Elisabeth Hug

Ein beinahe hoffnungsloser Fall


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zubereiten würde. Vor seinem inneren Auge spielten sich skurrile Szenen ab wie in einem Stephen-King-Horrorfilm. Er war insgeheim wirklich froh darüber, dass niemand seine Gedanken lesen konnte. Hätte Sophie nämlich den Film sehen können, der sich in seinem Kopf-Kino abspielte, hätte sie ihn für einen auferstandenen Doktor Mabuse gehalten und ihr hätte beim Abendessen gewiss vor ihm und seinem Menü gegraust.

      Nach einer schier endlosen Zeit des Müßiggangs war Bommelmütz wieder in seinem Element. Er hatte endlich wieder einen Fall zu lösen. Und noch dazu den grausamsten und gleichzeitig undurchsichtigsten Kriminalfall, mit dem er es in seiner ganzen Laufbahn jemals zu tun gehabt hatte. Außerdem hatte er Sophie wiedergefunden oder besser sie ihn, und er würde heute Abend ein phantastisches Menü für sie zubereiten und mit ihr zusammen sein.

      Bommelmütz war beseelt wie seit Langem nicht mehr.

      Hätte er es nur vorher gewusst, hätte er ein ganz besonderes Menü vorbereitet. Sein Boeuf Bourguignon fiel ihm als Hauptgang dazu ein. Das war ein Gedicht, und wäre ein dem Anlass angemessenes Gericht. Aber dazu brauchte er viele spezielle Zutaten und eine ganz besondere Sorte Fleisch, und er musste die Sauce zwei Tage vorher ansetzen. Also keine Chance für ein Boeuf Bourguignon.

      Aber was für ein beeindruckendes Menü konnte er spontan für diesen speziellen Abend für Sophie zubereiten?

      Völlig absorbiert von diesen Gedanken steuerte er den Metzgerladen an.

      In seiner Stadt gab es nur einen einzigen Metzger, der ausschließlich einheimisches Fleisch von bester Qualität verarbeitete. Bommelmütz kaufte fast nur bei ihm. Die beiden Männer schätzten einander und nannten sich beim Vornamen. Bommelmütz hatte bei Eduard auf seinen speziellen Wunsch stets besondere Stücke bekommen. Aber ausgerechnet heute musste Eduard passen. Bommelmütz fragte erst nach Wachteln, dann nach extra mürben Rinderfilets, und auch mit einem feingemaserten Tafelspitz konnte Eduard heute nicht dienen. Die beiden diskutierten eingehend verschiedene Optionen und mögliche Zubereitungen. Bommelmütz verwarf aber jeden von Eduards Vorschlägen. Nach einer schier endlosen Diskussion entschuldigte sich Eduard, verschwand dann kurz nach hinten und tauchte letztlich mit einem vorzüglich gemaserten und gut abgereiften knapp kiloschweren Stück Rinderfilet sowie einem breiten Grinsen im Gesicht wieder auf: «Das hat die Frau Richterin bei mir bestellt. Aber die Alte kann sowieso nicht mit Fleisch umgehen. Die brät es zu Schuhsohlen. Schade um das gute Stück. Da gebe ich es lieber dir!» Bommelmütz war gerührt von so viel Anerkennung. «Das vergesse ich dir niemals, Eduard. Du hast mich gerettet und du hast wirklich was gut bei mir!»

      «Mach mich zu deinem Trauzeugen, wenn sie ‹Ja› sagt. Das muss eine ganz besondere Frau sein, für die du dir so viel Mühe gibst», scherzte er mit einem Augenzwinkern. Winfried lächelte verlegen und verabschiedete sich beim Gehen mit einem breiten Grinsen und einem langen Händedruck. Eduard schaute ihm lachend nach. Er hatte seinen Freund Winfried schon lange nicht mehr so gutgelaunt und euphorisch erlebt.

      «Wer weiß, vielleicht liege ich ja gar nicht mal so falsch. Ich fresse einen Besen, wenn das nichts zu bedeuten hat», sagte er zu seiner Frau, die im Nebenraum Würste abgepackt und die Unterhaltung mitbekommen hatte.

      Beim Feinkosthändler erstand Bommelmütz ein Pfund junge Pflückbohnen, einen Strauß aromatisches Bohnenkraut, Schnittsalat, Frühlingszwiebeln und neue Kartoffeln. Schon beim Anblick der einfachen, aber vorzüglichen Zutaten lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Heute war wirklich sein Glückstag!

      Zuhause angekommen verfrachtete er das Fleisch und den Salat in den Kühlschrank. Das Gemüse und die Kartoffeln brachte er fürsorglich in den Keller. Auch wenn es nur wenige Stunden bis zum Abend waren, so wollte er die Zutaten optimal gelagert wissen. Das Haus seiner Großeltern hatte noch einen dieser riesigen, alten Original-Naturkeller mit Lehmboden, und der war zur Gemüselagerung viel besser geeignet als ein moderner Kühlschrank. In seinem reich bestückten Weinkeller suchte er mit viel Sachverstand einen fünfzehn Jahre alten Château Lafite Rothschild Grand Cru heraus, den er sich für eine ganz besondere Gelegenheit aufgespart hatte.

