohnten festhielt, sondern die Sinne stets offen hielt für Neues. Zu seinem großen Vorteil verfügte Bommelmütz über wesentlich feinere Geruchs- und Geschmackssinne als die meisten seiner Mitmenschen.

      Durch die Lektüre des Artikels war Bommelmütz von einer freudigen Unruhe ergriffen. Wenn er ehrlich mit sich war, hatte er die letzten Jahre in völliger Lethargie verbracht. Er hatte schon zu lange keine richtige Aufgabe mehr, und in diesem Augenblick und mit diesen Überlegungen war er fest entschlossen, den Fall Betty jetzt neu aufzurollen. Den Fall Betty, seine größte berufliche Niederlage.

      Und da war noch ein anderer wichtiger Punkt. Bettys Eltern hatten ihm kurz nach dem Auffinden ihrer ermordeten Tochter völlig schockiert das Versprechen abgerungen, dass er den Mörder fassen würde. An dieses nicht gehaltene Versprechen dachte er noch heute voller Scham.

      Entschlossen klappte er die Zeitung zu. Dann war er schon unterwegs zum Telefon. Ganz automatisch tippte er aus dem Gedächtnis die Nummer der Regionalzeitung ein. Sein Gehirn arbeitete mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks; ganz wie in den Jahren, als der noch im Polizeidienst gestanden hatte. Er erschrak ein wenig, als sich am anderen Ende tatsächlich eine freundliche junge Dame der örtlichen Zeitungsredaktion meldete. Wirklich erstaunlich, dass die Telefonnummer nach all den vielen Jahren immer noch dieselbe geblieben war.

      Er meldete sich mit «Kommissar Bommelmütz», was eine Amtsanmaßung und strafbar war. Aber das kümmerte ihn wenig, weil die Lüge ihren Zweck erfüllte. Die Auskunftsdame beantwortete geduldig und ausführlich alle seine Fragen. Und Bommelmütz stellte genau die richtigen. Seine präzise und zielgenaue Fragetechnik hatte ihn immer ausgezeichnet. Er brauchte nur kurz, um alles zu erfahren, was ihn interessierte.

      Augenblicke später goss er den inzwischen kalten Kaffeerest in den Ausguss seiner Spüle. Er ärgerte sich über die Verschwendung. Immer noch gedankenverloren ging er zu seiner Kaffeemaschine zurück und bereitete sich eine neue Tasse zu. Diese neue Tasse Espresso, so nahm er sich fest vor, würde er wirklich genießen. Trotz des Vorsatzes gelang es ihm nicht. Er war viel zu aufgeregt. Er setzte sich zurück an seinen Tisch, nippte den heißen Kaffee in kleinen Schlucken, während unzählige Gedanken wie Starenschwärme durch seinen Kopf schwirrten.

      Als er ausgetrunken hatte, bugsierte er den Kater aus dem Haus. Der hatte es sich auf seinem Lieblingsplatz, dem Fenstersims, gemütlich gemacht und folgte nur sehr widerwillig. Aber Tiger musste raus, denn Bommelmütz wollte eilig das Haus verlassen und wusste nicht, wie lange er wegbleiben würde.

      Bommelmütz schnappte sich vom Garderobenständer einen leichten, hellen Sommerblazer und seinen Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zu seiner Garage neben dem Haus. Sein blauer VW Golf war beinahe zehn Jahre alt. Der Wagen war zuverlässig, unauffällig und genügsam wie Bommelmütz selbst, und solange der Golf ihn nicht im Stich ließ, würde Bommelmütz es umgekehrt mit dem Auto genauso halten.

      Bommelmütz startete den Motor, und obwohl er den Wagen annähernd drei Wochen nicht mehr bewegt hatte, sprang der Motor gleich beim ersten Mal an. Zum Dank streichelte Bommelmütz mit der flachen Hand über das Armaturenbrett, so wie man einem Hund oder Kind über den Kopf streichen würde, der artig war: «Hast du gut gemacht, mein Alter!», lobte er das Auto und musste über sich selbst schmunzeln.

      Bommelmützens Wagen besaß noch kein Navigationsgerät, aber er fand den Weg auch so auf Anhieb. In der kleinen Stadt hatte er viele Jahre lang gelebt und gearbeitet. Er kannte beinahe jeden Straßenzug. Ohne Umwege steuerte der die Adresse an, die ihm die Dame von der Zeitung genannt hatte. Er überlegte, ob er nicht vorher hätte anrufen sollen. Das wäre ohne Zweifel besser gewesen, aber jetzt war es zu spät. Er hatte auch kein Handy dabei, um sein Versäumnis nachzuholen. Diese Dinger störten nur, und wenn man sie wirklich einmal brauchte, war grundsätzlich der Akku leer. Das hatte er zigmal bei Kollegen erlebt. Nur jetzt, in diesem Moment, wäre er froh gewesen um so ein Ding. Gewiss, er hätte vorher anrufen sollen!

      Direkt vor dem angegebenen Haus fand er einen freien Parkplatz. Er bugsierte seinen Golf akkurat in die Mitte. Nicht zu weit rechts, nicht zu weit links. In solchen Dingen konnte er fürchterlich pedantisch, um nicht zu sagen spießig, sein.

      Mit einem lauten Klack schlug er die Fahrertüre zu. Einen Klick auf den Schlüsselknopf und die Türen sperrten. Er rüttelte noch kurz am Griff, um zu kontrollieren, ob die Türe auch tatsächlich verschlossen war. Wieder so ein Tick von ihm. Er belächelte sich manchmal selbst für seine Pedanterie. Wer sollte so ein altes Auto stehlen? Und außer einem Knirps-Schirm, einem Fernglas, ein paar abgegriffenen Straßenkarten und einer kratzigen Wolldecke gab es in dem Auto nichts zu holen. Nachdenklich betrachtete Bommelmütz das Haus Nummer 19. Er scannte es mit den Augen ab und ließ es auf sich wirken. Wie lange mochte Sophie hier schon wohnen, und warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet?

      Haus Nummer 19 war ein kleines Mehrfamilienhaus. Ein puristisch wirkender Neubau in familienfreundlicher Wohnlage mit viel Grün und Schulen in unmittelbarer Nähe. Nicht übermäßig luxuriös, aber dafür stilvoll. Es passte zu seinem Bild von Sophie; jedenfalls zu der Sophie, die er vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte.

      An der Eingangstür suchte Bommelmütz nach dem richtigen Klingelknopf. Unter den sechs Namen war der richtige schnell gefunden. Er hielt noch einen Augenblick inne, dann gab er sich einen Ruck, nahm all seinen Mut zusammen und drückte mehrmals kurz hintereinander entschlossen auf den Klingelknopf. Vielleicht etwas zu oft. Aus der Sprechanlage ertönte eine wohlbekannte, klare und energische Stimme: «Nicht so hastig, bitte! Wer ist denn da?» Bommelmütz war wie vom Blitz getroffen. Er räusperte sich ausgiebig, ehe er antworten konnte. «Ich bin es, Sophie, Winni.»

      Da fiel ihm plötzlich ein, dass sie sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatten und sie sich womöglich nicht mehr an ihn erinnerte. Er fügte verlegen hinzu: «Winfried Bommelmütz!»

      «Na endlich, Winni. Du lässt nach und bist spät dran. Ich habe dich bereits vor einer Stunde