      Er trug die Flasche behutsam und ohne große Erschütterungen nach oben und deponierte sie in der Küche. Mit einem Blick auf das Thermometer versicherte er sich, dass die Raumtemperatur dem Wein zuträglich war. Er hatte bei einer anderen Gelegenheit schon eine Flasche davon getrunken und erinnerte sich noch allerbestens an den unvergleichlich eleganten Geschmack aus einer Kombination von Veilchen, Mandeln, reifen dunklen Beeren, viel Tanninen sowie einer ganz dezenten Nuance von Leder. Er war überzeugt, dass dieser Wein mit seiner vorzüglichen Säure wunderbar mit seinem Menü harmonieren würde. Sein Herz raste vor Glück. Er freute sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das den Abend mit der bevorstehenden Bescherung kaum erwarten konnte. Hatte er jetzt alles? Er ging nochmals in Gedanken die Speisenfolge und Zutatenliste durch. Er hatte an alles gedacht und war perfekt vorbereitet.

      Winni war mit sich zufrieden. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er noch etwas Zeit hatte, ehe er den Tisch decken und mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen musste. Er setzte sich an den Rüsttisch und nahm nochmals die Akte hervor, die Sophie ihm beim Gehen zugesteckt hatte.

      Sophie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Bommelmütz hatte den Köder begierig und tief geschluckt. Er steckte bereits wieder ganz tief im Fall «Betty».

      Seite um Seite studierte Bommelmütz die Akte. Er betrachtete lange und intensiv die alten Fotos. Viele der Details waren ihm ins Gedächtnis gebrannt. Dennoch entdeckte er beim Studium der Akte Neues. Manchmal waren es nur Nuancen in Zeugenaussagen, manchmal waren es aber auch wichtige Details, die er seither vergessen hatte oder denen er damals keine große Bedeutung geschenkt hatte und die ihm plötzlich eigenartig vorkamen.

      Ihn beschlich dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Steppenwolf nach vielen Jahren ein zweites Mal gelesen hatte. Seit der ersten Lektüre hatte er viele neue Erfahrungen gemacht und manches Erlebte oder Gesehene erschien ihm jetzt in einem völlig anderen Licht.

      Der Mensch ist ein «Erfahrungstier» und interpretiert seine Umgebung nach eben diesen eigenen Erfahrungen. Bommelmütz hatte als Kriminalist stets versucht, sich von vorgefertigten Haltungen und Meinungen freizumachen. Möglichst ohne Vorurteile an einen Fall heranzugehen, darin gründete sein beruflicher Erfolg. Aber was, wenn er genau in seinem wichtigsten Fall in eben diesem Punkt versagt hatte? Der Mord an Betty hatte sich in seinem privaten Umfeld abgespielt.

      Was wäre, wenn er damals nur versagt hatte, weil er nicht unbefangen an die Sache herangegangen war? Was wenn er Dinge einfach hineininterpretiert hatte, anstatt ihnen wirklich auf den Grund zu gehen, und dadurch voreilige Schlüsse gezogen hatte?

      Nach einem Blick auf die Uhr, schlug Bommelmütz energisch den Aktendeckel zu und verstaute das Dossier dann in seinem Schreibtisch. Er wusste jetzt genau, wie er den Fall neu angehen würde. Gleichzeitig war er schockiert von der Möglichkeit, dass er beim ersten Mal wichtige Details übersehen und Fehler gemacht haben könnte.

      Mit gemischten Gefühlen widmete er sich dem Menü. Zum Glück verfügte er über die nötige Routine, sonst hätte Eduard ihm das vorzügliche Fleisch ganz umsonst anvertraut, und er selbst hätte es, anstatt der Frau Landrätin, zu Schuhsohlen gebraten.

      Aber Bommelmütz hatte die Abfolge des Menüs Schritt für Schritt im Kopf und wusste zu jeder Zeit haargenau, was zu tun war, obwohl er mit seinen Gedanken oft gänzlich vom Kochen abschweifte. Er holte das Filet rechtzeitig aus dem Kühlschrank, damit es sich der Raumtemperatur angleichen konnte, ehe er das Fleisch gleichmäßig mit einer hausgemachten Kräuter-Senf-Paste sanft massierte und danach von allen Seiten gleichmäßig scharf anbriet. Das Stück war eigentlich viel zu groß für ein Dinner zu zweit, aber das machte nichts. Auch kalt, in dünne Scheiben geschnitten würde das Fleisch köstlich schmecken. Vielleicht konnte er Sophie dazu überreden, am nächsten Tag noch einmal mit ihm zu essen? Sie könnte auch ihre Kinder mitbringen, damit er sie kennenlernen konnte. Wenn das nicht ginge, würde er ihr die Reste mit nach Hause geben. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie er selbst als Teenager pausenlos Essen in sich hineingestopft hatte, ohne zuzunehmen. Die beiden halbwüchsigen Kinder von Sophie waren da sicher nicht anders. Eigentlich beneidenswert. Heute haderte er ständig mit seinem Gewicht und musste aufpassen nicht zuzunehmen.